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Gewis­sens­frei­heit gegen Wehrpflicht - Wieder Total­ver­wei­gerer einberufen

Grundrechte-Report 2009, Seite 99

Einige radikale Kriegsdienstverweigerer lehnen jeden Kriegs- und Kriegsersatzdienst total ab. Diese Totalverweigerer hat das Verteidigungsministerium mehrere Jahre lang stillschweigend umgangen. Das hat sich geändert. 2007 und 2008 wurden jeweils drei Fälle bekannt, in denen Totalverweigerer einberufen, gewaltsam in die Kasernen gebracht und dann mit Arreststrafen sanktioniert wurden. 2008 waren es Matthias Schirmer, Silvio Walther und Jan-Patrick Ehlert. Die Fälle sind brisant, weil das Disziplinarrecht der Bundeswehr erzieherische Maßnahmen, jedoch keine eigentlichen Strafen vorsieht. Totalverweigerer mehrfach mit Arreststrafen zu belegen, kann aber nur den Sinn haben, sie zu bestrafen und ihre Gewissensentscheidung zu brechen, also die nach Artikel 1 Absatz 1 GG besonders geschützte Menschenwürde zu missachten. So geht der Staat mit denen um, die gewaltlos leben wollen, es mit Artikel 2 Absatz 2 GG ablehnen, anderen Menschen Leben und körperliche Unversehrtheit zu nehmen, sich auf die in Artikel 4 Absatz 1 GG garantierte Gewissensfreiheit berufen und jeden Kriegsdienst für so verbrecherisch halten, dass sie deshalb auch den Ersatz dafür ablehnen. Die in Artikel 12a Absätze 1 und 2 GG nachträglich erlaubte Wehr- und Ersatzdienstpflicht setzt praktisch das wichtige Grundrecht der Gewissensfreiheit außer Kraft.

Arrest für Gewis­sens­ent­schei­dungen

In drei rechtskräftig abgeschlossenen Prozessen aus dem Jahr 2008 wegen Fahnenflucht (bzw. Dienstflucht) und Befehlsverweigerung verurteilten zivile Strafgerichte Totalverweigerer, die Wehr- oder Ersatzdienst radikal verweigern, zu Geldstrafen oder Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Der vorher in der Bundeswehr verhängte Disziplinararrest erscheint als Versuch, wenigstens ein Mindestmaß an Freiheitsstrafe zu exekutieren. Um das zu ermöglichen, wird die Wehrdisziplinarordnung bis zur Unkenntlichkeit gedehnt. Die Disziplinarvorgesetzten können in aller Regel erkennen, dass der Totalverweigerer nicht umzustimmen ist, sondern bei seiner einmal getroffenen Gewissensentscheidung bleibt. Trotzdem versuchen sie, ihn mit dem Disziplinararrest zur Aufgabe seiner Überzeugung zu bringen. Sie verhängen, jeweils mit der Zustimmung eines Richters am Truppendienstgericht, erst sieben Tage, dann zehn oder 14 Tage und schließlich 21 Tage Arrest, obwohl der Totalverweigerer seine Gewissensentscheidung natürlich nicht ändert. Erst dann wird ein Dienstverbot erteilt und die Entlassung aus der Truppe eingeleitet. So war es auch bei den Genannten.

Die Truppendienstgerichte greifen erst ein, wenn offensichtlich nicht mehr mit erzieherischer Wirkung zu rechnen ist, zum Beispiel wenn während des vierten Arrestes schon der fünfte Arrest beantragt wird. Das geschah bei Silvio Walther und war zuviel. So zeigte der Vorgesetzte, dass er gar nicht mehr mit einer Wirkung des Arrestes rechnete. Damit wurde die Disziplinarmaßnahme vollends Unrecht. Der Richter des Truppendienstgerichts verbot den weiteren Arrest und sorgte für Dienstverbot und Entlassung.

Gesetz­wid­rige Weisung

Es bleibt die Frage, warum Disziplinarvorgesetzte gegen Totalverweigerer mehrfach Arreste verhängen, von denen sie wissen müssen, dass sie nichts bewirken. Der Grund ist eine Weisung des Verteidigungsministers, Entlassungen erst nach 42 Tagen Arrest vorzunehmen. Er greift damit gesetzwidrig in die alleinige Zuständigkeit der Disziplinarvorgesetzten ein. Offensichtlich halten sich auch die Truppendienstgerichte der Bundeswehr an diese problematische Weisung. Sie ist zwar ein Fortschritt gegenüber der Praxis vor längerer Zeit, als bis zu 84 Tage Arrest verhängt und sogar vom Bundesverfassungsgericht gebilligt wurden. Aber angemessen ist diese Praxis auf keinen Fall. Mit dem Trick, den Arrest als Erziehungsmaßnahme zu werten und jede Verweigerung eines Befehls als neue Tat, umgehen sie Artikel 103 Absatz 3 GG, das Verbot der Doppelbestrafung. Da Totalverweigerer natürlich bei ihrer ein für allemal getroffenen Gewissensentscheidung bleiben und sie mit ihrem weiteren Verhalten nur bestätigen, geht es um ein und dieselbe Tat. Wer das leugnet, will nicht sehen, was klar vor Augen ist.

Das Problem ist die Wehrpflicht

Die wenigen Totalverweigerer erinnern an die Problematik der Wehrpflicht. Von den ca. 430.000 Männern eines Geburtsjahrganges benötigt die Bundeswehr nach ihrer derzeitigen Planung nur noch jeden Sechsten, ca. 70.000, von denen sich ca. 30.000 freiwillig melden (freiwillig länger Dienende, Zeit- und Berufssoldaten). Sie sucht deshalb nach Tricks, um das Unrecht der fehlenden Wehrgerechtigkeit zu vertuschen. Etwa 45 Prozent der Wehrpflichtigen werden schon bei den Musterungen willkürlich als „nicht wehrdienstfähig“ aussortiert. Früher waren es zehn bis zwölf Prozent, und in anderen Ländern, die noch eine Wehrpflicht haben, sind es auch nicht mehr.

Um die Ungerechtigkeit zu verschleiern, machen die Kreiswehrersatzämter schon fast Werbung für die Kriegsdienstverweigerung. Sie fragen vor der Musterung, wer verweigern will, bieten gleich den Text zum Unterschreiben an und erreichen so, dass viele wenigstens zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden können. Aber auch das beseitigt die Ungerechtigkeit nicht, denn ca. 85.000 Zivildienstleistende und ca. 15.000 Ersatzdienstleistende im Katastrophenschutz und anderen Ersatzdiensten verhindern nicht, dass über die Hälfte eines Jahrgangs überhaupt nicht einberufen wird.

Es ist pervers, dass manche Kreiswehrersatzämter in dieser Situation ausgerechnet Totalverweigerer einberufen und die Truppe mit Arreststrafen auf sie losgeht. Vielleicht soll demonstriert werden, dass angeblich nicht genügend Wehrpflichtige zur Verfügung stehen, so dass man selbst Totalverweigerer einberufen muss. Das Bundesverfassungsgericht hat ja noch nicht über den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Köln entschieden, das Einberufungen wegen der fehlenden Wehrgerechtigkeit für verfassungswidrig hält. Es wäre nichts Neues, wenn das Verteidigungsministerium versuchte, den Karlsruher Richtern etwas vorzumachen. Dabei ist die Wehrpflicht im Grundgesetz nur erlaubt, nicht geboten, und Karlsruhe hat Wehrgerechtigkeit für sie zur Bedingung gemacht. Der Verteidigungsminister könnte mit einem einfachen Erlass die Wehrpflicht sofort aussetzen.

Literatur

Detlev Beutner: Militärjustiz und Wehrdisziplinarordnung der Bundeswehr, in Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (Hrsg.): Am Hindukusch und anderswo, Köln 2005

Ralf Siemens: Wehrpflicht, die große Lotterie – Zahlen und Fakten zur Willkürpraxis, in: Forum Praxis 19, III/2008

http://tkdv-zittau.blogspot.com/ (Dokumentation des Strafverfahrens gegen den Totalverweigerer Andreas Reuter)

Siemens, Ralf/Glenewinkel, Werner, „Totale Kriegsdienstverweigerung
und Gewissensfreiheit. Offener Rechtsbruch im Umgang mit radikalen
Antimilitaristen“, in: Forum Pazifismus 20, IV/2008, S. 22 – 24.

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