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Verbots­zonen für Bürger­pro­teste - Zum Castor-Trans­port nach Ahaus

In: Grundrechte-Report 1999, Seiten 94 – 100

Der Castor-Transport am 20. März 1998 stand von Anfang an unter besonderen Vorzeichen. Es war der erste Castor-Transport, der unter der Ägide einer Landesregierung von SPD und Grünen stattfand und der von einem Polizeipräsidenten geleitet wurde, der Mitglied der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ ist. Der Einsatzleiter des Polizeipräsidiums Münster erklärte dann auch, man wolle „Bilder wie in Gorleben“ vermeiden. Sollte es diesmal etwa, so ließ sich fragen, nicht jene Beschränkungen der Versammlungsfreiheit geben, die von den Atommülltransporten nach Gorleben bekannt waren? Alle diese Erwartungen wurden enttäuscht. Die Versammlungsfreiheit wurde in Ahaus weit über das bislang bekannte Maß beschränkt. „Bilder wie in Gorleben“ gingen nur deshalb nicht von Ahaus um die Welt, weil es der Polizei gelungen war, Demonstranten vom Ort des Geschehens fernzuhalten.

Versamm­lungs­verbot durch Allge­mein­ver­fü­gung

Durch Allgemeinverfügung vom 9. März 1998 verkündete das Polizeipräsidium Münster ein weiträumiges Versammlungsverbot. In einer Entfernung bis zu einem Kilometer von den Gleisanlagen wurden alle nicht angemeldeten Versammlungen untersagt, auf den Gleisanlagen selbst sogar auch alle künftig angemeldeten. Gegenüber den vorangegangenen Castor-Transporten wurde die Demonstrationsverbotszone damit deutlich ausgedehnt. Begnügte man sich in Gorleben noch mit einer Verbotszone von 50 Metern um die Gleismitte, war es in Ahaus das bis zu Zwanzigfache.

Das Versammlungsverbot von Ahaus ging noch in einem weiteren Punkt deutlich über die Verfügungen im Wendland hinaus: Es wurden jegliche Versammlungen ohne jede thematische Eingrenzung verboten.

Gerichtliche Eilverfahren der Bürgerinitiative blieben erfolglos. Das erstmals mit Protestaktionen dieser Größenordnung befaßte Verwaltungsgericht Münster hatte Zweifel nur insofern, als in der Verbotszone nur alle nicht angemeldeten Versammlungen untersagt wurden. Die Polizei habe damit eher zuwenig als zuviel veranlaßt. Wer nach der Allgemeinverfügung eine Versammlung in der Verbotszone anmeldete, erhielt postwendend eine Verbotsverfügung. Dies betraf insbesondere die von den Bürgerinitiativen geplanten Widerstandscamps. Die Atomkraftgegner hatten zur Vorbereitung der Protestaktionen mit Unterstützung von Landwirten mehrere Zeltlager als Sammel- und Ruhepunkt geplant. Es war vereinbart, daß von diesen Camps keine Aktionen ausgehen sollten, gleichwohl wurden – mit einer Ausnahme – sämtliche Versammlungen verboten. Etwa vier Stundennach der Anmeldung einer solchen Versammlung lagen bereits mehrseitige Verbotsverfügungen vor. Beschränkte sich die Allgemeinverfügung noch aus ein Verbot aller nicht angemeldeten Versammlungen, wurde nun rasch deutlich, daß die Polizei jede Versammlung im Bereich der Verbotszone unterbinden wollte.

Bürgerinnen und Bürger als Störer der Polizei

Die Begründungen dieser Verbotsverfügungen waren davon geprägt, daß der Effektivität der polizeilichen Maßnahmen oberste Priorität eingeräumt wurde. Im Mittelpunkt der Gefahrenprognose der Polizei standen – nicht zum ersten Mal – „autonome Gewalttäter“. Eine Beeinträchtigung des Transport durch diese Gruppen zu verhindern, war das oberste Ziel der Polizei. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die vor Ort ihren Protest ausdrücken wollten, kamen in dieser Sichtweise nicht als Träger von Grundrechten, sondern als Störer vor. Sie störten durch ihre Anwesenheit nur die polizeilichen Maßnahmen, indem sie den Verkehr der Einsatzwagen behinderten oder (freiwillig oder unfreiwillig) als Rückzugsraum der Autonomen fungierten. Entsprechend war es auch um die Verhandlungsbereitschaft der Polizei in Gesprächen im Vorfeld der Protestaktionen bestellt: Aus Sicht der Polizei verfügten die Bürgerinitiativen über keinerlei Einfluß auf die „Autonomen“. Für die eigene Einsatzplanung der Polizei waren diese Gespräche deshalb völlig wertlos. Sie fanden eigentlich nur statt, weil es das Bundesverfassungsgericht in seiner grundlegenden Entscheidung zum Versammlungsrecht anläßlich der Demonstrationsverbote im Jahr 1977 um das AKW Brokdorf so gewollt hat und weil natürlich auch diese Gespräche Bestandteil einer politischen Auseinandersetzung sind.

Die Polizei forderte von den Bürgerinitiativen stets eine „Distanzierung“ von den angeblich zahlreichen gewaltbereiten Demonstranten, obwohl ihr natürlich bekannt war, daß die Bürgerinitiativen durchweg friedliche Protestaktionen durchführten. Gemeint ist dies aber durchaus wörtlich: Die nicht „gewaltbereiten“, sondern nur „versammlungsbereiten“ Atomkraftgegner sollen auf Distanz gehen und am besten weitab vom Geschehen ihre Protestaktionen durchführen. Wer diesen Erwartungen der Polizei nicht gerecht wird, sondern auf der Wahrnehmung seines Versammlungsrechts „vor Ort“ besteht, wird nicht mehr als Bürger, sondern als Straftäter behandelt. Denn Straftäter sind nach Ansicht der Polizei auch all jene Atomkraftgegner, die zum Beispiel zu einer demonstrativen friedlichen Schienenblockade aufgerufen haben („x-tausend mal quer“). Ausweislich der Begründung der Allgemeinverfügung des Polizeipräsidiums Münster werden diese Protestaktionen zum Versuch eines gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr § 315 StGB und zu einer Nötigung deklariert. Aus Versammlungsteilnehmern werden so Straftäter und damit Gewalttäter, die sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen können, oder, wie es von der Polizei im Vorfeld des Transports formuliert wurde: „Solange sich diese Protestteilnehmer nicht eindeutig zur Gewaltfreiheit bekennen, können sie auch nicht den Schutz durch den Rechtsstaat einfordern.“

Die Bahn AG als Grund­rechts­trä­ger?

Es verwundert nicht, daß bei der Güterabwägung in allen Versammlungsverboten die gegen die Versammlungsfreiheit ins Feld geführten Rechtsgüter in ihrer Bedeutung überhöht werden. Die Rechtspositionen der Deutschen Bahn AG, auf deren Schienenwegen die Transporte wie die Versammlungen stattfinden sollten, werden auf die Ebene der Grundrechte gehoben (Art. 14 GG Eigentum), obwohl die Deutsche Bahn AG weiterhin öffentliche Aufgaben wahrnimmt und damit keine Grundrechte für sich reklamieren kann. Grundrechte schützengegenüber dem Staat, nicht etwa den Staat vor dem Bürger. Die Versammlungsverbote in Ahaus verkehren diesen Lehrsatz, den jeder Jurastudent im ersten Semester lernt, in sein Gegenteil.

Einzigartig war in Ahaus auch die Informationspolitik der Polizei im Hinblick auf den Transporttermin: Nachdem die Polizei öffentlich erklärte, der Castor-Transport finde am 25. März statt, wurde der Termin dann kurzfristig um fünf Tage vorverlegt. Viele Menschen, die an den Protestaktionen teilnehmen wollten, wurden so um die Möglichkeit gebracht, überhaupt ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen. Damit fühlte sich natürlich in besonderem Maße die Bevölkerung in der Region getäuscht, die ihren Zeithaushalt ganz auf diesen Termin hin organisiert hatte. Hochzeitsfeiern, Schulunterricht, ja selbst Begräbnisse konnten nicht mehr wie geplant stattfinden, weil die Besucher durch die Polizeiabsperrungen an einer Teilnahme gehindert waren.

Am Vortag des Transports wurden dann von den verbliebenen drei Camps zwei geräumt: das Camp Bielefelder Gruppen nach einem Versammlungsverbot sowie die Versammlung der BI Lüchow-Dannenberg, die sich außerhalb der eigentlichen Verbotszone befand. Die Atomkraftgegner aus dem Wendland hatten ihre Versammlung beim Ordnungsamt der Gemeinde Heek angemeldet und wurden von der freiwilligen Feuerwehr mit Wasser versorgt. Die Telekom wollte gerade ein Telefonkabel legen, da wurde auch diese Versammlung verboten und aufgelöst. Ohne daß die Polizei auch nur einen Grund für die Auflösung der Versammlung nannte, wird ihr Vorgehen vom Verwaltungsgericht gebilligt – in Umkehr der Beweislast. Da die Wendländer anschließend ihr Camp auf einer anderen Wiese – näher an Gleisanlagen und Verbotszone – fortsetzen konnten, gab es aber wohl tatsächlich keinen Grund für diese Auflösung.

Ingewahr­samnahmen und Bußgelder

Trotz all dieser Umstände nahmen zahlreiche Menschen an den Protestaktionen teil. Auch die Protestversammlungen auf den Schienen konnten durchgeführt werden. Ihre Teilnehmer wurden zum Teil – allerdings entgegen vorherigen Zusagen der Polizei – in polizeilichen Gewahrsam genommen, insgesamt waren es über 600 Personen. Legt man die von der Polizei verbreitete Zahl von 3000 Demonstranten zugrunde, war damit jeder fünfte von dieser polizeilichen Maßnahme betroffen. Die in Gewahrsam Genommenen wurden dann in Sammelstellen in Münster, Coesfeld, Rhede und Rheine verbracht – durchweg mindestens 20 bis 50 km von Ahaus entfernt.

Die Zustände in den Gefängnissammelstellen spotteten jeder Beschreibung. Zum Teil wurden fünfzehn Personen in einem Baucontainer untergebracht. Die nach dem Polizeigesetz NRW vorgeschriebene unverzügliche Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung erfolgte nur in zwanzig Fällen. Hier entschieden Richter in der Gefangenensammelstelle Coesfeld, nachdem Anwälte auf einer richterlichen Entscheidung bestanden, und verfügten in sämtlichen Fällen die sofortige Freilassung der in Gewahrsam genommenen Personen, da die Ingewahrsamnahme unverhältnismäßig und damit rechtswidrig sei.

Die meisten der über 600 im Laufe des 20. März in Gewahrsam genommenen Demonstranten wurden aber erst am 21. März um 6.00 Uhr freigelassen. Gegen die vermeintlichen Teilnehmer an den Sitzblockaden wurden schließlich 475 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsverbot eingeleitet. Insgesamt 373 dieser Verfahren sind eingestellt worden. In den verbliebenen 98 Fällen wurde ein Bußgeldbescheid über 200 bis 400 Mark erlassen. Strafverfahren wurden nur in sehr wenigen Fällen eingeleitet. Ein Atomkraftgegner, der sich an den Gleisen festgekettet hatte, wurde vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen, da er nur öffentlich demonstrieren wollte. Die geringe Zahl der Strafverfahren und die hohe Zahl der Bußgeldverfahren belegen, daß es keineswegs Straftaten von Versammlungsteilnehmern waren, die zum Versammlungsverbot Anlaß gaben, vielmehr wird das Versammlungsverbot zum oftmals einzigen Grund für ein gerichtliches Verfahren.

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