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Ausufernder Vorbeu­ge­ge­wahrsam - Gießener Polizei verfolgt und inhaftiert nach Gutdünken

Grundrechte-Report 2008, Seite 114

Die Polizei nutzt verstärkt die in den Polizeigesetzen der Länder vorgesehenen Möglichkeiten der Ingewahrsamnahme zur Verhinderung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten. Dabei handelten sich Polizei und Justiz in Gießen für ihr Vorgehen einen deutlichen Warnruf des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt ein. Das Gericht mahnte im Juni 2007, „das Instrument des Gewahrsams [sei] während der Nazizeit äußerst massiv missbraucht” worden. Durch hohe Anforderungen an die Rechtfertigung dieses Grundrechtseingriffs solle verhindert werden, dass die Vorschrift „zu einer Ermächtigung zum sog. Vorbeugegewahrsam (früher: Schutzhaft) ausgeweitet wird“.

Wie konnte es dazu kommen? Die „Projektwerkstatt Saasen“ bei Gießen und insbesondere Jörg Bergstedt sind der Polizei schon lange ein Dorn im Auge (vgl. auch Christoph Weinrich in Grundrechte-Report 2005, S. 127 ff.). Die Basisaktivisten der „Projektwerkstatt Saasen“ geraten durch ihre Aktivitäten ins Visier von Polizei und Justiz. Am 10. Januar 2003 wird die Projektwerkstatt nach Aufklebern durchsucht, die auf Wahlplakaten angebracht wurden. Am nächsten Tag protestieren sie in der Innenstadt Gießens. Sie treffen auf einen prominent besetzten Wahlkampfstand der CDU: da wirbt Volker Bouffier, Hessens Innenminister persönlich, ihn begleitet der Polizeipräsident von Gießen. Ein Transparent wird entrollt: „Freiheit stirbt mit Sicherheit“. Jemand von der Projektwerkstatt hält über Megafon eine Ansprache. Das ist zuviel. Der Hessische Innenminister und der Polizeipräsident teilen dem Einsatzleiter der Polizei mit, dass man sich dies nicht bieten lassen wolle. Der macht kurzen Prozess. Als der Agitator das Megafon nicht herausgibt, wird er an allen vieren gepackt und in Gewahrsam genommen. Die Gerichte verhängen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – ohne Bewährung. Rechtsmittel bleiben erfolglos, Jörg Bergstedt erhebt Verfassungsbeschwerde.

Straftaten bei polizei­li­cher Überwachung

In der Nacht zum 4. Mai 2006 wird das Gebäude der Rechtsanwaltskanzlei Bouffier besprüht. Partner der Kanzlei ist der Innenminister von Thüringen, Karl Heinz Gassner. Aus Sicht der Polizei ist klar, dass das wieder nur Jörg Bergstedt gewesen sein kann.

Am 10. Mai 2006 erhält er seine Ladung zum Strafantritt. Er, der sich seit Jahren mit Polizei und Justiz ein Katz-und-Maus-Spiel liefert, soll endlich aus dem Verkehr gezogen werden. Am 18. Mai 2006 hat er sich in der JVA Gießen einzufinden. Die Polizei geht davon aus, dass er die Woche bis zum Strafantritt „nutzen“ will, um weitere „Taten“ zu begehen. Der Staatsschutz sucht die Projektwerkstatt auf, um insbesondere Jörg Bergstedt davor zu warnen, Straftaten zu begehen. Am 12./13. Mai findet in der Projektwerkstatt ein Seminar zum Thema Repression statt. Am 14. Mai beschließen die Seminarteilnehmer, in die Gießener Innenstadt zu fahren, um die Polizei zu foppen. Ihr Ziel: die Gebäude der Gießener Justiz. Auf den Rasenflächen wollen sie nachts Federball spielen. Was sie nicht wissen: Sie werden von einem massiven Polizeiaufgebot beobachtet. Ein MEK ist im Einsatz. Objektschützer beziehen Stellung. Ein Zugriff erfolgt nicht, man will die Aktivisten auf „frischer Tat“ ertappen. Allein: es kommt zu keiner Tat. Stattdessen: Federball! Zivilbeamte beobachten die Szene, entdecken den erwarteten Täter und notieren, wie er zwischen 2:28 Uhr und 2:47 Uhr Federball im Lichtschein der Justizscheinwerfer spielt. Dann ist Schluss mit Federball. Man fährt nach Hause. Dort kommt die Gruppe aber nicht mehr an. Alle werden in Gewahrsam genommen. Bei der Festnahme kommt es zu filmreifen Szenen. Beamte steigen überhastet aus ihrem Wagen. Der rollt ohne Handbremse los und kollidiert mit einem anderen Streifenwagen. Die Polizei packt alle und sperrt sie ein. Da keine Straftaten beobachtet wurden, bleibt allein der Grund: Verhinderung von (zukünftigen) Straftaten.

Gewahrsam aufgrund unbegrün­deter Annahmen

Am nächsten Tag beantragt die Polizei beim Amtsgericht die Fortdauer der Freiheitsentziehung für Jörg Bergstedt. Er stehe im Verdacht, in der Nacht zum 4. Mai die Tür der Rechtsanwaltskanzlei Bouffier angebohrt zu haben, um eine übel riechende Flüssigkeit hinein zu sprühen. Außerdem habe er das Kanzleigebäude besprüht. Der Angeklagte bestreitet dies. Beweise: keine, aber er habe Innenminister Bouffier unsachlich kritisiert und auf der von ihm betreuten Homepage der Projektwerkstatt befänden sich Begriffe, die auch auf die Fassade der Kanzlei aufgesprüht worden seien. Außerdem habe er auch in der Nacht auf den 14. Mai die Tür der CDU-Geschäftsstelle Gießen angebohrt. Das sei um 2:37 Uhr gewesen. Zu einem Zeitpunkt also, als Jörg Bergstedt von der Polizei selbst beim Federball beobachtet wurde. Das Amtsgericht glaubt der Polizei. Das OLG dazu später: „Was das Amtsgericht zu seiner Annahme veranlasst hat, bleibt im Dunkeln, da es seine Annahme nicht begründet hat.“ Das Amtsgericht legt die Dauer der Freiheitsentziehung auf die Zeit bis zum Haftantritt am 18. Mai fest. Auch das Amtsgericht meint, der „Täter“ müsse aus dem Verkehr gezogen werden. Die Polizei glaubt ihr Ziel erreicht zu haben. Bergstedt legt sofort Beschwerde beim Landgericht ein, das jedoch nicht entscheidet. Es entscheidet nicht am 15. Mai, nicht am 16. Mai, nicht am 17. Mai. Am 18. Mai soll der Haftantritt erfolgen. Bergstedt schmort, wie das Landgericht weiß, derweil in Polizeigewahrsam. Da kommt ein Fax aus Karlsruhe – wie ein Blitz aus heiterem Justiz-Himmel: Das Bundesverfassungsgericht setzt durch eine einstweilige Anordnung die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte aus. Jörg Bergstedt muss nicht in Haft. Vorerst jedenfalls nicht. Später hebt das Bundesverfassungsgericht seine Verurteilung ganz auf. Er könne nicht wegen Widerstand bestraft werden, weil die Polizeiaktion nicht, wie vom Gesetz gefordert, rechtmäßig gewesen sei. Die Protestaktion habe unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Absatz 1 GG gestanden. Weder sei die Versammlung aufgelöst worden, noch sei der Angeklagte aus der Versammlung ausgeschlossen worden. Damit seien wesentliche Förmlichkeiten verletzt, die Polizeiaktion nicht rechtmäßig, eine Zuwiderhandlung damit nicht strafbar. Die Freiheitsstrafe könne keinen Bestand haben. Am 17. Mai sitzt er aber weiterhin in Polizeigewahrsam. Am 18. Mai endlich entscheidet das Landgericht. Die Freiheitsentziehung wird aufgehoben. Die Gefahr von Straftaten habe wegen des bevorstehenden Strafantritts bestanden. Da inzwischen die Vollstreckung durch das Bundesverfassungsgericht ausgesetzt sei, bestehe kein Grund mehr zum vorbeugenden Gewahrsam. Jörg Bergstedt kommt also am 18. Mai frei, seine Beschwerde gegen die bereits vier Tage dauernde Freiheitsentziehung weist das Landgericht aber zurück. Wieder legt er Beschwerde ein. Jetzt geht es vor dem Oberlandesgericht Frankfurt um die Frage, ob er am 14. Mai in Gewahrsam genommen werden durfte. Inzwischen kann er die Akten einsehen und erkennt, was die Polizeibehörden verschweigen, Amtsgericht und Landgericht nicht wahrnehmen wollten. Die Polizei in Gießen wusste genau, dass er in der Nacht zum 14. Mai gar nicht an der CDU Geschäftsstelle eine Tür anbohren konnte, weil er zur selben Zeit von der Polizei beobachtet wurde. Das OLG stellt am 18. Juni 2007 fest, dass die Ingewahrsamnahme von Anfang an rechtswidrig war. Die Vorwürfe gingen über bloße Vermutungen nicht hinaus. Auf diese dürfe ein Unterbindungsgewahrsam nicht gestützt werden. Erforderlich sei, dass die schädigende Einwirkung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorstehe.

Das OLG stellt in seinem Beschluss die Frage, „wieso es kommen konnte, dass dem Amtsgericht ein Antrag auf Ingewahrsamnahme vorgelegt wurde, in dem der Umstand der anderweitigen Observation in der Tatnacht und deren Ergebnis nicht deutlich mitgeteilt und auch das Landgericht insoweit nicht unterrichtet wurde.“

Am Anfang standen Aufkleber auf Wahlplakaten. Der Eifer, den Polizei und Justiz dann bei der Verfolgung von Jörg Bergstedt an den Tag gelegt haben, dürfte sicher damit zusammenhängen, dass dieser den obersten Polizeichef des Landes, Innenminister Bouffier, ganz fürchterlich genervt hat. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft – gegen wen im Einzelnen und mit welchem Ergebnis, wird sich erst noch herausstellen.

Literatur

OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 18.6.2007, Az. 20 W 221/06
BVerfG, Urteil vom 30.4.2007 1 BvR 1090/06

Dokumentation der Verfahren, unter: www.projektwerkstatt.de

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