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Weniger Rechts­schutz für Arme?

Grundrechte-Report 2010, Seite 160

Kein anderes Sozialleistungsgesetz beschäftigt die Gerichte in den letzten Jahren so intensiv wie das 2005 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II), umgangssprachlich »Hartz IV « genannt. Dafür gibt es vielfältige Gründe: Vor allem unausgewogene, auslegungsbedürftige gesetzliche Regelungen, gravierende Qualitätsdefizite in der Beratungs- und Entscheidungspraxis der Job-Center und das Angewiesensein auf das existenzsichernde Arbeitslosengeld II sind es, die jährlich mehr als 100.000 Leistungsberechtigte dazu zwingen, ihr Recht auf dem Rechtsweg einzufordern. Im Vergleich mit anderen sozial- und öffentlich-rechtlichen Rechtsstreitigkeiten ist die Quote der erfolgreichen Widersprüche, einstweiligen Rechtsschutzbegehren und Klagen hier überproportional hoch.

Gleicher Zugang zum Rechts­schutz

Die Rechtsmaterie des SGB II ist komplex, das Konfliktpotenzial zwischen Job-Centern und Leistungsberechtigten beträchtlich und der Bedarf an rechtlicher Beratung dementsprechend groß. Für die Bezieher existenzsichernder Sozialleistungen und Menschen mit geringem Einkommen hat der Anspruch auf anwaltliche Beratung nach dem Beratungshilfegesetz zentrale Türöffner-Funktion für ihren Zugang zum Rechtsschutz. Dem entgegen entwickelte sich bei den für Beratungshilfesachen zuständigen Amtsgerichten eine restriktive Entscheidungspraxis. Die Bewilligung von anwaltlicher Beratungshilfe in sozialrechtlichen Angelegenheiten wird mit dem Hinweis auf vorrangig in Anspruch zu nehmende anderweitige Beratungsmöglichkeiten, insbesondere solche bei den Sozialleistungsträgern gem. § 14 SGB I, abgelehnt.

Dieser Interpretation hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 11. Mai 2009 (Az.: 1 BvR 1517/08) eine deutliche Absage erteilt und damit die Rechtsposition einkommensarmer Rechtsuchender gestärkt. Ihr gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 GG verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit wird verletzt, wenn ihnen in einem Sozialrechtsverfahren zugemutet wird, für die Beratung über einen Widerspruch den Rat derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung sie im Widerspruchsverfahren angreifen wollen. Hier bestehe zumindest die abstrakte Gefahr von Interessenkonflikten und Fehlentscheidungen, so dass aus Sicht der Rechtsuchenden der behördliche Rat nicht mehr als Grundlage einer selbstständigen und unabhängigen Wahrnehmung ihrer Rechte geeignet sei. Das Bundesverfassungsgericht betont zudem ausdrücklich, dass der fiskalische Gesichtspunkt, Kosten bei der Beratungshilfe zu sparen, nicht als sachgerechter Rechtfertigungsgrund für eine Einschränkung der Rechtswahrnehmungsgleichheit angesehen werden kann.

Die Karlsruher Entscheidung ist nicht nur wegen ihrer Zurückweisung der vorherrschenden Entscheidungspraxis bei Beratungshilfesachen im SGB-II-Rechtskreis zu begrüßen. Diese Leitentscheidung kommt zudem auch deshalb zur rechten Zeit, weil sie einigen bedenklichen Tendenzen in der Gesetzgebung, die eine Einschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten für Sozialleistungsbezieher und Menschen mit geringem Einkommen zur Folge haben, deutliche Grenzen setzt.

Hinder­nis­lauf bei der Rechts­wahr­neh­mung

Der workfare-orientierte Umbau des Sozialstaats, die Verknüpfung staatlicher Transferleistungen mit einer Verpflichtung zur Arbeit, wird von einem schleichenden Abbau sozialer Bürgerrechte flankiert. Je problematischer sich für die Leistungsberechtigten die Realisierung ihrer materiellen Rechte gegenüber den Leistungsträgern gestaltet, desto wichtiger werden für sie Rechtsberatung und Rechtsschutz, gegebenenfalls auch durch die Gerichte. Hier zeigt sich allerdings, dass die sozialen Bürgerrechte zunehmend auch durch Einschränkungen beim Rechtsschutz gefährdet werden. Die teilweise heute bereits bestehenden, teilweise durch Bundesrats-Initiativen der Bundesländer zukünftig geplanten Restriktionen bei den Möglichkeiten der Rechtswahrnehmung und der Rechtsdurchsetzung wirken zwar auf unterschiedlichen Ebenen, greifen aber ineinander und ergänzen sich. Fünf Hürden erschweren den Rechtsschutz für Geringverdienende und Sozialleistungsempfänger:

  • Der Rechtsanspruch auf Beratung in sozialrechtlichen Angelegenheiten durch die zuständigen Leistungsträger gem. § 14 SGB I läuft in der Praxis der SGB-II-Träger weitgehend ins Leere. Die Gründe hierfür liegen nach verbreiteter Einschätzung und Erfahrung in Defiziten beim Zugang wie auch in deutlichen Qualitätsmängeln der Beratung.
  • Auf der Ebene von Widerspruch und Klage schließt § 39 SGB II seit 1. Januar 2009 – anders als in anderen Rechtsbereichen üblich – deren aufschiebende Wirkung für nahezu alle Entscheidungen der SGB-II-Träger aus. Mit der sofortigen Vollziehbarkeit ihrer Entscheidungen verschiebt sich die verfahrensrechtliche Interessenverteilung einseitig zugunsten der Grundsicherungsträger, die damit einen Freibrief für den ersten Anschein der Rechtmäßigkeit ihrer Bescheide erhalten.
  • Auf der Ebene des sozialgerichtlichen Verfahrens wurden 2008 die Mindeststreitwerte für Berufung und Beschwerde im einstweiligen Rechtsschutz erhöht (§§ 144 Abs. 1, 172 Abs. 3 SGG). Faktisch wirkt sich diese gesetzgeberische Maßnahme vor allem zu Lasten ärmerer Rechtsuchender aus, die häufig auch wegen geringer Summen um ihre existenzsichernden Rechte streiten müssen. Für sie gibt es jetzt im Regelfall nur noch eine gerichtliche Instanz. Der Bundesrat hat darüber hinaus die Einführung einer allgemeinen Verfahrensgebühr im bislang für    Leistungsberechtigte gerichtskostenfreien Sozialgerichtsverfahren vorgeschlagen, um »die Eingangs- und Kostenflut der sozialgerichtlichen Verfahren zu bewältigen«. Dieser Vorschlag ist bis jetzt vom Bundestag nicht aufgegriffen worden, es ist aber anzunehmen, dass er von der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird. Nach einer rechtssoziologischen Studie würde die Selektionswirkung einer solchen Gebühr gerade diejenigen Klägerschichten von Klagen abhalten, bei denen am wenigsten gewiss ist, dass ihre Klagen von Anfang an aussichtslos sind.
  • Des Weiteren will der Bundesrat mit einer Änderung des Beratungshilfegesetzes den Zugang zur Beratungshilfe   erschweren. Dies trifft in massiver Weise Rechtsuchende mit geringen Einkünften. Geplant ist u. a. eine schärfere Prüfung der »Mutwilligkeit« der Inanspruchnahme von Beratungshilfe, die Durchsetzung des Nachrangs der Beratungshilfe durch Verweis auf andere Beratungsmöglichkeiten (die aber keineswegs flächendeckend existieren), die Abschaffung des direkten Wegs zu anwaltlicher Beratungshilfe sowie die Erhöhung der Gebühr auf 30 Euro.
  • Auch die Inanspruchnahme der Prozesskostenhilfe soll nach den Plänen des Bundesrates u.a. durch eine schärfere Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Rechtsverfolgung und die Einführung einer nicht erstattungsfähigen Gebühr von 50 Euro eingeschränkt werden.

Bei einer ganzheitlichen Zusammenschau der geschilderten Restriktionen muss man zu dem Ergebnis kommen, dass sie sich in ihren tatsächlichen Auswirkungen als systematische Entrechtung von unterstützungsbedürftigen Bürgerinnen und Bürgern und als Aushöhlung ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtswahrnehmungsgleichheit darstellen.

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