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Die große Kronzeu­gen­re­ge­lung

Grundrechte-Report 2010, Seite 173

Mit Wirkung zum 1.9.2009 wurde ein neuer Paragraf in das Strafgesetzbuch (StGB) eingefügt (§ 46b StGB). Die Vorschrift soll nach dem Willen des Gesetzgebers „potenziell kooperationsbereiten Tätern einen Anreiz bieten, Hilfe zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten (Aufklärungs- und Präventionshilfe) zu leisten“ (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/13094). Sie wird – in Anlehnung an das angloamerikanische Rechtssystem – auch als Kronzeugenregelung bezeichnet.

Auf ihrer Grundlage können Gerichte eine Strafe ganz erheblich herabsetzen, wenn der Täter freiwillig sein Wissen über eine andere schwere Straftat offenbart und dadurch diese Tat entweder noch verhindert oder jedenfalls aufgeklärt werden kann. Wenn die konkrete Straferwartung nicht über drei Jahren liegt, kann sogar von einer Strafe vollständig abgesehen werden.

Vom Neben­straf­recht ins Zentrum des Strafrechts

Ähnliche Regelungen gab es auch schon vorher. Ihre Geltung war aber sachlich auf bestimmte Straftaten beschränkt oder zeitlich befristet. Vorreiter war das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Dort gilt seit 1981 eine Kronzeugenregelung ausschließlich für Betäubungsmitteldelikte (§ 31 BtMG). Für Straftaten im Zusammenhang mit einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) wurde 1989 eine befristete Kronzeugenregelung eingeführt, die später auf andere organisiert begangene Straftaten ausgeweitet wurde, dann aber 1999 auslief, weil sie nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hatte.

Waren die Vorläufer im Nebenstrafrecht lokalisiert oder auf bestimmte Tatbestände beschränkt, ist die neue Vorschrift nun im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs in dem Abschnitt verankert, wo  für alle Straftaten die Grundsätze der Strafzumessung enthalten sind. Damit ist die Kronzeugenregelung vom Rand in das Zentrum des Strafrechts gerückt. Sie gilt allgemein und wird deshalb auch als “große Kronzeugenregelung“ bezeichnet.

Mit ihr verbunden sind weitere gravierende Änderungen. Konnte der Kronzeuge bisher sein Wissen auch noch vor Gericht in der Hauptverhandlung offenbaren, muss nun der Beschuldigte frühzeitig mit der Polizei oder der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten und mitteilen, was er über andere Straftaten weiß. Wenn er sich dazu erst entschließt, nachdem das Gericht das Hauptverfahren gegen ihn eröffnet hat, ist es für eine Herabsetzung der Strafe nach der neuen Vorschrift zu spät. Schließlich kommt es für die Strafmilderung nicht mehr darauf an, ob die andere Straftat, über die der Kronzeuge sein Wissen offenbart, in irgendeinem Zusammenhang mit seiner eigenen Tat steht. Es reicht aus, wenn er Angaben über irgendeine andere Straftat machen kann. Straffrei bleiben könnte beispielsweise der Täter einer schweren Körperverletzung, wenn er nur in der Lage ist, der Polizei einen Verkäufer illegaler Drogen zu benennen.

Negative Folgen

Gegen die Kronzeugenregelung gibt es schon auf der Ebene des einfachen Rechts unterhalb der Grundrechte viele Einwände: Die Hoffnung auf Strafmilderung oder sogar Straffreiheit lädt dazu ein, Andere falsch zu belasten. Gerichtsverhandlungen werden aufwändiger. Die Beweisaufnahme muss ausgedehnt werden über die Taten hinaus, die dem Kronzeugen vorgeworfen werden, auf die von ihm offenbarten anderen Taten, um zu prüfen, ob er sich die Strafmilderung tatsächlich „verdient“ hat. Produziert werden weitere, hoch problematische Strafverfahren gegen die durch den Kronzeugen belasteten Dritten, in denen die fragwürdigen Angaben des Kronzeugen im Mittelpunkt stehen und die Gefahr falscher Verurteilungen deshalb besonders hoch ist. Betroffen ist insoweit die grundrechtliche Gewährleistung eines fairen Strafverfahrens.

Die Probleme reichen aber wesentlich weiter. Deutlich wird dies an dem mit der Kronzeugenregelung unauflösbar verbundenen Gerechtigkeitsdefizit. Entscheidend für den Umfang der Strafmilderung ist das „Gewicht der Aufklärungshilfe“. Begünstigt werden diejenigen, die besonders intensiv mit strafbaren Aktivitäten sowie den damit verbundenen Strukturen verbunden sind und dadurch ein umfangreiches Wissen über andere Straftaten mit den daran Beteiligten erlangt haben. Sie können die meisten Informationen und entsprechend umfangreiche Aufklärungshilfe anbieten, deren Gewicht zu einer deutlichen Strafmilderung und sogar zu vollständiger Straffreiheit führen kann. Andere hingegen, die Abstand von kriminellen Strukturen gehalten haben oder deren Rolle nur untergeordnet war, verfügen nicht über ausreichende Informationen, die sie als Gegenleistung für einen Strafnachlass anbieten könnten. Für sie kommt eine Strafmilderung aufgrund der Kronzeugenregelung nicht in Betracht.

Aushöhlung des Schuld­prin­zips

Betroffen ist damit ein zentraler rechtsstaatlicher Grundsatz: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“ (§ 46 Absatz 1 StGB). Dieses Schuldprinzip hat seine Grundlage in dem Gebot der Achtung der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 GG), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip. Die Strafe darf sich von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich nicht lösen. Sie ist kein Zwangsmittel zur Gefahrenabwehr, Aufrechterhaltung einer effektiven Strafrechtspflege oder Durchsetzung anderer staatlicher Ziele, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen mit der angeklagten Tat. Aus dem Schuldprinzip folgt auch das Ziel des Strafverfahrens. Es dient ausschließlich der Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage für ein gerechtes Urteil in Bezug auf die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten, nicht der Ermittlung anderer Straftaten von anderen Verdächtigen. Dieses Prinzip wird mit der neuen großen Kronzeugenreglung ausgehöhlt. Eingeführt ist ein neuer schuldunabhängiger Strafzumessungsgrund: die Kooperationsbereitschaft mit den Ermittlungsbehörden. Die normalen gesetzlichen Strafrahmen werden dadurch zu Zwangsmitteln in den Händen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Weil nur die frühzeitige „Aufklärungs- und Präventionshilfe“ vor der Hauptverhandlung zählt, sind es Polizei und Staatsanwaltschaft, die dem Unentschlossenen mit der vollen Härte des ungemilderten Normalstrafrahmens drohen können. Wer nicht kooperiert, wird – bei gleicher Schuld – härter bestraft als der Kronzeuge. Mit der neuen Strafzumessungsnorm wird auch die Aufgabe des Ermittlungsverfahrens erweitert. Es ist nicht mehr beschränkt auf die Aufklärung der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, sondern dient auch der Abschöpfung seines Wissens für neue Ermittlungsverfahren. Selbstverständlich kann auch ohne die Kronzeugenregelung das Verhalten nach einer Straftat, also auch die Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden, in die Strafzumessung einbezogen werden und zu einer geringeren Strafe führen. Wenn durch die Aufklärungshilfe weitere Schäden verhindert oder die Folgen einer Straftat verringert werden können, musste dies schon bislang gemäß § 46 StGB strafmildernd berücksichtigt werden, weil es tat- oder täterbezogen die Schuld mindert. Die große Kronzeugenregelung setzt einen solchen Zusammenhang aber nicht mehr voraus, sie verfolgt andere Ziele. Der ergiebige Informant erhält das Zuckerbrot der Strafrahmenmilderung, der Schweigende oder Unwissende die Peitsche des Normalstrafrahmens. Auf der Strecke bleibt das Schuldprinzip – Ausdruck der Achtung der Menschenwürde, der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Rechtsstaatsprinzips.

Literatur

Stefan König, Wieder da: Die „große“ Kronzeugenregelung, Neue Juristische Wochenschrift 2009, S. 2481 ff.

Christoph Frank, Andrea Titz, Die Kronzeugenregelung zwischen Legalitätsprinzip und Rechtsstaatlichkeit, Zeitschrift für Rechtspolitik 2009, S. 137 ff.

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