Vertrauen statt Kontrolle - Geheimdienste erhalten Verfassungsrang
Grundrechte-Report 2010, Seite 177
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland waren Geheimdienste (Amtsdeutsch: Nachrichtendienste) bisher nicht ausdrücklich genannt. Das hat sich am 23. Juli 2009 mit dem Inkrafttreten eines verfassungsergänzenden Gesetzes geändert: Eingefügt wurde ein neuer Artikel 45 d. Zugleich mit den nachrichtendienstlichen Tätigkeiten der Bundesregierung wurde deren „parlamentarische Kontrolle“ ins Grundgesetz aufgenommen. Wie die Kontrolle vor sich gehen soll, steht im „Gesetz zur Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes“, das am 4. August 2009 in Kraft trat. Beide Gesetze, sagte Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion, die sie gemeinsam mit SPD und FDP eingebracht hatte, zielten „auf die Stärkung der Nachrichtendienste, aber auch auf die Stärkung des Parlamentes bei der Kontrolle der Nachrichtendienste ab“.
Wird das Schweigen der Regierung nun gebrochen?
Bürgerrechtler haben seit eh und je argumentiert, Geheimdienste seien mit dem Demokratie-Prinzip unvereinbar und nicht wirklich kontrollierbar. Nach vielen Geheimdienstskandalen haben sie immer wieder Anlass gesehen, die Abschaffung dieser „Dienste“ zu fordern. Viele Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass kein Grund besteht, diese Haltung zu ändern, im Gegenteil: In zahlreichen Fällen, über die der Grundrechte-Report berichtete, bestätigte sich die Gefährlichkeit dieser Schatten-Einrichtungen für die Grundrechte. Daher kann es aus bürgerrechtlicher Sicht nicht als Fortschritt erscheinen, dass die geheimdienstlichen Tätigkeiten des Bundes Verfassungsrang erhalten haben.
Röttgen als Berichterstatter für das Gesetzgebungsverfahren sagte vor dem Bundestag, die parlamentarische Kontrolle sei eine Bedingung für „Vertrauen und Akzeptanz von Nachrichtendiensten“. Sein Fraktionskollege Hans-Peter Uhl ergänzte: „Die Bevölkerung muss darauf vertrauen können, dass wir im Gremium die Dienste kontrollieren. Wir, die neun Mitglieder dieses Gremiums, sind gleichsam die legitimatorische Verknüpfung zwischen Bevölkerung und Nachrichtendienst“. In den Plenardebatten, die der Verabschiedung beider Gesetze vorausgingen, sprachen namentlich Vertreter der CDU/CSU und der SPD im Zusammenhang mit der Kontrolle der Dienste immer wieder von Vertrauen. SPD-Sprecher Thomas Oppermann, der das Parlamentarische Gremium zur Kontrolle der Nachrichtendienste (PKG) als „Partner“ der Dienste bezeichnete, warnte nachdrücklich davor, „dass jeder Fehler der Nachrichtendienste hemmungslos skandalisiert wird“. Sein Fraktionskollege Michael Hartmann beteuerte sogar, an die Opposition gewandt: „Es ist nichts dran an all den Skandalen, die Sie permanent unterstellen“, und er wünschte weniger Angst vor Worten wie „Staatswohl“ und „Staatsräson“.
FDP-Sprecher Max Stadler sprach dagegen von „gesundem Misstrauen“ und forderte stärkere Kontrollrechte des Parlaments mit der Begründung: „Wenn man den Nachrichtendiensten mehr Befugnisse gibt – das ist in den letzten Jahren wiederholt geschehen – dann muss logischerweise auch die Kontrolle über die Nachrichtendienste verbessert werden.“ Stadler erläuterte: „Nach den Anschlägen in den USA am 11. September 2001 haben die Nachrichtendienste auch in der Bundesrepublik Deutschland so viele Befugnisse erhalten wie nie zuvor.“
Ein parlamentarisches Kontrollgremium des Bundestages hatte in all den Jahren seit Beginn des US-geführten „Krieges gegen den Terror“ bereits bestanden. Aber über Fälle wie denen des nach Guantánamo verschleppten Bremers Kurnaz, der Aktivitäten des Bundesnachrichtendienstes (BND) im Jahre 2003 in der irakischen Hauptstadt Bagdad oder der Überwachung von Telefonaten der Spiegel-Redakteurin Susanne Koelbl mit einem afghanischen Minister informierte nicht die Bundesregierung das Gremium, sondern Medien deckten sie auf. Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) berichtete, als Mitglied des Gremiums werde man oft von Journalisten auf Skandale beim BND oder beim Verfassungsschutz angesprochen, von denen man bis dahin nichts gewusst habe, aber auch wenn man sich dann im PKG damit beschäftigt habe, stelle man fest, dass offenbar die Lektüre des „Spiegel“ oder mancher Tageszeitungen „mehr an Informationen für die Kontrolltätigkeit bringt als die mehr oder weniger langen anstrengenden Sitzungen des Parlamentarischen Kontrollgremiums“. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) drückte es noch deutlicher aus: „Wir fühlen uns durch das, was wir in den Zeitungen lesen, und dadurch, dass wir vieles nicht erfahren haben, manchmal regelrecht gedemütigt.“
Verdopplung der Geheimniskrämerei
Die hauptsächliche Kalamität wurde auch von CDU/CSU-Sprechern unumwunden benannt. Röttgen: „Der Anspruch der Demokratie, öffentliche Kontrolle auszuüben, verträgt sich nicht mit der Aufgabe von Nachrichtendiensten.“ Uhl: Man müsse „sich den Spielregeln der Dienste, die kontrolliert werden, unterwerfen. Das heißt, das Gremium muss gerade so geheim arbeiten wie die Dienste selbst.“
Wenn dem PKG wie in der Vergangenheit auch künftig neun zum Stillschweigen verpflichtete Abgeordnete angehören (die Zahl steht nicht im Gesetz), dann sind mehr als 600 Abgeordnete von der parlamentarischen Kontrolle ausgeschlossen. Das PKG wird nicht wie die Bundestagsausschüsse von den Fraktionen je nach ihrer Stärke besetzt, sondern das Plenum soll jeweils zu Beginn der Legislaturperiode über die Zusammensetzung entscheiden. Das könnte zur Folge haben, dass die Regierungsparteien mit ihrer Mehrheit missliebige Oppositionsabgeordnete draußen halten. Wolfgang Neskovic (Die Linke), der sich im Gesetzgebungsverfahren vergeblich für Minderheitenrechte eingesetzt und auf das naturgemäß im Vergleich zu den Regierungsparteien weit größere Interesse der Opposition an Kontrolle des Regierungshandelns hingewiesen hatte, beklagte am Ende: „Sämtliche Kontrollbefugnisse des Gremiums sind von Mehrheitsbeschlüssen abhängig. Damit sind es allein die Mitglieder der Regierungsfraktionen, die mit einfacher oder sogar Zweidrittelmehrheit über Folgendes entscheiden: Besuchsrechte bei den Diensten, Akteneinsichtsrechte, Anhörungen von Mitarbeitern der Geheimdienste, die Inanspruchnahme von Amtshilfe, die Einschaltung eines Sachverständigen, die Anwesenheit von Fraktionsmitarbeitern im Gremium und öffentliche Kritik an der Regierung. (…) Die Regierungsfraktionen haben es also in der Hand, ob die Regierung in Bedrängnis gerät oder nicht. Dazu werden die Regierungsfraktionen naturgemäß wenig Neigung verspüren.“
Demokratisches Geheimwissen?
Die Regierung soll nach dem Gesetz wahrheitsgemäße und vollständige Angaben machen. Dass sie das soll, versteht sich eigentlich von selbst. Nicht selbstverständlich ist erfahrungsgemäß, dass sie es wirklich tut. Sanktionsmöglichkeiten fehlen. Von dem im Gesetz vorgesehenen Recht, die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht zu verklagen, wird das PKG schwerlich jemals Gebrauch machen, weil dafür eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist; mehrere Vertreter der Regierungsparteien müssten also zum Verklagen der Regierung bereit sein.
Das Gesetz erlaubt der Regierung, dem Gremium Informationen vorzuenthalten, die aus der Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten stammen. Uhl: „(…) mit den amerikanischen, französischen, englischen und anderen Diensten (…) muss ein vertrauensvoller Austausch von Informationen möglich sein. Dieses Vertrauen müssen wir mittragen und dürfen es keineswegs stören.“ Angesichts der immer engeren internationalen Zusammenarbeit im Zeichen des „Kriegs gegen den Terror“ ist das ein sehr weitgehender Verzicht.
Der Gesetzgeber begnügte sich auch damit, über abgeschlossene Verfahren informiert zu werden, und überließ es dem Ermessen der Regierung, ob sie über laufende Verfahren Angaben macht. Der Regierung wird also ein Recht auf Geheimwissen zugestanden – dem Parlament als Ganzem, aber auch dem exklusiven Kontrollgremium gegenüber.
Fraglich ist auch der Nutzen der sogenannten Whistleblower-Regelung in dem neuen Gesetz. Dazu Thomas Oppermann (SPD): „Es wird ein Frühwarnsystem eingerichtet, durch das Mitarbeiter (der Geheimdienste; E. Sp.) Missstände künftig direkt dem Gremium vortragen können. Das ist bisher nur über den Dienstweg möglich und führt dazu, dass Mitarbeiter, die etwas mitzuteilen haben, entweder anonym kommunizieren oder sich direkt an die Medien wenden. Beides ist nicht gut.“ Aber es ist vermutlich effizienter.
In derselben Plenarsitzung, in der die 1. Lesung der beiden Gesetze stattfand, beschloss der Bundestag, den Bundesnachrichtendienst mit zusätzlichen Überwachungsbefugnissen auszustatten. Und am Tag der 2. und 3. Lesung lehnte er einen Gesetzentwurf ab, mit dem der Anspruch der Regierung auf geheimdienstliche Überwachung von Abgeordneten eingeschränkt werden sollte.