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Schäbiger Arbeitgeber Sozialstaat - Keine Renten­ver­si­che­rung für Gefangene

Grundrechte-Report 2010, Seite 165

„Gefangene erarbeiten einen Rekordgewinn“ betitelte der Iserlohner Kreisanzeiger am 4. Mai 2009 einen Artikel zur Gefangenenarbeit in NRW: In „den Werkstätten hinter Gittern“ erwirtschafteten die Häftlinge 2008 insgesamt 48,2 Millionen Euro. Damit werde der Landeshaushalt „nicht unerheblich entlastet“ – so NRW-Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter. Verschwiegen wird der weitgehende Ausschluss der Gefangenen aus dem Tariflohn-System und dem Sozialsystem.

Zu Beginn des Jahres 2009 schrieb ein Gefangener, der über 30 Jahre im Gefängnis gearbeitet hat, an das Komitee für Grundrechte und Demokratie – das sich u. a. für die Grundrechte von Gefangenen einsetzt -, was denn nun angesichts seiner bevorstehenden Entlassung mit seiner Rente sei. In den letzten drei Legislaturperioden wurden dem Petitionsausschuss des Bundestages 35 Petitionen zur Einbeziehung von Gefangenen in die Rentenversicherung vorgetragen. Hinzu kommen die Petitionen an die Landesparlamente. Organisationen, die in der Gefangenenhilfe tätig sind, haben immer wieder Lohnangleichungen und Einbeziehung in die Sozialversicherungssysteme gefordert. Die sozialen Grundrechte von Gefangenen werden verletzt, wenn sie auf der einen Seite zur Arbeit verpflichtet, aber andererseits mit Niedrigstlöhnen ohne Sozialversicherung abgespeist werden. Das Bundesverfassungsgericht hat das Resozialisierungsprinzip als staatliche Verpflichtung für den Strafvollzug festgeschrieben. Nach diesem Konzept soll mithilfe der Arbeit Gefangenen verdeutlicht werden, dass Arbeit ein konstruktiver Bestandteil eines Lebens in Freiheit sein könnte. Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen ist dies kaum möglich. Gefangene werden in der Regel als „Sozialfälle“ aus dem Gefängnis entlassen, oft hoch verschuldet und ohne soziale Perspektive. So wird Resozialisierung systematisch verfehlt und Rückfälligkeit staatlich befördert.

Seit 33 Jahren keine Umsetzung anerkannter Rechte

Das Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20 Absatz 1 GG und der Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 Absatz 1 GG in Zusammenhang mit dem Würdegebot aus Artikel 1 GG verpflichten den Staat bzw. die Länder als Arbeitgeber für Gefangene, diese auch gerecht zu entlohnen und in die staatlichen Sozialsysteme einzubeziehen. Dies war auch bereits bei der Mitte der 70er Jahre diskutierten Strafvollzugsreform geplant. Im Strafvollzugsgesetz von 1977 ist die Einbeziehung in die Rentenversicherung ausdrücklich vorgesehen. Die nicht ausformulierten §§ 190-193 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) aus dem Titel „Sozial- und Arbeitslosenversicherung“ sollten gemäß § 198 StVollzG durch ein Bundesgesetz in Kraft gesetzt werden. Doch das entsprechende Gesetz wurde nie erlassen. Verfassungsrechtlich hat sich der Gesetzgeber im Strafvollzugsgesetz hinsichtlich der Sozialversicherungen einer Selbstbindung unterworfen, die nur um den Preis der Verletzung des grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebotes dauerhaft ignoriert werden kann. Der nun 33 Jahre währende Skandal staatlicher Missachtung von sozialen Grundrechten für Gefangene muss beendet werden. Es ist geradezu zynisch, wenn die Bundesregierung nach Jahrzehnten fortgesetzter Untätigkeit auf eine diesbezügliche Anfrage im Dezember 2008 antwortet: „Die Bundesregierung hält die Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin für sinnvoll. Die aufgeschobene Inkraftsetzung der Regelungen im Strafvollzugsgesetz beruht im Wesentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundesländer“ (Bundestags-Drucksache 16/11362).

Resozi­a­li­sie­rung in Ungleich­heit und Ungerech­tig­keit?

Obwohl die (Zwangs-)Arbeit der Gefangenen als bedeutsamer Aspekt im Rahmen des Resozialisierungskonzeptes verstanden wird, wird sie ungerecht entlohnt und durch den Ausschluss aus der Renten- und Krankenversicherung sozial minderbewertet. 1998 musste bereits das Bundesverfassungsgericht bemüht werden, um die Gefangenenentlohnung als verfassungswidrig zu brandmarken und den Gesetzgeber zur Reform zu treiben. „Arbeit im Strafvollzug ist nur dann ein effektives Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet“, bemerkte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Gefangenenentlohnung. Die nach dem Urteil vorgenommene Lohnerhöhung fiel allerdings lächerlich beschränkt aus: Von fünf Prozent der „Bezugsgröße“ wurde die Entlohnung zum 1. Januar 2001 auf neun Prozent angehoben. 40% wurden seinerzeit als realistische Forderung in Fachkreisen diskutiert. „Bezugsgröße“ meint hier das durchschnittliche Arbeitsentgelt aller in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten.

Unabhängig von der prinzipiellen Diskussion um das Problem der Nutzung von Zwangsarbeit für die Disziplinierung, gehören die Themen „Gefangenenentlohnung“ und „vollständige Einbeziehung von Gefangenen in die Sozialversicherungssysteme“ erneut auf die politische Tagesordnung. Dabei ist eine erhebliche Erhöhung der Löhne und ein effektiver Prozentsatz der Bezugsgröße für die Rentenversicherung vorzusehen. Ebenfalls sind diejenigen in die Sozialversicherungssysteme einzubeziehen, die aufgrund begrenzter Beschäftigungsverhältnisse im Gefängnissystem gegen ihren Willen keiner Arbeit nachgehen können. Trotz Föderalismusreform ist zunächst der Bundesgesetzgeber gefordert, da er mit dem Sozialgesetzbuch festlegt, wer in den jeweiligen Sozialversicherungszweigen pflichtversichert ist. Ein vorab vermutetes Scheitern im Bundesrat darf kein Argument für die weitere Untätigkeit des verantwortlichen Gesetzgebers sein.

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