Im Zweifel gegen die Freiheit - Warum der Verfassungsschutz nichts beweisen muss
Grundrechte-Report 2008, Seite 138
Wenn ein Geheimdienst Daten über Bürger sammelt und speichert, greift er damit in ihre Rechte ein. Denn das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes) gewährt dem Einzelnen das Recht, grundsätzlich selbst über die Erhebung, Speicherung und Verwendung „seiner“ Daten zu entscheiden. In dieses Recht darf nur dann eingegriffen werden, wenn zwingende Interessen des Gemeinwohls dies erfordern. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, auch Grundrecht auf Datenschutz genannt, zählt zu den dauerhaften Sorgenkindern des Grundrechte-Reports. Dabei bleibt es auch in dieser Ausgabe.
Mitverantwortlich dafür ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. September 2006 (Aktenzeichen: 3 C 34.05). In der Sache ging es um einen Bürger, der erfahren musste, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz in den Jahren 1988 – 1996 über ihn Daten gesammelt hatte, denen zufolge er Mitglied in einer marxistischen Organisation sein sollte. Diese Organisation habe seit 1970 danach gestrebt, ihre zumeist akademisch gebildeten Mitglieder in gesellschaftlich tragende Positionen zu bringen und dadurch Staat und Gesellschaft zu unterwandern. Daraus war bis zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auch nach 36 Jahren bekanntlich nichts geworden. Vielmehr war die aus heutiger Sicht obskur anmutende Organisation schon seit Jahren aus den Verfassungsschutzberichten wieder verschwunden. Aber nicht aus den Akten. Mit der Folge für den Betroffenen, dass er eine angestrebte Zulassung zur Tätigkeit in einem sicherheitsrelevanten Bereich (so genannte Sicherheitsüberprüfung) nicht erhielt, was erhebliche berufliche Nachteile mit sich brachte.
Der Verfassungsschutz behauptet nur – beweisen muss er nichts
Der Bürger bestreitet, Mitglied in jener Gruppe (gewesen) zu sein, und beschritt im Jahre 2001 den Rechtsweg. Das Bundesamt für Verfassungsschutz behauptete, dass der Betroffene zuletzt 1996 als Mitglied jener Organisation festgestellt worden sei. Die Erkenntnisse, auf die es diese Behauptung stützte, hielt das Amt aber auch vor den Verwaltungsgerichten geheim, um die früher in der Gruppe eingesetzten Informanten auch jetzt, Jahre nach den letzten Erkenntnissen, vor der Aufdeckung zu schützen. Nicht ein einziges Treffen der Organisation, an dem der Kläger in all den Jahren teilgenommen haben soll, könne benannt werden.
Über die Weigerung des Verfassungsschutzes, die Akten den Gerichten vorzulegen, entschied ein besonderer Senat des Bundesverwaltungsgerichts im so genannten In-camera-Verfahren. Dieses findet im Geheimen statt; ausgewählten Richtern werden die Akten vorgelegt, und diese entscheiden, ob die Unterlagen vor den Verwaltungsgerichten und dem Kläger geheim gehalten werden dürfen oder nicht. Damit soll das Dilemma gelöst werden, dass über die Geheimhaltung von Akten nicht vor einem Gericht in öffentlicher Verhandlung entschieden werden kann, wenn Geheimhaltung noch Sinn machen soll. Das Bundesverwaltungsgericht gab dem Verfassungsschutz im Jahre 2002 recht und entschied, dass die Akten geheim bleiben dürften.
Ein Nichts lässt sich nicht beweisen
So standen die Aussage des Bürgers gegen die Aussage des Verfassungsschutzes, und die Verwaltungsgerichte konnten weder die Mitgliedschaft noch die Nicht-Mitgliedschaft des Betroffenen in jener marxistischen Organisation feststellen. Bis zum Oberverwaltungsgericht Münster hatte der Bürger keinen Grund zur Klage, denn dieses zog die einzig mögliche rechtsstaatliche Konsequenz: Weil der Verfassungsschutz, wenn auch berechtigterweise, den Nachweis für seine Behauptungen schuldig geblieben war, könne dem Bürger nicht zugemutet werden, ins Blaue hinein alle denkbaren Anhaltspunkte für seine Mitgliedschaft in jener Organisation zu widerlegen. Denn für etwas, das es nicht gibt, ist der Beweis schließlich kaum anzutreten. Der Verfassungsschutz wurde daher verpflichtet, in seinen Akten zu notieren, dass der Kläger nicht Mitglied der Organisation sei. Die Zulassung zu sicherheitsrelevanten Tätigkeiten wäre damit aller Voraussicht nach erteilt worden.
Der Verfassungsschutz ging in die nächste Instanz, zum Bundesverwaltungsgericht. Dieses entschied mit Urteil vom 27. September 2006 umgekehrt: Der so genannte Unrichtigkeitsvermerk sei von Gesetzes wegen nur dann anzubringen, wenn bewiesen sei, dass die Behauptungen des Verfassungsschutzes falsch seien. Der Gesetzgeber habe das Problem der Unbeweisbarkeit einer Behauptung des Verfassungsschutzes nicht zu Gunsten der Bürger lösen wollen. Ein Blick in den entscheidenden § 13 Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes offenbart, dass man diese Erwartung an die Schöpfer des Bundesverfassungsschutzgesetzes auch nicht hegen sollte, denn das Gesetz formuliert die Richtigstellung gespeicherter Daten in Akten als staatliche Leistung. Wer aber eine Leistung haben will, der muss nach allgemeinen Beweislastregeln beweisen, dass sie ihm zusteht. Der betroffene Bürger wusste damit zwar immer noch nicht, welche Erkenntnisse des Geheimdienstes er widerlegen musste, um die Schlussfolgerung, dass er Mitglied in jener Organisation sei, endlich aus der Welt zu schaffen. Ihm gab das Bundesverwaltungsgericht nur den wenig beruhigenden Hinweis, dass der Verfassungsschutz schließlich gesetzlich verpflichtet sei, von sich aus die Richtigkeit seiner Daten immer wieder selbst zu überprüfen.
Seit der letzten Überprüfung waren ja auch erst zehn Jahre vergangen.
Datenschutz: grundrechtlicher Anspruch oder staatliche Wohltat?
Wie steht es hier mit den Grundrechten des Bürgers? Diesem gewährt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auch Schutz vor der Speicherung unrichtiger Daten. Dieses Grundrecht bliebe ein zahnloser Tiger, wenn es nicht durchgesetzt werden könnte, wenn die umstrittenen Akten geheim bleiben dürfen. Vom Standpunkt der Grundrechte aus ist eine andere Sichtweise geboten: Wenn sich der Staat das Recht herausnimmt, in Grundrechte einzugreifen, muss er auch beweisen können, dass er dazu berechtigt ist. Wo er das nicht kann oder aus Geheimhaltungsgründen nicht will, streiten das Grundrecht auf Datenschutz und das Rechtsstaatsprinzip für den Bürger. Denn nicht erfasst zu werden ist für den Bürger nicht etwa eine staatliche Wohltat, sondern ein grundrechtlicher Anspruch.
So kommt, wo staatliche Geheimhaltung von Richtern im Geheimen überprüft wird, der Rechtsschutz manchmal ein Stückchen weiter, aber nicht immer zum Ziel. Nämlich dann nicht, wenn die Geheimhaltung der Akten im In-camera-Verfahren abgesegnet wurde. Die Entscheidung vom 27. September 2006 fügt diesem Problem ein weiteres hinzu: mit dem geltenden Bundesverfassungsschutzgesetz kann der Verfassungsschutz sich dann beruhigt zurücklehnen, denn von der Löschungspflicht für umstrittene Daten hat ihn das Bundesverwaltungsgericht nachhaltig befreit.
Dabei wird es bis auf Weiteres bleiben. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist nicht bekannt geworden.