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Sagen Sie jetzt nichts! - Über das Brief-, Post- und Fernmel­de­ge­heimnis und den Einsatz staatlicher Verdacht­s­chöp­fungs­ge­hilfen

Grundrechte-Report 2010, Seite 128

Falls sich Wolf Wetzel im Februar des Jahres 1998 tatsächlich mit dem V-Mann 123 über sein Leben unterhalten hat, muss ihn der Teufel geritten haben. Ansonsten hätte er dem V-Mann 123 wohl kaum von seinen psychischen Problemen, von seinen Anschlagsplänen und -zielen berichtet und dabei Mitstreiter benannt. Niemand weiß, wer oder was Wetzel getrieben haben muss, als er dem V-Mann 123 beichtete, er sei Mitgründer einer hoch konspirativen Terrorgruppe namens „Autonome Rhein-Main-Koordination“ (ARMK) und sein Traumberuf sei Berufsrevolutionär.

Wer Herrn Wetzel kennen lernt, kann sich schlecht vorstellen, dass ein solches Gespräch je stattgefunden hat. Zwar macht Herr Wetzel keinen Hehl daraus, dem Staat kritisch gegenüberzustehen. Auch war er in den späten 80er und frühen 90er Jahren bei Aktionen gegen die Startbahn West und die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf dabei. Im Jahr 1996 wurde er gar im Frankfurter Szenetreff Café Exzess festgenommen, allerdings sofort wieder freigelassen, nachdem er sich als Journalist ausweisen konnte. Von einem laufenden oder gar abgeschlossenen Ermittlungsverfahren, von einem Strafverfahren oder gar Verurteilungen weiß er ebenso wenig wie von seiner Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung namens ARMK oder einer Lebensbeichte gegenüber einem Unbekannten.

Klage gegen Überwachung

Am 7. Dezember 2006 erhielt Herr Wetzel einen Brief vom Bundesamt für Verfassungsschutz. 1998, heißt es darin, sei er rund sechs Monate lang abgehört worden, auch seinen gesamten Briefverkehr habe man kontrolliert. Er sei verdächtigt worden, Mitglied der ARMK zu sein. Der Verdacht verdichtete sich jedoch nicht. Deswegen sei die Maßnahme abgebrochen worden.

Der beherzte Herr Wetzel engagierte einen Anwalt. Er begehrte Einsicht in die Verfassungsschutzakte und erhob Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Mit Erfolg: das Gericht entschied am 8. Juli 2009 (VG 1 A 10.08 ), dass die Post- und Fernmeldeüberwachung rechtswidrig war und die Behörde weder in ihrem Antrag noch in der mündlichen Anhörung ausreichend und plausibel dargelegt hat, auf welcher rechtlichen und tatsächlichen Grundlage die Maßnahme angeordnet wurde.

Die Akten und Schriftsätze in diesem Verfahren offenbaren einen bemerkenswerten Umgang staatlicher Stellen mit den Voraussetzungen für G10-Maßnahmen  ( Beschränkungen der „Unverletzlichkeit des Brief-, sowie des Post- und Fernmeldegeheimnis“ können nach dem so genannten G10 Gesetz erfolgen und werden hier als G10-Maßnahmen bezeichnet), also die Überwachung des Telefon- und Postverkehrs, mit Mutmaßungen und Fakten und mit der parlamentarischen Kontrolle geheimdienstlichen Handelns überhaupt.

Um die Überwachung Wetzels zu rechtfertigen, stützten sich die  Ermittler im Wesentlichen auf das Gespräch, das er mit dem V-Mann 123 geführt haben soll. Weil die Gefahr bestehe, dass der V-Mann keinen umfassenden Einblick in die einschlägigen Tätigkeiten des Verdächtigen ermögliche und „eine Aufklärung allein mit anderen nachrichtendienstlichen Mitteln nicht möglich sei und nur der gebündelte Einsatz aller in Betracht kommenden nachrichtendienstlichen Mittel Erfolg verspreche“, müsse auch die Post- und Telefonüberwachung erfolgen ( VG 1 A 10.08 S. 4 der schriftlichen Urteilsbegründung). Das Bundesministerium des Inneren (BMI) stützte hierauf seine Anordnung, die Parlamentarische Kommission des Deutschen Bundestages zur Überprüfung solcher Maßnahmen hielt die Überwachung für zulässig und notwendig.

Das BMI weigerte sich, weitere, insbesondere auch ungeschwärzte, Akten vorzulegen und den genauen Ort und die Zeit der Terror-Beichte preiszugeben. In der mündlichen Verhandlung zeigten sich die Verwaltungsrichter erstaunt über die angebliche Zutraulichkeit des Herrn Wetzel. Dem Gericht leuchtete nicht ein, dass der Verfassungsschutz einerseits Herrn Wetzel ein ausgekocht „konspiratives und vorsichtiges Verhalten“ attestierte, dieser andererseits einem ihm Unbekannten sein ganzes Leben und insbesondere seine Anschlagsbereitschaft aufgefächert haben soll. Das Gericht gelangte deshalb in der Konsequenz zu der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme und stützte sich in der Begründung maßgeblich auf die Subsidiarität der G10-Maßnahmen: Es sei wenig nachvollziehbar, wenn der Verfassungsschutz behaupte, die Aufklärung des Sachverhaltes sei ohne G10-Maßnahmen nicht möglich, wo er doch zugleich über so hervorragende Erkenntnisse aus der V-Mann Quelle verfüge.

Geheime Gründe für geheime Dienste

Wenig verwundert, dass das BMI, vertreten durch Herrn Prof. Dr. Wolff von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder Rechtsmittel einlegte. Es befremdet allerdings die vordemokratische Argumentation. Wolff verlangt, Geheimdienste außerhalb des üblichen gerichtlichen Überprüfungsmaßstabes zu stellen. Geheim arbeitende Behörden sollten auch der Geheimhaltung unterliegende Gründe haben können, um eine G10-Maßnahme zu beantragen; weiter gebe es gar keine Begründungspflicht der Anordnungsbehörde (hier des BMI); Gefahrenprognosen im Vorfeld von Straftaten seien üblicher- und notwendigerweise vage; Subsidiaritätsgesichtspunkte könnten sinnvoller Weise nur von demjenigen erwogen werden, der den Überwachungsantrag stelle; der Gesetzgeber habe die Anordnung bewusst einer obersten Bundesbehörde zugewiesen und ebenso bewusst davon abgesehen, eine schriftliche Begründung der Anordnung zu verlangen und schließlich sehe das Gesetz, wie auch im konkreten Fall befolgt, eine Kontrolle durch das Bundesinnenministerium und durch die G10-Kommission vor, die den fehlenden zeitnahen Rechtsschutz ausreichend ersetze.

Allerdings konstatiert das BMI in seinem Rechtsmittel auch, dass der Fall für die „Rechtmäßigkeitsbeurteilung einer Vielzahl von offenen und künftigen Rechtsstreitigkeiten von Bedeutung“ sei und noch „eine ganze Reihe von alten Telekommunikationsbeschränkungen“ existierten, „die den Betroffenen noch nicht bekannt gemacht wurden“ und bei denen die Behörde aufgrund der auch im hiesigen Verfahren vertretenen Rechtsauffassung gehandelt habe. Interessant wäre zu wissen, welche Zahlen hinter einer „ganzen Reihe von alten Telekommunikationsbeschränkungen“  auf derart vager Tatsachengrundlage stehen. Eine Entscheidung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts  (Das Verfahren ist der Einlegung der Zulassungsbeschwerde anhängig beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg – OVG 1 N 91.09) steht noch aus.

Die Rolle der G10-Kom­mis­sion

Nach der gegenwärtigen Gesetzeslage  soll der fehlende Rechtsschutz durch die parlamentarische Kontrolle kompensiert werden. Dass sie ausreichend funktioniert, muss bezweifelt werden. Herrn Wetzel wurde erst acht Jahre nach seiner Ausspähung hiervon überhaupt Mitteilung gemacht. Unklar ist, was das BMI davon abhielt, dem Betroffenen binnen 12 Monaten nach Abschluss der angeblich 1998 beendeten Maßnahme Mitteilung  (wie es § 12 Absatz 1 S. 2 G10 Gesetz vorsieht) zu machen; was die G10-Kommission des Bundestages dazu bewegt haben mag, die Zustimmung zur weiteren Zurückstellung der Mitteilung zu erteilen  (§ 12 Absatz 1 S. 3 G10 Gesetz: Erfolgt die nach Satz 2 zurückgestellte Mitteilung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Zurückstellung der Zustimmung der G10-Kommission.); ; nach welchem Maßstab die G10-Kommission die Verlängerungs- und Zurückstellungsanträge absegnete und welche Akten den Parlamentariern überhaupt vorgelegt wurden. Mit Blick auf die Ausführungen des BMI gegenüber dem Oberverwaltungsgericht ist schon angedeutet, dass die Kommission nicht umfassend unterrichtet wurde. Klar ist jedoch nicht erst seit dem Überwachungsfall Traube  , dass das BMI politische Entscheidungen trifft und dass der G10-Ausschuss selbst aus Mitgliedern der regierenden Parteien besteht. Dass er Grundrechtseingriffe auf derart dünner und offensichtlich konstruierter Beweislage durchwinkt, hält nicht nur der Anwalt von Herrn Wetzel, Thomas Kieseritzky, für bedenklich: „Dem Ausschuss kann man offenbar einiges zumuten, ohne dass kritisch nachgefragt wird.“ Das heißt nichts Gutes für die Vielzahl anderer Fälle. 

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