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Arbeit­nehmer minderen Rechts

Grundrechte-Report 2011, Seiten 78 – 83

Die beiden großen christlichen Kirchen gehören mit mehr als einer Million Arbeitnehmern zu den größten Arbeitgebern des Landes. Das staatliche Arbeitsrecht gilt in ihrem Bereich aber nur eingeschränkt, ihre Beschäftigten haben geringere Rechte – ist das verfassungsrechtlich (noch) hinnehmbar?

Johannes Neumann hat sich im Grundrechte-Report 1999 unter dem Titel »Arbeitsrecht im kirchlichen Tendenzbetrieb« erstmals mit dem problematischen Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen befasst. Das Betriebsverfassungsgesetz findet gemäß § 118 Absatz 2 auf alle kirchlichen Einrichtungen keine Anwendung – nicht in Kindergärten, nicht in Altenheimen, nicht in Krankenhäusern, nicht in Sozialen Diensten. Kircheneigene Mitarbeitervertretungsgesetze schließen die Lücke nur teilweise.

Eheschlie­ßung führt zur Kündigung

Der Fall des Chefarztes Prof. Dr. B., über den das Landesarbeitsgericht
Düsseldorf am 1. Juli 2010 zu entscheiden hatte, illustrierte wiederum nachdrücklich, wie wenig sich die Kirchen (insbesondere die katholische) an das allgemeine Arbeitsrecht und auch an allgemeine Wertvorstellungen (auch unter Katholiken) gebunden fühlen: Der Chefarzt Dr. B. war von seiner Ehefrau im Jahre 2005 verlassen worden; im März 2008 wurde die Ehe geschieden. Im August 2008 heiratete er zum zweiten Mal vor dem Standesamt. Womit er wohl nicht gerechnet hatte: Dies führte zur Kündigung seines Arbeitsvertrages, denn er hatte das Pech, nicht etwa in einer kommunalen oder einer Universitätsklinik beschäftigt zu sein, sondern in einem Krankenhaus der Caritas. In deren Arbeitsverträgen wird auf die Grundordnung des kirchlichen Dienstes verwiesen, wonach etwa der Kirchenaustritt, die Beteiligung an einem Schwangerschaftsabbruch, das Leben in eheähnlicher Gemeinschaft oder die Wiederverheiratung nach Scheidung ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung sind. Dies gilt nicht etwa nur – was einsichtig wäre – für diejenigen, die die kirchlichen Glaubensüberzeugungen verkünden, sondern für jeden: Auch für die Küchenhilfe, auch für die Putzfrau!

Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hat noch einen draufgesetzt. Es verweigerte einer Küchenhilfe, die in einer kirchlichen Einrichtung beschäftigt gewesen und aus der Kirche ausgetreten war, das Arbeitslosengeld und bekräftigte die Verhängung einer dreimonatigen Sperrzeit durch die Agentur für Arbeit, weil die Frau mit der Kündigung habe rechnen müssen und deshalb an ihrer Arbeitslosigkeit selbst schuld sei! (vgl. Jürgen Kühling, Grundrechte-Report 2007, S. 82 ff.) Immerhin wurde dieses Urteil vom Bundessozialgericht aufgehoben.

Nun könnte man meinen, niemand müsse ja ein Arbeitsverhältnis mit einer kirchlichen Einrichtung eingehen. Weit gefehlt: In weiten Bereichen Deutschlands gibt es für Kindergärtnerinnen, Krankenschwestern, Altenpfleger oder Ärzte keine Alternative zu kirchlichen Arbeitgebern.

Der Trick: Abwägung der Interessen

Schon 1985 hat das Bundesverfassungsgericht (und ihm folgend in ständiger Rechtsprechung das Bundesarbeitsgericht) aus Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung, der nach Artikel 140 GG fortgilt, abgeleitet, dass diese dem staatlichen Arbeitsrecht widersprechenden Kündigungsgründe im Bereich der Kirchen gerechtfertigt und von den staatlichen Gerichten anzuerkennen seien, da nach dieser Vorschrift eben jede Religionsgesellschaft »ihre Angelegenheiten selbständig ordne und verwalte«. Soweit Instanzgerichte hiergegen »aufmuckten«, wurden sie vom Bundesarbeitsgericht wieder zurückgepfiffen. Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz fand als erstes den Ausweg: Nachdem es zunächst derartige Kündigungsgründe für verfassungs- und arbeitsrechtswidrig erklärt hatte (ein tief gläubiger katholischer Arbeitgeber würde sich auf solche Kündigungsgründe auch nicht berufen dürfen) und mit seiner Entscheidung vom Bundesarbeitsgericht aufgehoben worden war, fand es einen Trick: Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muss bei ausnahmslos jeder Kündigung, auch wenn an sich ein Kündigungsgrund vorliegt, eine Abwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers an der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses und dem Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand erfolgen. Als eine geschiedene Kindergärtnerin erneut heiratete, um ihren drei Kindern eine vollständige Familie zu ermöglichen und ihr der katholische Arbeitgeber daraufhin kündigte, erklärte das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, dass zwar mit Bezug auf die Grundordnung der
Katholischen Kirche »an sich« ein Kündigungsgrund vorliege, im konkreten Fall aber die Abwägung der Interessen zwischen der Selbstverwaltung der Kirche und dem Schutz von Ehe und Familie in Artikel 6 GG zugunsten des Artikel 6 ausfalle. Da es sich hierbei nicht um eine Rechtsfrage handelt, konnte das Bundesarbeitsgericht nicht mehr eingreifen.

»Wilde Ehe« wurde geduldet, die »Legali­sie­rung« dagegen nicht

Denselben Weg hat nunmehr das Landesarbeitsgericht Düsseldorf gewählt: Zwar habe Prof. Dr. B. mit seiner zweiten Eheschließung gegen die Grundordnung der Katholischen Kirche verstoßen und somit grundsätzlich einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung gesetzt. Im Rahmen der Interessenabwägung sei aber zu berücksichtigen, dass sein Arbeitgeber in vergleichbaren Fällen Arbeitsverhältnisse von Chefärzten, die eine zweite Ehe eingegangen waren, nicht zum Anlass einer Kündigung genommen habe, die Kündigung von Chefarzt Prof. Dr. B. also gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße. Und zum zweiten: Die vorangegangene »wilde Ehe« des Prof. Dr. B. habe die Kirche auch nicht zum Anlass für eine Kündigung genommen, dann könne sie bei »Legalisierung« dieses eheähnlichen Verhältnisses durch standesamtliche Eheschließung sich nicht anders verhalten. Dies wäre ein rechtlich nicht zu billigendes widersprüchliches Verhalten.

So suchen die Arbeitsgerichte, auf Umwegen die zutiefst ungerechten
Kündigungen kirchlicher Arbeitgeber im Einzelfall zu beseitigen. Aber ist es nicht Zeit, die Grundsatzfrage erneut aufzuwerfen?

Die allgemeinen Gesetze gelten auch für die Kirchen

Der weiterhin gültige Artikel 137 Absatz 3 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung spricht ja nicht nur davon, dass die »Religionsgesellschaften« ihre Angelegenheiten selbständig ordnen und verwalten, sondern er schränkt dies ein: Sie können und dürfen dies verfassungsrechtlich nur »innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes«. Das Arbeitsrecht besteht aus allgemein gültigen Gesetzen, die nicht speziell Religionsgemeinschaften betreffen, sondern für jedes Arbeitsverhältnis in der Bundesrepublik Deutschland Geltung beanspruchen. Es ist unverständlich, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner 25 Jahre alten Entscheidung dies außer Acht lassen konnte. Ihre Angelegenheiten selbständig regeln können die Kirchen eben nur innerhalb des vom Staat gesetzten Rechtsrahmens. Es ist an der Zeit, dies wieder deutlich zu machen und dem Bundesverfassungsgericht
Gelegenheit zu geben, seine verfehlte Entscheidung von 1985 zu revidieren. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht: Die Berliner Gespräche der Humanistischen Union zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften des Jahres 2002 waren unter Teilnahme einer Reihe von Richtern des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts dem kirchlichen Arbeitsrecht gewidmet. Hier haben die beiden Verfassungsrichterinnen Christine Hohmann-Dennhardt und Renate Jaeger darauf hingewiesen, dass der Staat, wenn er mit den staatlichen Arbeitsgerichten die kirchlichen
Kündigungsgründe akzeptiert, letztlich Grundrechtseinschränkungen
sanktioniert, die ihm selbst verboten sind. Wenn die Garantien der Verfassung zugunsten der Kirchen diese partiell von den Bindungen durch die Verfassung befreiten und es weitgehend den Kirchen überließen, ihre Belange selbst zu definieren, dann könne dies möglicherweise nur dort gelten, wo die Kirchen auch wirklich eigenverantwortlich und selbständig agieren – was aber nicht der Fall ist, wo kirchliche Einrichtungen im Rahmen der Mischfinanzierung weitgehend staatlich finanziert werden (Schulen, Kindergärten) oder sogar vollständig wie etwa bei Krankenhäusern. Da die Grundrechte den Staat verpflichten, die Freiheiten seiner Bürger zu schützen,
müsse dieses wohl durchschlagen gegen kirchliche Ansprüche und kirchliches Selbstverständnis, zumindest dort, wo letztlich der Staat mit öffentlichen Mitteln ganz oder überwiegend die Einrichtung finanziere. Und so hat auch bereits das Bundesverfassungsgericht den Freiraum der Kirchen beschränkt, wenn diese sich nicht auf ihre Selbstverwaltung beschränken, sondern staatliche Machtmittel – nämlich den Kirchensteuereinzug durch die Finanzämter – beanspruchen: Dann sind sie nicht frei (wie sie behauptet hatten), sondern an Artikel 3 GG gebunden (vgl. Till Müller-Heidelberg, Grundrechte-Report 2003, S. 190 ff.; Bundesverfassungsgericht vom 19. August 2002, Az. 2 BVR 453/01).

Literatur

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 1. 7. 2010, Az. 5 Sa 9996/09, Neue
Zeitschrift für Arbeitsrecht 2010

Hanau, Peter/Kühling, Jürgen (Hg.), Selbstbestimmung der Kirchenund
Bürgerrechte. Das kirchliche Arbeitsrecht und die Grundrechte
der Arbeitnehmer, Baden-Baden 2004

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