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"Kurzer Prozeß" und Haupt­ver­hand­lungs­haft. Der Weg zur Zweiklas­sen­justiz im Strafprozeß

Christoph Meertens

Grundrechte-Report 1997, S. 200-204

Der Deutsche Bundestag hat am 11.10.1996 einen von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Gesetzesentwurf beschlossen, der als neuen Haftgrund die Sicherung der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren nach § 127b Strafprozeßordnung (StPO) und ein vorläufiges Festnahmerecht zu diesem Zweck in die Strafprozeßordnung einführen soll.

Damit geht vorläufig eine Auseinandersetzung zu Ende, die 1993/ 1994 von den Regierungsparteien losgetreten worden war, als diese im Entwurf eines Verbrechensbekämpfungsgesetzes neben der Einführung bzw. dem Ausbau des sogenannten beschleunigten Verfahrens auch zur Sicherung desselben die Hauptverhandlungshaft und das hierzu notwendige Festnahmerecht vorgesehen hatten.

Im beschleunigten Verfahren nach § § 417-420 StPO ist es dem Straf- oder Schöffenrichter seit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 4.11.1994 (BGBl. I, 3186) möglich, gegen den Beschuldigten Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr oder die Entziehung der Fahrerlaubnis anzuordnen, ohne daß die Schutzrechte des Beschuldigten – beispielsweise die Fertigung einer Anklageschrift, angemessene Ladungsfristen oder das formelle Beweisantragsrecht bzw. der Amtsermittlungsgrundsatz – wie bisher gelten (vgl. Jünschke/Meertens, Risikofaktor Innere Sicherheit, 1994, S. 279ff).

Anmerkung: Das Gesetz ist bislang ‚Stand Bundesgesetzblatt vom 21.3.1997‘ nicht verkündet worden; der Bundesrat hatte den Vermittlungsausschuß angerufen.

Vor der Bundestagswahl war die ergänzend geplante Einführung einer Hauptverhandlungshaft allerdings noch an den SPD-geführten Ländern im Vermittlungsausschuß gescheitert. Nun wurde in der neuen Legislaturperiode von der Regierungskoalition auch diese Hürde erfolgreich genommen. In Zukunft ist es in Fällen der sogenannten Bagatellkriminalität möglich, den oder die vermeintlichen Täter festzunehmen und für eine Woche in Haft zu halten, wenn innerhalb dieser Zeit eine Hauptverhandlung vor dem zuständigen Strafrichter durchgeführt wird.

Durch dieses Instrument sollen – so die Begründung der Regierungsparteien im Rechtsausschuß – die Gerichte dazu angehalten werden, das aus Sicht der CDU/CSU- und FDP-Fraktion zu wenig und zu zaghaft genutzte beschleunigte Verfahren vermehrt und nachhaltig anzuwenden (Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucksache 13/5743, S. 3).

Diese jüngste Änderung der Strafprozeßordnung ist – ebenso wie ihre Vorläufer im Verbrechensbekämpfungsgesetz, dem OrgKG bzw. dem sogenannten Justizentlastungsgesetz – ein weiterer Mosaikstein in dem seit über einem Jahrzehnt betriebenen Vorhaben der Regierungsparteien, das System des Strafprozesses insgesamt auf einen vorkonstitutionellen und staatsautoritären Zustand zurückzuführen.

Die Einführung des § 127b StPO (Hauptverhandlungshaft zur Durchführung des beschleunigten Verfahrens und vorläufiges Festnahmerecht) begegnet aus folgenden Gründen verfassungsrechtlichen Bedenken:

Jede Inhaftierung und auch nur das Festhalten über die Zeit zur Feststellung der Personalien hinaus kann tiefgreifende Konsequenzen für die betroffenen Personen haben. Arbeitsplatzverlust, Störung der familiären oder sonstigen partnerschaftlichen Beziehungen, Isolierung und Stigmatisierung und ähnliches drohen, wenn Menschen durch Polizei und Justiz umstandslos ihrer Freiheit beraubt werden und dies ihrem sozialen Umfeld zwangsläufig bekannt wird.

Nach § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO darf daher Untersuchungshaft nur angeordnet werden, wenn diese zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis steht. Das Bundesverfassungsgericht hat grundlegend festgestellt, daß der Eingriff der Untersuchungshaft nur zulässig ist, wenn und soweit die vollständige Aufklärung der Tat oder die rasche Durchführung des Verfahrens einschließlich der Urteilsvollstreckung nicht anders gesichert werden kann (BVerfGE 20, 144, 147).

Da das beschleunigte Verfahren nur für Straftaten mit einfach gelagerten Sachverhalten aus dem Bereich der sogenannten Bagatellkriminalität in Betracht kommt, verbleibt zu seiner Begründung als Kriterium zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der in Aussicht genommenen Inhaftierung für eine Woche nur das Ziel der raschen Durchführung des Verfahrens einschließlich der Urteilsvollstreckung.

Hierbei ist beachtlich, daß die Untersuchungshaft keinesfalls die zu erwartende Strafe vorwegnehmen darf. Untersuchungshaft – auch wenn sie nur eine Woche dauert – darf ausschließlich der Durchführung eines geordneten Strafverfahrens dienen und soll die spätere Vollstreckung eines auf Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Sicherungsmaßregel lautenden Urteils sicherstellen (BVerfGE 32, 87, 93). Nach anerkannten Grundsätzen darf also die U-Haft nicht dazu mißbraucht werden, das Aussageverhalten des Beschuldigten zu beeinflussen oder ihn insbesondere dazu zu veranlassen, von seiner Aussagefreiheit keinen Gebrauch zu machen (BGHSt 87, 25, 27). Dieses mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzip der Verhältnismäßigkeit wird in dem nunmehr bereits praktizierten beschleunigten Verfahren verletzt, folgt man Schilderungen, die am 23.10.1996 bei einer Anhörung im Rechtsausschuß des nordrhein-westfälischen Landtages zu diesem Thema veröffentlicht wurden.

Gegenstand der Anhörung war das sogenannte Bochumer Modell, wonach Täter aus den Deliktskategorien Ladendiebstahl, Zechbetrug, Schwarzfahren, Sachbeschädigung und Verstöße gegen das Marktgesetz nach Abstimmung zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Industrie- und Handelskammer dem Strafrichter noch am gleichen Tag zugeführt werden. In dieser Anhörung berichtete der Direktor des Amtsgerichts Bochum, Meyer, daß die Täter aufgrund des Schocks, bereits drei Stunden nach der Festnahme vor dem Richter zu stehen, zu 90 Prozent geständig seien, weswegen die Urteile auch zu 90 Prozent rechtskräftig würden und es daher nicht erforderlich gewesen sei, von den weiteren Möglichkeiten der Verfahrenserleichterung (Verlesen des Akteninhalts gem. § 420 Abs. 1, 2 StPO und Ausschluß des Beweisantragsrechts gem. § 420 Abs. 4 StPO) Gebrauch zu machen.

Von den untersuchten 130 Verfahren gegen insgesamt 143 Beschuldigte, die von Mai 1995 bis Oktober 1996 durchgeführt worden seien, hätten sich 77 gegen nichtdeutsche Beschuldigte gerichtet. In 53 Prozent der Fälle sei eine Geldstrafe, in 9,7 Prozent der Fälle eine Freiheitsstrafe zur Bewährung, in 14,6 Prozent der Fälle eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung unter sechs Monaten Dauer verhängt worden, bei den übrigen Fällen sei das Verfahren eingestellt worden.

Zu erwarten ist also, daß diese Einführung des Schnellgerichtsverfahrens de facto die Hinzuziehung von Verteidigern oder Entlastungszeugen schon wegen des Verfahrensablaufs ausschließt. Der mit dem Verfahren intendierte Schock wird für die Betroffenen erheblich steigen, wenn sie nach der Gesetzesänderung nun sogar noch bis zu einer Woche festgehalten bzw. inhaftiert werden können.

Es ist also absehbar, daß neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch die Hauptverhandlungshaft im beschleunigten Verfahren ein weiteres verfassungsrechtliches Prinzip permanent verletzt werden wird: die Garantie nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, daß jedermann vor Gericht das Recht haben soll, angemessen durch das Gericht gehört zu werden.

Zusammenfassend und grundlegend hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 9.7.1980 dazu festgestellt:

„Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs vor Gericht dient nicht nur der Abklärung der rechtlichen Grundlagen der Entscheidung, sondern auch der Achtung der Würde des Menschen, der in einer so schwierigen Lage, wie ein Prozeß sie für gewöhnlich darstellt, die Möglichkeit haben muß, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten“ (BVerfGE 55, 1, 6 u. 70, 180, 188).

Der konservative Grundrechtskommentar Maunz/Dürig stellt daher fest: „Art. 103 Abs. 1 GG verwehrt es, daß mit den Menschen ‚kurzer Prozeß‘ gemacht wird“ (Art. 103, RN 3).

Absehbar wird das beschleunigte Verfahren und die in diesem Zusammenhang von Innenminister Kanther geforderte und nunmehr mögliche Inhaftierung der Beschuldigten dazu führen, daß exakt das Gegenteil passiert. Innerhalb eines Tages bis einer Woche einen Strafverteidiger zu finden, der angemessen den Sachverhalt und insbesondere die Motivlage und übrigen Umstände des Falles mit dem Beschuldigten bespricht, dürfte ohne weitere Verfahrenssicherungen – etwa die obligatorische Beiordnung eines Pflichtverteidigers – nahezu unmöglich sein. Die Betroffenen werden hilflos und ohne entsprechende Unterstützung durch Verteidiger einer schnellen Aburteilung „zugeführt“ werden. Wenn ihnen trotz verlängerter Postlaufzeiten in den JVA noch die Information von Familienangehörigen gelingt, so wird es aber diesen wohl nicht mehr gelingen, rechtzeitig zum Termin einen qualifizierten Verteidiger zu gewinnen. Es steht also zu erwarten, daß sich – ähnlich wie in den Vereinigten Staaten – im Umfeld der beschleunigten Verfahren eine „Verteidigungskultur“ etablieren wird, in der die Verteidiger von den beteiligten Richtern und Staatsanwälten vermittelt werden, Anwälte, die womöglich stillschweigend und devot soziales Elend nur noch abzuwickeln helfen. Fundierte und ausreichende Gespräche zur Vorbereitung der Hauptverhandlung werden nicht mehr stattfinden können, da im beschleunigten Verfahren nicht einmal mehr eine Anklageschrift gefertigt wird. Ausreichend Zeit zur Prüfung der Motive und sonstigen Umstände, die entlastend für den Täter ins Feld geführt werden können, bleibt nicht. Der Beschuldigte und der möglicherweise gerade noch erreichte Verteidiger werden in diesem Verfahrensgang nahezu jede Subjektsqualität einbüßen. Sie sind bzw. werden Rädchen in einer Justizmaschinerie, in der Sicherungsrechte für die Beschuldigten de facto nur noch im spärlichen Umfang vorgesehen sind.

Nicht vergessen werden darf, daß die Strafgewalt des Richters auch im beschleunigten Verfahren bereits jetzt bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe reicht.

Ursprünglich hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes in ihren Beratungen im Kontext des späteren Art. 103 GG vorgesehen, daß dort auch das Recht jedes Angeklagten verankert wird, sich eines Verteidigers bedienen zu können (Art. 135 HChE).

Hiervon wurde nach wiederholter Debatte abgesehen, weil insbesondere der Strafprozeßreform nach Ende des Faschismus nicht vorgegriffen werden sollte (Alternativkommentar zum GG, Art. 103 RN 5).

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