Missachtung von Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern durch die Justizverwaltung
Der Wettlauf der Schäbigkeit hat längst begonnen
Grundrechte-Report 2007, Seiten 142 – 145
Auch Gefangene haben Rechte. So jedenfalls die Theorie. Die Praxis sieht mittlerweile vielerorts anders aus. Beispielhaft sei der Fall des Gefangenen M., der eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen Betruges in einer Justizvollzugsanstalt in Baden-Württemberg verbüßt, genannt. Wegen seiner beanstandungslosen Führung wurde ihm im Sommer 2005 gestattet, im freien Beschäftigungsverhältnis bei einem örtlichen Busunternehmen zu arbeiten. Er wurde dort als Busfahrer eingesetzt und arbeitete nach Einschätzung seines Arbeitgebers sehr zuverlässig. Dann wurde der Gefangene M. wegen des Verdachts der Unterschlagung vorübergehend in den geschlossenen Vollzug verlegt; nachdem das gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren kurze Zeit später von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde, konnte er umgehend wieder zurück in den offenen Vollzug. Die Wiederzulassung zur Arbeit wurde ihm von der Justizvollzugsanstalt dennoch versagt. Der Gefangene M. stellte daraufhin einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und erhielt prompt Recht: Das Landgericht Karlsruhe gab dem Antrag in seiner Eilentscheidung (Az. 151 StVK 308/05) statt und ließ ihn wieder zur Arbeit zu. Doch das nutzte Herrn M. wenig: Die Justizvollzugsanstalt nahm den gerichtlichen Beschluss zwar zur Kenntnis, weigerte sich jedoch, ihn umzusetzen.
Vollstreckungsmöglichkeiten fehlen — Verstöße keine Einzelfälle
Die Geschichte des Herrn M. ist kein Einzelfall im deutschen Strafvollzug: Wer hinter Gittern sitzt, hat keine Möglichkeit, gerichtliche Entscheidungen gegen die Anstalt auch durchzusetzen. Eine zwangsweise Vollstreckung – etwa durch einen Gerichtsvollzieher oder durch die Verhängung von Zwangsgeldern – ist für den Strafvollzug nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet; er ging davon aus, dass die vollziehende Gewalt ohnedies an Recht und Gesetz gebunden ist; so steht es in Artikel 20 Absatz 3 GG geschrieben« Da dies für Hoheitsträger auf allen staatlichen Ebenen gilt, sind auch Justizvollzugsanstalten automatisch zur Befolgung gerichtlicher Entscheidungen verpflichtet.
Die Justizministerien der Länder beteuern auch stets, dass Gerichtsentscheidungen ausnahmslos befolgt würden; geschehe dies in Einzelfällen mal nicht, handele es sich um individuelle Fehler bei der Umsetzung – anders jedoch die Wahrnehmung von Strafverteidigern, Richtern und Gefangenen. Untersuchungen bestätigen zudem, dass Renitenz in der Vollzugsverwaltung viel häufiger vorkommt als vermutet. Der oft zur Begründung angeführte Geldmangel ist dabei lediglich als Schutzbehauptung zu werten, und der Verweis auf die Möglichkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde hat kaum jemals Aussicht auf Erfolg.
Der Umstand, dass diese Renitenz der Vollzugsbehörde gegenüber der Recht sprechenden Gewalt kein Einzelfall, sondern mittlerweile schon ein zeitgenössisches Phänomen darstellt, ist wenig tröstlich. Abhilfe ist nicht zu erwarten, besonders nicht durch die Föderalisierung des Strafvollzuges; nun ist eher mit populistischen Verschärfungen zu rechnen. Schon jetzt wird in ersten Entwürfen die Zielsetzung des Strafvollzuges nachhaltig verändert: Das vom Bundesverfassungsgericht als dem Kernbestand der Menschenwürde zugeordnete und bislang einzige Vollstreckungsziel der Resozialisierung des Straftäters soll eingeschränkt werden zugunsten der allgemeinen Sicherheit. Dies entspricht der Stimmung in weiten Teilen der Republik, in der Resozialisierung beinahe als Schimpfwort gilt und Haftanstalten mit Hotel- oder Kuschelvollzug gleichgesetzt werden. Eine Entwicklung, die gefährlich ist: Die Allgemeinheit wird dann am besten geschützt, wenn ein Häftling nach seiner Entlassung gar nicht mehr straffällig wird; dies setzt aber seine gelungene Resozialisierung in die Gesellschaft voraus. Wegsperren allein hilft niemandem; ein einseitig auf Sicherheit ausgerichteter Verwahrvollzug täuscht Sicherheit nur vor.
»Eklatanter Rechtsbruch« in Hessen
Den Gefangenen wird also nichts anderes übrig bleiben, als auch künftig zu unkonventionellen Mitteln zu greifen, um ihre gerichtlich bestätigten Interessen durchzusetzen. So im Fall eines in Hessen einsitzenden Gefangenen, der einen Beschluss des Landgerichts Gießen erwirkte, durch den die Justizvollzugsanstalt verpflichtet wurde, ihm einen bei seiner Habe befindlichen DVD-Player auszuhändigen. Als ihm dies verweigert wurde, stellte er einen erneuten Antrag auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er die Umsetzung der gerichtlichen Entscheidung begehrte. Das Landgericht Gießen wies den Antrag zwar mangels Möglichkeit zur Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen zurück (Az. 2 StVK 1591/05); es nannte die Missachtung der gerichtlichen Entscheidung durch die Verwaltung jedoch einen eklatanten Rechtsbruch und verwies den Gefangenen auf die Presse und sonstige Medien. Nachdem der Fall daraufhin durch die Presse gegangen war – unter anderem wurde er im Spiegel zitiert (Der Spiegel 20/2006, 56) -, erhielt der Gefangene seinen DVD-Player zurück.
Auch der Gefangene M. hatte Glück: Sein Anwalt war zufällig auch Landtagsabgeordneter der Oppositionsfraktion. Als er nach ergebnislosen Gesprächen mit dem Leiter der Justizvollzugsanstalt und dem zuständigen Ministerialrat im Justizministerium schließlich in Aussicht stellte, die Angelegenheit zum Gegenstand einer kleinen Anfrage im Landtag zu machen, durfte Herr M. Anfang 2006 endlich wieder arbeiten.
Literatur
Wolfgang Lesting/Johannes Feest, Renitente Strafvollzugsbehörden, in: ZRP 1987, S. 390
Ulrich Kamann, Die Erweiterung des Renitenzbegriffs im Strafvollzug, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 1993, S. 206
Mario Cebulla, Wettlauf der Schäbigkeit, in: Freitag Nr. 40 vom 6. Oktober 2006