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Ständische Schule - Fortwäh­rende Ungleich­heit durch das gegliederte Schulsystem

Grundrechte-Report 2010, Seite 73

Mehr als 60 Jahre ist es inzwischen her, dass der Alliierte Kontrollrat die gegliederte deutsche Schule kritisierte und deren Überwindung forderte: „Der Aufbau des deutschen Schulsystems betont den Klassengeist. Schon im Alter von 10 Jahren sieht sich das Kind eingruppiert oder klassifiziert durch Faktoren, auf die es keinen Einfluss hat, wobei die Einstufung fast unvermeidlich seine Stellung für das ganze Leben bestimmt.“

Dieser Appell im Vorfeld der Ausarbeitung des Grundgesetzes verhallte jedoch ungehört. Unbeirrt hielten die (west)deutschen Bundesländer jahrzehntelang an der grundlegenden Schulstruktur fest: Auf eine vierjährige gemeinsame Grundschulzeit folgt die Aufteilung in das dreigliedrige Sekundarstufensystem – die Haupt- und Realschule sowie das Gymnasium. Und damit wird hierzulande sehr frühzeitig und nahezu endgültig festgelegt, welche Zukunftschancen sich einem Kind eröffnen.

Der PISA-Schock

Erst die wiederholten internationalen Vergleichsstudien sorgten für ein langsames Erwachen aus der bundesrepublikanischen Bildungsstarre. Denn die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler sind im internationalen Vergleich nicht nur lediglich mittelmäßig, sondern es zeigt sich zugleich eine überdurchschnittlich starke Kopplung zwischen sozialer Herkunft und schulischer Kompetenz.

Während die Verteidiger des dreigliedrigen Schulsystems nicht müde werden zu behaupten, nur dieses werde den unterschiedlichen Begabungen und Möglichkeiten der Kinder gerecht, erweist jede neue Bildungsstudie, dass das deutsche Bildungssystem soziale Ungleichheit reproduziert: Regelmäßig entscheidet nicht nur die individuelle Leistung darüber, welche weiterführende Empfehlung die Grundschule nach der (zumeist) vierten Klasse ausspricht, sondern diese hängt maßgeblich vom sozialen Status der Eltern ab. Bei gleicher intellektueller Leistung fällt die Chance für ein Kind aus bildungsfernem Elternhaus, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, bis zu dreimal geringer aus als für ein Kind aus der bildungsnahen Mittelschicht. Zugleich unterscheidet sich auch das angestrebte Bildungsziel der Kinder selber je nach sozialer Herkunft: Während Kinder aus bildungsfernen Schichten selbst bei intellektuellem Vermögen oft nicht davon ausgehen, einmal das Abitur zu machen, zweifeln Kinder gutsituierter akademischer Eltern selbst bei mangelnder Leistungsfähigkeit nicht daran, dass sie es ihren Eltern einmal gleichtun werden. Die besten Hauptschüler weisen bessere Leistungen auf als sogar der Durchschnitt der Gymnasiasten – und dennoch werden die meisten von jenen nie das Abitur erreichen. Denn ein Wechsel ans Gymnasium kommt so gut wie nicht vor, obwohl zuletzt noch einmal der Nationale Bildungsbericht 2008 feststellte, dass es eine große Zahl gymnasial geeigneter Schüler gebe, die nicht das Gymnasium besuchen.

Doch auch wenn jede neue Schulstudie der Wahrung des Artikels 3 GG – Niemand darf wegen seiner Herkunft benachteiligt werden – Hohn spricht, lassen länderübergreifende Schulreformen noch immer auf sich warten. Und auch dort, wo am mehrgliedrigen System gerüttelt wird, sind die Beharrungskräfte der Gewinner des hiesigen Systems groß: Vornehmlich gutsituierte, akademisch gebildete Eltern kämpfen im Verbund mit dem Philologenverband der deutschen Gymnasiallehrer für eine Fortbestand des „guten, alten“ Gymnasiums und erreichen damit allerorts eine Sonderstellung desselben.

Das klassische dreigliedrige System ist zwar vielerorts auf dem Rückzug, doch beharrlich verteidigen es nach wie vor Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und NRW und versuchen, wider jede Vernunft, die Hauptschule als Schulform zu erhalten. Die meisten östlichen Bundesländern haben den neuesten Trend nach einem zweigliedrigen Schulsystem hingegen schon vor Jahren vorweggenommen: Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben nach 1990 ein zweigliedriges Modell eingeführt, in dem bis auf Brandenburg (dort nach der sechsten) nach der vierten Klasse in Gymnasium und Mittel-, Ober-, Sekundar- oder Regelschule getrennt wird. Mecklenburg-Vorpommern hat vor einigen Jahren die zweigliedrige Schule eingeführt. Mit Schleswig-Holstein, Bremen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland trennen vier westdeutsche Länder nunmehr nach der vierten Klasse nur noch in zwei Schularten, wobei sich in Rheinland-Pfalz der gemeinsame Unterricht in der Realschule-plus nur auf die 6. und 7. Klasse bezieht.

Nur drei Bundesländer, nämlich Berlin und Brandenburg sowie alsbald Hamburg, geben den Kindern mehr Zeit zum gemeinsamen Lernen und trennen nicht bereits im Alter von zehn Jahren in Bildungsgewinner und Bildungsverlierer.

Wider­strei­tende Kompromisse

Berlin, Hamburg und auch Bremen werden ab dem Schuljahr 2010/2011 an allen Schularten alle Bildungsabschlüsse bis zum Abitur anbieten. Doch so sehr man dies bereits als Fortschritt begrüßen mag, zeigt ein genauerer Blick auf die anstehenden Umbauten in Berlin und Hamburg, dass ein Schritt in die richtige Richtung noch lange nicht ausreicht – und dass er leider oft genug auch mit widerstreitenden Kompromissen einhergeht.

So konnten die Hamburger Grünen der CDU zwar die gemeinsame Grundschule (in Hamburg Primarschulen genannt) bis Klasse sechs abringen. Daran schließen sich Gymnasien oder sogenannte Stadtteilschulen, die Haupt-, Real- und Gesamtschulen vereinen, ab Klasse sieben an. Schulen, die bereits jetzt und oft preisgekrönt als Gemeinschaftsschulen von Klasse eins bis zehn bzw. bis zum Abitur arbeiten, müssen sich jedoch entscheiden, ob sie Primar- oder Stadtteilschulen werden wollen und können nicht in bewährter Form weiterbestehen. Zugleich ist zu befürchten, dass die vorgesehene enge Kopplung zwischen den Primarschulen und einer weiterführenden Schule die Gefahr birgt, dass bereits mit der Wahl der Grundschule eine Vorauswahl „Gymnasium oder Stadtteilschule“ getroffen werden wird. Die Folge wäre eine noch stärkere soziale Ausdifferenzierung schon zwischen den Grundschulen.

Ähnlich stellt sich die Situation in Berlin dar. Zwar gibt es hier die – bislang außerordentlich erfolgreich laufenden – als Pilotprojekte geführten Gemeinschaftsschulen, in denen Kinder von der ersten bis zur zehnten, wenn gewünscht auch bis zum Abitur, gemeinsam lernen. Doch konnte sich die rot-rote Koalition nicht dazu durchringen, mit ihrer Schulreform konsequent dem bewährten skandinavischem Vorbild zu folgen und auf eine Aufteilung vor dem Abiturzweig in der elften Klasse ganz zu verzichten. So wird es auch in Berlin bei einer Zweiteilung in Gymnasiasten (spätestens) nach der sechsten Klasse und Schülerinnen und Schüler der „Restschule“, die integrierte Sekundarschule heißen wird, bleiben. Das Signal an die Kinder und Jugendlichen ist einerseits klar: Keiner wird von vornherein aufgegeben, keiner soll mehr nach unten durchgereicht werden können. Doch nur wenn neben die Strukturreform auch eine Reform der Bildungsvermittlung und eine massive Aufstockung der Bildungsausgaben treten, können die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Sekundarschulen diese Herausforderung meistern können, solange zugleich die bestehenden Gymnasien das bildungsbürgerliche Klientel absorbieren.

Das Fazit bleibt ernüchternd: An der Reproduktion der Elite aus sich selbst und der Abschottung nach „unten“ rütteln auch die jüngsten Schulreformen der Länder nicht grundsätzlich. Will die Bundesrepublik ihrem Grundgesetz gerecht werden und allen Kindern die Möglichkeit zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit geben, muss sie endlich die frühe Selektion in Bildungsgewinner und Bildungsverlierer gänzlich aufgeben und für ein längeres, gemeinsames Lernen aller Schülerinnen und Schüler sorgen.

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