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Polizei­über­griffe als "Strafe vor Ort"

Manfred Mahr

Grundrechte-Report 1997, S. 41-45

Mit dem Hamburger Polizeiskandal von 1994 wurden schwere Vorwürfe gegen die Hamburger Polizei öffentlich, die nur diejenigen erschrecken konnten, die bis dahin die Augen vor Realitäten verschlossen hatten, nach dem Motto: „… daß nicht sein kann, was nicht sein darf“. Unter anderem seien Afrikaner von Beamten eines Einsatzzuges schwer mißhandelt worden. Festgenommene seien so lange provoziert worden, bis die Beamten einen Grund sahen, sich an ihnen „legal“ abreagieren zu können. Ein Beamter dieses Einsatzzuges soll der rechten Szene angehört haben.

Ähnliche Vorwürfe hatte es in der Vergangenheit nicht nur in der Hansestadt immer wieder gegeben; sie hatten aber alle keine durchgreifenden Konsequenzen nach sich gezogen. Jetzt war das anders. Ein sichtlich angeschlagener Innensenator Hackmann trat zurück, weil diesmal der Hinweisgeber nicht der schmuddeligen linken Szene, nicht amnesty international oder der bürgerrechtlich orientierten, linksliberalen Presse angehörte. Diesmal brach ein Polizeibeamter aus und schrieb auf, was ihm von einem anderen, eingeschüchterten Kollegen zu Ohren gekommen war. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß „Hamburger Polizei“ wurde vom Hamburger Landesparlament eingerichtet und legte im November 1996 seinen mehr als 1200 Seiten starken Abschlußbericht vor (Drucksache 15/6200). Wenn auch die Mehrheit von SPD, CDU und STATT Partei sich mit ihrer Abschlußbewertung schwertat: Immerhin wurden Schweigemauern, strukturell bedingter Korpsgeist, systematische Mißhandlungen von Menschen mit geringer Beschwerdemacht als Volkssport ganzer Dienstschichten und die Ausgrenzung mißliebiger Kritiker aus den eigenen Reihen („Soziallappen“ in der Sprache der Hardliner) bei der Polizei eingeräumt. Und was besonders wichtig ist: Dies seien nicht etwa nur spezielle Erscheinungsweisen der Hamburger Polizei. Die Ergebnisse ließen sich auf jede Großstadtpolizei der Bundesrepublik übertragen. So gesehen, könnte dieser Untersuchungsbericht tatsächlich bundesweite Bedeutung entfalten.

Aber dieses Ergebnis greift dennoch viel zu kurz. Die Auswertung des gesamten Aktenmaterials und die Vernehmung von über 100 Zeugen haben einen ganz anderen Zusammenhang aufgezeigt. Mit Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen seit Anfang der 90er Jahre und den parallelen politischen Vorgaben für hartes Durchgreifen etablierte sich im Polizeialltag eine Praxis, die ein Polizeizeuge vor dem Untersuchungsausschuß treffend als „Strafe vor Ort“ beschrieb.

Bevor im August 1991 in Hamburg ein novelliertes Polizeirecht in Kraft treten konnte, hatten über zwanzig Bürgerrechtsorganisationen und Initiativen in einem „Hamburger Appell“ vor der geplanten „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ gewarnt. Nach dem Gesetzentwurf sollte es der Polizei möglich sein, bereits im Vorfeld konkreter Gefahren tätig zu werden und in die Grundrechte der Menschen einzugreifen. Dieses Gesetz wurde trotz oppositionellen und außerparlamentarischen Widerstands in der vorgelegten Form verabschiedet und 1996 noch weiter verschärft. Das konkrete Verhalten eines Menschen ist jetzt nicht mehr erforderlich, um das Einschreiten der Polizei begründen zu können. Der Aufenthalt an sogenannten gefährdeten Orten reicht seit der Gesetzesnovellierung aus, um die Identität von Personen zu überprüfen, Platzverweise auszusprechen und gegebenenfalls Menschen in Gewahrsam zu nehmen, wenn sie einem entsprechenden Begehren der Polizei nicht Folge leisten. Was ein „gefährdeter Ort“ ist, obliegt letztlich der Definitionsmacht der Polizei. Das kann eine Versorgungsanlage sein, der Hauptbahnhof, ein Einkaufszentrum oder ein Stadion – entscheidend ist allein die Lagebeurteilung der Polizei.

Welche fatalen Signale von diesem rechtspolitischen Sündenfall ausgegangen sind, wurde sehr schnell deutlich. Parallel zur Gesetzesnovellierung hatte sich der Hamburger Senat zum Ziel gesetzt, die seit 1989/1990 verst@¤rkt auftretende offene Drogenszene im Umfeld des Hamburger Hauptbahnhofes zu zerschlagen. In einer Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 9.April 1991 (Drucksache 13/8003) stellte der Senat ein „Betreuungskonzept für die Gesamtverkehrsanlage Hamburger Hauptbahnhof“ vor. Der Hauptbahnhof sollte von seinem schmuddeligen Image befreit werden und auswärtige Besucher als „Visitenkarte der Stadt“ empfangen. Das sichtbare Elend mußte deshalb unsichtbar gemacht werden. Der Primat der Politik zeigte unmittelbare Wirkung. Es war deshalb auch kein Zufall, daß die Hamburger Polizeiführung im August 1991 einen Grundsatzbefehl KORA (Koordinationsstelle zur Bekämpfung der offenen Drogenszene) erließ. Auch hier war definitiv von der „Beseitigung“ der offenen Drogenszene die Rede. Der Startschuß war gefallen! Die Asyldebatte jener Tage und die sich anbahnende Demontage des Grundrechts auf Asyl heizte die Stimmung zusätzlich auf.

Die polizeiliche Praxis im Hamburger Stadtteil St. Georg hat alle bösen Vorahnungen weit übertroffen. In der Folgezeit wurde regelrecht Jagd auf die „Szene“ gemacht. 1992 wurden 19593 Platzverweise ausgesprochen, 1994 stieg die Zahl auf 27147. 1995 wurden bereits in den ersten acht Monaten gar 30595 Platzverweise ausgesprochen. Zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung sind im Jahr 1992 insgesamt 1085 Ingewahrsamnahmen durchgeführt worden, 1994 hat sich die Zahl auf 3863 Ingewahrsamnahmen mehr als verdreifacht. In den ersten acht Monaten des Jahres 1995 sank die Zahl auf lediglich 285. Hier dürfte sich der enorme politische Druck auf das Verhalten der Polizei ausgewirkt haben, der mit dem Rücktritt des Innensenators untrennbar verbunden war (vgl. Große Anfrage der GAL-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft vom 15.09.95, „Drogenpolitik und Polizeistrategie – Platz- und Gebietsverbote gegen Drogenabhängige und sogenannte Intensivdealer“, Drucksache 15/3869).

Die nackten Zahlen lassen nur ahnen, was sich im Polizeialltag abgespielt haben muß. Afrikaner wurden von Einsatzkräften umzingelt, aneinandergefesselt und in Sklavenhaltermanier zur Wache geführt. Die Aussagen weniger Polizeizeugen berichten von provozierten Widerständen, Stoßen gegen Mauervorsprünge, Einsprühen mit Tränengas und Desinfektionsmitteln und von Scheinhinrichtungen, die zwar nicht bewiesen werden konnten (weil mutmaßliche Zeugen vor der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsausschuß die Aussage zur Sache verweigerten, um sich nicht selbst der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen), vom Ausschuß aber nicht für unwahrscheinlich gehalten wurden.

Wenn der Polizeiführung die Vorwürfe im Detail auch nicht bekannt gewesen sein dürften, so wurden doch bewußt und gewollt Hardliner mit den Aufgaben betraut, die unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit „variantenreich“ vorgingen. Da es sich bei den polizeilichen Adressaten um Menschen handelte, die von Abschiebung bedroht waren, denen wegen verschiedener Delikte möglicherweise Strafverfolgung drohte, und um Junkies, die generell als unglaubwürdig galten – also um Menschen mit geringer Beschwerdemacht -, war von dieser Seite wenig zu befürchten.

Ähnlich negative Auswirkungen auf die polizeiliche Praxis hatte eine politische Entscheidung Ende der 80er Jahre gehabt, die auf die Unterdrückung politischen Protestes im Hamburger Schanzenviertel und auf St. Pauli zielte. Bewohnern des Schanzenviertels war es gemeinsam mit der linksautonomen Szene gelungen, Bürgerprotest zu organisieren und den Bau eines Musicaltheaters im Viertel zu verhindern. Um das Gelände und die Reste eines früheren Kino- und Theatergebäudes, das zu der Zeit vorübergehend als Haushaltswarengeschäft genutzt wurde, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Der Senat entschloß sich, hart durchzugreifen. Innensenator Hackmann gab die Parole aus: „Es ging auch darum, klarzumachen, wer in diesem Stadtteil das Sagen hat“ (Hamburger Morgenpost, 24. Juli 1991). Die berüchtigte sogenannte 16-E-Schicht wurde mit dem klaren Auftrag ins Leben gerufen, das sogenannte RAF-Umfeld auf Trab zu halten (vgl. Senatsdrucksache 1476 aus dem Jahr 1988).

Die politisch abgesegnete Feindbildfixierung führte zu einem Eigenleben dieser neuen Einsatzgruppe, das nach kurzer Zeit ein gefährliches Ausmaß annahm. Es kam zu Mißhandlungen von Festgenommenen aus der „Szene“, die regelmäßig dementiert oder als Reaktion auf Widerstandshandlungen deklariert wurden. Maximal konnte sich der Senat hin und wieder dazu durchringen, „bedauerliche Einzelfälle“ zu beklagen. Grundsätzlich wurden die politischen Vorgaben und ihre polizeiliche Umsetzung aber bis heute nicht in Frage gestellt. Im Zweifel heiligt da immer noch der Zweck die Mittel – solange jedenfalls, wie Innenminister glauben, ihre Hände weiterhin in Unschuld waschen zu können, wenn es zu Exzessen vor Ort kommt.

Die hier nur kurz angerissenen Problembereiche machen eines deutlich: Die Politik neigt zunehmend dazu, sozialen und gesellschaftspolitischen Problemen mit einem ausgeklügelten System gesetzlicher Verschärfungen und politischer „Handlungskonzepte“ zu begegnen, die polizeiliches Vorgehen in den Mittelpunkt stellen. Da die Adressaten polizeilichen Handelns weitgehend marginalisierten Bevölkerungsschichten angehören oder über eine nur geringe Beschwerdemacht verfügen, fühlt sich die Öffentlichkeit kaum berührt, bringt zum Teil sogar Verständnis für das inkriminierte polizeiliche Vorgehen auf. Nur wenn menschenverachtendes Verhalten wie in Hamburg öffentlich gemacht werden kann, breitet sich kurzfristig Empörung aus, die aber aller Erfahrung nach nicht lange vorhält. Dann soll wieder Ruhe einkehren in die Polizei. Da die Regierungsverantwortlichen nicht bereit sind, die politischen Vorgaben und gesetzlichen Rahmenbedingungen zu ändern, fällt die alleinige Verantwortung zurück auf die Polizei. Jede Polizeireform droht da zum „Rohrkrepierer“ zu werden, und die nächste Eskalation ist nur eine Frage der Zeit.

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