Kein Schutz für Flüchtlingsfamilien
Jochen Menzel
Grundrechte-Report 1997, S. 86-90
„Die Rechte aus Ehe und Familie stehen nicht nur Deutschen zu, sondern sind Menschenrechte“ erläutert einer der bekanntesten Verfassungskommentare (Maunz/Dürig Art. 6, RN4) Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus:
Die deutsche Kleinfamilie wird zum Maßstab des Menschenrechts.
Aufsehen erregte der Fall des damals 13jährigen Muzaffer Ucar, der im Sommer 1994 in die Türkei abgeschoben werden sollte. Nach dem Tod seines Vaters und der Vernachlässigung durch Mutter und Bruder hatten ihn 1990 schließlich seine Halbschwester und deren Mann in Köln aufgenommen. Durch ihre Betreuung überwand Muzaffer seine psychosomatischen Störungen. Gleichwohl verfügte die Ausländerbehörde in Köln die Abschiebung des Kindes: Es bestehe keine Eltern-Kind-Beziehung, und eine „außergewöhnliche Härte“ im Sinne des § 22 Ausländergesetz liege nicht vor. Nach Meinung des Bundesinnenministeriums hätte ein Verzicht auf die Abschiebung „unabschätzbare Zuwanderungsfolgen haben“ können. Seine Richtlinien beschränkten einen „Nachzug sonstiger minderjähriger lediger Familienangehöriger grundsätzlich auf Vollwaisen“. Erst der Bundestags-Innenausschuß erreichte in diesem Fall eine Duldung.
Art. 6 schützt die soziale Funktion der Familie, die „Lebens- und Erziehungsgemeinschaft“ (Bundesverfassungsgericht) zwischen Verwandten. Von „Kleinfamilie“ ist dabei nicht die Rede. Vielmehr kann im Einzelfall durchaus auch eine tatsächliche Betreuungsbeziehung zwischen weiteren Verwandten dem Schutzzweck des Grundrechts entsprechen, etwa eine zwischen Enkel und Großeltern oder zwischen Geschwistern. „Der verfassungsrechtliche Schutz (ist) nicht unbedingt und nicht in jeder Hinsicht auf die Kleinfamilie beschränkt“ (Bonner Kommentar, RN 21). Das Bundesverfassungsgericht bezieht den Schutzbereich des Art. 6 allerdings – auch für Deutsche – nur auf die Eltern-Kind-Familie.
Das Ausländerrecht schützt nur die Eltern-Kind-Beziehung.
Das deutsche Ausländergesetz und das Asylverfahrensgesetz schränken den Grundrechtsschutz auf einen noch engeren Familienbegriff ein: Jedenfalls da, wo es um Ansprüche von Ausländern geht, heißt „Familie“: Eltern und „das minderjährige ledige Kind“. Dies gilt für das Aufenthaltsrecht und den Familiennachzug ( § § 17-31 AuslG) ebenso wie für das „Familienasyl“ in § 26 AsylVfG und die Verteilung und Unterbringung von Asylbewerbern, § 46-51 AsylVfG.
Da das Ausländergesetz in der Regel keinen Unterschied zwischen einem Einreise- und einem Aufenthaltsrecht macht, verhindert die Beschränkung auf die engste Kleinfamilie nicht nur – sinnvollerweise – den Anspruch einer Großfamilie auf Zuzug zu einem schon eingereisten Familienmitglied. Sie verhindert eben auch einen Aufenthaltsanspruch für ein Kind, das – von den Eltern im Ausland vernachlässigt oder mißhandelt oder auch in sichere Verhältnisse geschickt – seit Jahren in Deutschland in der fürsorglichen Obhut seiner Großmutter, eines Onkels oder der großen Schwester aufwächst. Wären die Betroffenen Deutsche, würde die Zerstörung solcher Ersatzfamilien durch den Staat zu Recht als inhuman kritisiert. Dem ausländischen Kind wird jedoch nach den Richtlinien zur Härtefallregelung des § 22 AuslG die Beweislast dafür aufgebürdet, daß „die Eltern nachweislich (z. B. wegen Pflegebedürftigkeit) auf Dauer nicht mehr in der Lage sind, die Personensorge auszuüben“.
Der Anspruch auf Ehegatten- und Kinder-Nachzug steht unter Vorbehalt.
Doch auch der ausländischen Kleinfamilie gewährt das Ausländerrecht den Schutz aus Art. 6 GG nicht ohne weiteres:
Die Marokkanerin M. zog 1988 als Minderjährige zu ihren Eltern nach Deutschland. Nach erfolgreicher Lehre und dem Bezug einer eigenen Wohnung heiratete sie 1994 einen Marokkaner. Da M. nur eine befristete Aufenthaltsbefugnis besaß, mußte sie nach § 18 AuslG noch zwei Jahre warten, bis ihr Ehemann zu ihr ziehen durfte (Fall aus Dokumentation von DGB und Kirchen zur „Woche des ausländischen Mitbürgers“ 1996).
Lebt ein Ehepartner in Deutschland und will der andere oder ein Kind nachziehen, so hängt ein Rechtsanspruch hierauf von einer ganzen Reihe von Voraussetzungen ab. Sie reichen von einem verfestigten Aufenthaltsstatus des in Deutschland lebenden Ehegatten oder Elternteils über seine Fähigkeit, den gemeinsamen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, bis zum ausreichenden Wohnraum ( § 17 AuslG). Werden diese Anforderungen nicht erfüllt, „kann“ zwar oft ein Zuzug gewährt werden. Bei der Ermessensentscheidung der Behörde spielt Art. 6 GG jedoch in der Regel praktisch keine Rolle.
Ausländerabwehr und Finanzinteressen diktieren das Verwaltungsermessen.
Nicht der von Art. 6 GG geforderte „besondere Schutz der staatlichen Ordnung“, sondern die Abwehr von Ausländern und die Vermeidung von Kosten für ihre Unterbringung sind vielmehr oft das handlungsleitende Interesse der Verwaltung:
Die aus Bosnien geflohenen Eheleute K. leben seit Jahren in einem Wohnwagen-Camp für Flüchtlinge in Hamburg. Der Mann erlitt dort einen Bandscheibenvorfall, die Frau wurde bald schwer psychisch krank und mußte lange stationär behandelt werden. Ihre gemeinsame 25jährige Tochter M. K. war kurz nach den Eltern ebenfalls nach Deutschland geflohen, aber nach Sachsen zugeteilt worden. Wie die Ärzte von Frau K. bestätigten, war die Mutter zur Genesung auf die Hilfe ihrer Tochter angewiesen. Deren Antrag, zur Pflege ihrer Eltern nach Hamburg umverteilt zu werden, lehnte die Ausländerbehörde in Hamburg im Oktober 1995 mit den Worten ab: „Da sowohl Ihr als auch der Aufenthalt Ihrer Familienangehörigen ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bezahlt wird, hat die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales einem Zuzug aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zugestimmt. Diese grundsätzlichen Erwägungen werden in der Hauptsache durch das öffentliche Interesse, den Finanzhaushalt nicht noch mehr durch den Zuzug bosnischer Flüchtlinge zu belasten, bestimmt.“ Diese Entscheidung wurde von leitenden Beamten später ausdrücklich bestätigt und erst durch eine Petition von terre des hommes von der Bürgerschaft schließlich korrigiert.
Auf dem Flughafen darf die Mutter ihre angekommenen Kinder nicht begrüßen.
Mag in diesem Fall (unausgesprochen) auch die Volljährigkeit der Tochter für die Behörden-Entscheidung eine Rolle gespielt haben, so macht eine Dokumentation des Kirchlichen Flughafen-Sozialdienstes in Frankfurt vom 30.11.1994 deutlich, daß sogar der Kontakt einer ausländischen Mutter zu ihren minderjährigen Kindern nicht selbstverständlich geschützt ist:
Frau N. aus Afghanistan war als asylberechtigt anerkannt und lebte in München. Im September 1994 suchte sie im Frankfurter Flughafen nach ihren 14 und 17 Jahre alten Söhnen A. und H., die tags zuvor ohne Begleitung mit dem Flugzeug angekommen sein sollten. Sie entdeckte ihre Kinder gegen 10 Uhr durch die Glasscheibe zum Transitbereich und ließ dem Bundesgrenzschutz (BGS) über den Sozialdienst eine Paßkopie und ihre Adresse zukommen. Sie durfte ihre Söhne jedoch nicht sehen. Die Befragung am Nachmittag durch den BGS erfolgte ohne die Mutter und ohne einen Rechtsbeistand.
Da der BGS die Altersangaben der Kinder für falsch hielt, erfolgte – wieder ohne die Mutter – eine radiologische Altersuntersuchung in der Flughafenklinik. Sie führte dazu, daß der BGS die Jungen als 16- und 18jährig einstufte und somit als selbst asylantragsberechtigt. Erst am Mittag des nächsten Tages erhielt die Mutter die Erlaubnis, 20 Minuten mit ihren Kindern zu reden. Die am Nachmittag und am nächsten Morgen folgenden Anhörungen beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge fanden wieder ohne die Mutter statt.
Erst danach konnte die Mutter mit Kopien der Geburtsurkunden die Richtigkeit der Altersangaben der Söhne beweisen. Da war der 14jährige – ohne seinen Bruder – schon auf dem Weg zur Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Schwalbach/Taunus. Am nächsten Tag folgte der 17jährige dorthin, wo die Mutter – vier Tage nach der Ankunft auf dem Flughafen – ihre minderjährigen Kinder endlich in Empfang und nach München mitnehmen konnte.
Der UN-Kinderrechtsausschuß kritisiert die deutsche Praxis.
Fälle wie dieser wurden auch dem UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes in Genf vorgetragen. Dieses Gremium hat darüber zu wachen, daß die in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 niedergelegten Rechte von den Unterzeichnerstaaten eingehalten werden. Der Ausschuß-Bericht über Deutschland ist – speziell hinsichtlich minderjähriger Flüchtlinge – eine diplomatisch verpackte Ohrfeige: „Asylverfahren für Minderjährige, insbesondere in bezug auf eine Familienzusammenführung … geben Anlaß zur Sorge …“ (Dokument CRC/C/15/Add. 43 vom 17.11.1995).
Der „besondere Schutz der staatlichen Ordnung“ für Ehe und Familie hat in Deutschland Grenzen. Ausländerabwehr und Finanzinteressen verfehlen im Behördenalltag allzuoft das Menschenrecht aus Art. 6 GG für Migranten und Flüchtlinge.