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"Eine Mischung aus medizi­ni­scher Wichtig­tu­erei, Sturheit und Hexenjagd“ - Staatliche Kindes­wohl­ge­fähr­dung

Grundrechte-Report 2010, Seite 101

Spektakuläre Fälle, in denen eine Kindeswohlgefährdung von Behörden unentdeckt blieb, gingen mehrfach durch die Presse.  Die Frage, ob Verhalten von Behörden und Gerichten  selbst zu einer Kindeswohlgefährdung führen kann, wirft ein Fall aus Bayern auf, der jetzt das Bundesverfassungsgericht beschäftigte.

So fing es an: Am 3.8.2004 wird der damals 9 jährige A.H. durch 12 Personen – Polizeibeamte und Jugendamtsmitarbeiter aus der Obhut seiner Mutter und ihrer Familie genommen. Als das Kind nicht gleich freiwillig mitkommt, wird gedroht, Spürhunde zu holen. Dem Verfasser dieses Artikels ist kein Fall bekannt – selbst bei konkreten und realistischen Misshandlungsvorwürfen – in dem bei einer „Inobhutnahme“ in einer Weise vorgegangen wurde, die eher einem Hollywood-Action-Film oder einem „Anti-Terror“-Einsatz entspricht. Grundlage war  ein Beschluss des Amtsgerichts Bamberg vom Vortag, in dem der Mutter Petra Hellerohne vorherige Anhörung  das Personensorgerecht vorläufig entzogen und die Herausgabe des Kindes an das zum Pfleger bestellte  Jugendamt angeordnet worden war. Dies allein ist  bereits als eine Verweigerung rechtlichen Gehörs einzustufen. Anhaltspunkte, die es rechtfertigten, selbstverständliche und grundlegende Verfahrensgarantien zu verkürzen, sind nicht ersichtlich. Es wurde dem Kind zu diesem Zeitpunkt auch kein Verfahrenspfleger bestellt, wie es das Gesetz in derartigen Fällen erfordert – sondern erst 10 Tage später, als längst unverrückbare Fakten geschaffen waren. 

Der Junge wurde zunächst in eine Kinderklinik gebracht und dann 3 Monate in einer kinderpsychiatrischen Station behandelt, ohne dass je erkennbar wurde, dass es zu dieser Zeit eine Indikation für eine derartige Behandlung gab. Erst 6 Wochen nach der Kindeswegnahme – am 17.9.2004 – findet eine gerichtliche Anhörung statt – unerklärlich nicht mehr rechtsstaatsgemäß. Das Kind selbst wurde dann  erst über ein Jahr nach seiner Herausnahme aus seiner Familie am 15.11.2005 persönlich angehört – ein eindeutiger Verstoß gegen  Artikel 103 GG.

Behörden stacheln sich gegenseitig an

Was war zuvor geschehen?  Sowohl bei der Mutter wie bei dem Kind war eine Borreliose (eine Entzündung   bedingt durch Zeckenbisse) diagnostiziert worden. Dies ist durch ärztliche Atteste nachgewiesen. Diagnostik und Therapie dieser Erkrankung sind medizinisch umstritten. Der Mutter, Frau Heller, war eine Antibiose empfohlen worden, die schließlich auch ihrem Sohn verschrieben wurde. Diese Therapieform ist nicht nur kostenaufwendig, sondern auch in der Ärzteschaft umstritten. Der Mutter wurde gerüchteweise wahrheitswidrig unterstellt, dass sie an Wochenenden bei Notärzten  wahllos Medikamentengaben einfordere. Wegen krankheitsbedingter Probleme in der Schule, die einseitig der Mutter angelastet werden, schaltete die Schulverwaltung   das Gesundheitsamt ein – ein ungewöhnlicher Vorgang. Der Leiter des örtlichen Gesundheitsamts kommt in einem „Gutachten“ – ohne die Mutter exploriert oder den Sohn je gesehen zu haben, zu dem Schluss, bei der Mutter läge ein sogenanntes „Münchausen-by-proxy-Syndrom“ vor – eine in der Psychiatrie hoch umstrittene Diagnose, die sich später als nicht haltbar erwiesen hat.

Die Mutter wurde gleichzeitig mit der Herausnahme des Kindes  durch einen Beschluss des Vormundschaftsgerichts zur zwangsweisen Untersuchung in der Psychiatrie untergebracht und 2 Tage später entlassen, weil festgestellt wird, dass sie sich ihre Erkrankung nicht wahnhaft eingebildet hat. Ein Betreuungsverfahren wegen angeblicher psychischer Erkrankungen schwebt noch, obwohl   der Schweizer Psychiater und Gerichtsgutachter Dr. Mario Gmür in einem ausführlichen Gutachten  deren Vorliegen verneint hat. Er spricht in diesem Fall von  einer „Mischung aus medizinischer Wichtigtuerei, Sturheit und Hexenjagd“.

Die  Borreliose bei dem Kind ist belegt, aber der Mutter wird der Vorwurf gemacht, ihr Kind durch eine – nach Meinung eines Gutachters unnötige – Antibiotika-Therapie  die von Schulmedizinern verordnet worden war, „misshandelt“ zu haben. Sie  wird so für einen Medizinerstreit haftbar gemacht, ein ungeheuerlicher Vorgang. Wer ärztlichem Rat folgt, gefährdet sein Kind? Der Junge kam nach der Entlassung aus der Kinderpsychiatrie 2004 in eine Pflegefamilie und 2006 in eine Einrichtung. Die gesamte Familie wurde von dem Jungen isoliert, d.h. Kontakt wird systematisch unterbunden. Selbst Briefe werden zensiert. Mit seiner Mutter telefoniert er einmal pro Woche, bevor der Fall durch Presse und Öffentlichkeit bekannt wurde, waren diese Telefonate auf  20 Minuten beschränkt, sie wurden kontrolliert und mitgehört. Seine Großtante sieht er alle 4 Wochen, seien Großmutter nur mit einem Betreuer. Und auch diese spärlichen Kontakte waren und sind nur möglich seit durch intensive  Bemühungen der Familie eine öffentliche Aufmerksamkeit entstanden ist.

Am 29.Mai 2006 wurde dann  der Mutter nicht mehr nur vorläufig das Sorgerecht entzogen. Trotz der Faktenlage wurde in dem entsprechenden Beschluss  immer noch eine Gefährdung des Kindes im Zeitpunkt der Inobhutnahme angenommen. Aussagen von Medizinern wurden einseitig zu Lasten der Mutter interpretiert, ohne dass die unterschiedlichen Positionen der medizinischen Experten berücksichtigt worden sind .  Die Prognose für die Zukunft wurde  auf ein Gutachten gestützt, das andere Einschätzungen behandelnder Ärzte erklärtermaßen ohne sachliche Begründung ignoriert hat. Der Mutter wurde weiterhin  unterstellt, sie wolle ihr gesundes Kind  weiterhin gegen eine angeblich nicht vorhandene Krankheit behandeln.  Der im Beschluss behauptete angebliche Wille des Kindes, nicht zu seiner Mutter zurückzukehren, wird von den Angehörigen angezweifelt. Die Familie geht von einer Manipulation des Kindes aus. Es werden, ohne dass dies aus der Begründung nachvollziehbar wird, Traumatisierungen des Kindes behauptet. Auf die Traumatisierungen des Kindes durch das Verhalten staatlicher Stellen wird nicht eingegangen.

Auf umfangreichen Sachvortrag und zahlreiche Beweisangebote seitens des Prozessvertreters der Mutter wurde ebenfalls nicht eingegangen.  Mit Beschluss vom 6.7.2009 wies das OLG Bamberg – unter Bezugnahme auf die anfechtbare Bewertung der Vergangenheit – die Beschwerde zurück und legitimierte somit das Vorgehen gegen die Familie. Hiergegen hat der Anwalt der Mutter Verfassungsbeschwerde erhoben. Die Verfassungsbeschwerde unverständlicherweise wurde nicht zur Entscheidung angenommen, der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist geplant.

Wo bleibt der Rechts­s­taat?

Ohne sich auf medizinische Streitfragen und Detailbewertungen des Einzelfalls einzulassen, bleiben kritikwürdige Gesichtspunkte festzustellen:

Eine überlange Verfahrensdauer stellt bereits eine Rechtsverletzung dar. Dies ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Hier ist nicht erkennbar, warum es bis zur zweitinstanzlichen Entscheidung über fünf Jahre brauchte, ohne dass umfassend weitere Sachaufklärung betrieben wurde.

Es ist ferner nicht erkennbar, dass hier durchweg Eilentscheidungen ohne Gewährung rechtlichen Gehörs notwendig waren. Die nachträgliche Gewährung von Verfahrensrechten verlief schleppend. Mildere Mittel wären möglich gewesen, sie sind formal, aber nicht sachlich-ernsthaft geprüft worden. Die Trennung von der Mutter auf Dauer ist selbst dann, wenn man – was sachlich nicht ersichtlich ist, ein Fehlverhalten für möglich hält, völlig unverhältnismäßig.  Es hätten mildere Mittel geprüft werden müssen, dies ist nicht einmal im Ansatz erwogen worden, z.B. eine Auflage einer objektiven medizinischen Begutachtung. Der Vorrang der Prüfung einer Pflegerbestellung auf Familienangehörige ist missachtet worden. Die Rückführung des Kindes in die Familie  ist – grob rechtswidrig – nie ernsthaft erwogen worden. Der Rechtsstaat hat hier seine Schutzfunktion aufgegeben.

Literatur

Süddeutsche Zeitung vom 19.4.2009 „Chronik eines Albtraums“
http://www.petra-heller.com/

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