Publikationen / Grundrechte-Report / Grundrechte-Report 2011

Das Ende der Wehrpflicht

Grundrechte-Report 2011, Seiten 120 – 124

Eine Forderung der FDP ist 2010 überraschend von CDU und CSU übernommen worden. Die Wehrpflicht soll zusammen mit dem Zivildienst zum 1. Juli 2011 auslaufen. Zugleich soll die Bundeswehr von 240 000 auf 180 000 Soldatinnen und Soldaten verkleinert werden. Künftig wird die Bundeswehr nur noch aus Freiwilligen bestehen, aus Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit für eine bestimmte Anzahl von Jahren und Freiwilligen, die sich für 12 bis 23 Monate verpflichten. Wenn die Wehrpflichtigen wegfallen, soll der Anteil der Ausbildungseinheiten mit ihren relativ vielen Kadern so verringert werden, dass letztlich – auch
mit anderen organisatorischen Änderungen – mehr Leute für
Auslandseinsätze zur Verfügung stehen. Um aber die Wehrpflicht relativ schnell wieder einführen zu können, soll sie als Möglichkeit in Artikel 12a, 1 GG nicht gestrichen werden, und weiterhin sollen die Männer der jeweiligen Geburtsjahrgänge erfasst werden.

Der Grund für den Übergang auf eine Freiwilligenarmee sind die Auslandseinsätze. Sie werden vor allem mit Aufträgen der Vereinten Nationen (UN) begründet. Aber schon in Verteidigungsminister Volker Rühes Verteidigungspolitischen Richtlinien wurden Aufgaben genannt, die im Grundgesetz nicht vorgesehen sind: Sicherung des freien Welthandels, freie Kommunikation und freier Zugang zu wichtigen Ressourcen. Sie wurden von seinen Nachfolgern übernommen, auch im
Weißbuch 2006, und gelten für den amtierenden Verteidigungsminister
Karl-Theodor zu Guttenberg als Selbstverständlichkeit. Dass die Empörung über die Anwendung auf Afghanistan Bundespräsident Horst Köhler zum Rücktritt veranlasste, war überraschend, zeigte aber, wie unbekannt die kriegerische Praxis der Bundeswehr ist. Der Versuch des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, den Einsatz in Afghanistan noch als »Verteidigung« am Hindukusch darzustellen, war verfehlt. Das anfängliche Mitmachen beim Krieg gegen den Terror (OEF
= »Operation Enduring Freedom«) wurde verheimlicht, weil ein entsprechender Auftrag der UN fehlte und die OEF noch von den USA mit »Selbstverteidigung« begründet wurde, als sich der Sicherheitsrat längst mit der Situation in Afghanistan beschäftigte und damit die Selbstverteidigung eigentlich enden musste. Inzwischen gibt es aber die Legitimation des Sicherheitsrates sowohl für die NATO-Mission ISAF als auch für deren Zusammenarbeit mit OEF.

Das Grundgesetz und der Vertei­di­gungs­auf­trag

Die Abkehr von der Verteidigung (Artikel 73 Absatz 1 und Artikel 87a Absatz 1 GG) und den im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenen Aufgaben (Artikel 87a Absatz 2 GG) ist eine Folge von kleinen unauffälligen Schritten. Da wurde ein Lazarettschiff nach Vietnam entsandt, dann ein Lazarett nach Kambodscha, Logistik nach Somalia, ein Versorgungsschiff zu den Tsunamiopfern nach Indonesien, um nur die wichtigsten Etappen zu nennen, aber nur in Jugoslawien und in Afghanistan wurde ein kriegerischer Einsatz daraus. Vorher konnten die Einsätze, auch die Beobachtungsmissionen, als humanitäre Hilfeleistungen dargestellt werden. Das schien einleuchtend. Wer wollte nicht helfen, wenn Hilfe dringend gebraucht wird. Verschwiegen wird dabei, dass zivile Hilfe preiswerter und wirksamer geleistet werden kann. Aber die militärische Hilfe war ein Propagandamittel, um vom reinen Verteidigungsauftrag der Bundeswehr wegzukommen. Der entscheidende Erfolg in dieser Richtung war das Karlsruher Urteil zu Somalia, mit dem sogar NATO-Aktionen gebilligt wurden, weil sie durch
Artikel 24 Absatz 2 GG gedeckt seien. Nötig ist dann nur ein qualifizierter Bundestagsbeschluss.

Für Berlin waren die von Karlsruhe weit ausgedehnten Möglichkeiten des Grundgesetzes nicht ausreichend. Im Weißbuch wurde zusätzlich auf die Responsibility to Protect (»R2P«) hingewiesen, eine Möglichkeit, die nach dem Beschluss der UN-Vollversammlung zwar bei schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie bei Völkermord auch als Eingriff in die inneren Angelegenheiten von Mitgliedsstaaten der UN möglich sein soll, aber den Vereinten Nationen vorbehalten ist. Ein
erstes Beispiel für den Einsatz an der UN vorbei war der Krieg gegen Jugoslawien zugunsten der separatistischen Kosovoalbaner, der allein schon durch die Luftangriffe auf zivile Ziele völkerrechtswidrig war. Aber er wurde mit dem angeblichen Hufeisenplan (Rudolf Scharping) und der Suggestion eines neuen Auschwitz (Joschka Fischer) humanitär begründet.

Armee im Einsatz

Was bisher eher verschämt als humanitäre Aktion propagiert wurde oder als Hilfestellung für UN- oder NATO-Missionen daherkam, ist jetzt der eigentliche Zweck der Bundeswehr geworden, der internationale Einsatz. Dafür wird die Freiwilligenarmee umgebaut. Deshalb wird beim Eid, der im ersten Teil nicht auf das Grundgesetz sondern vage auf »Recht und Freiheit des deutschen Volkes« verpflichtet, nun der zweite
Teil des Eides betont, »der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen«. Was bisher unter der Hand durch den ständigen Abbau des Wehrpflichtigenanteils der Bundeswehr vorbereitet wurde, wird jetzt offen organisiert, eine Profiarmee. Allerdings bleiben wichtige Möglichkeiten der zivilen Kontrolle erhalten. Der Oberbefehl liegt bei einer parlamentarisch kontrollierten Instanz, im Frieden beim Verteidigungsminister, im Krieg beim Bundeskanzler. Der Verteidigungsausschuss hat das Recht, sich jederzeit in einen Untersuchungsausschuss zu verwandeln. Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat weitgehende Kontrollrechte und kann von Soldatinnen und Soldaten ohne den üblichen Dienstweg auf Missstände hingewiesen werden. Und schließlich soll auch die Innere Führung der »Bürger in
Uniform« weiterhin der demokratischen und rechtstaatlichen Struktur der Armee den nötigen Rahmen bieten. Auf der Strecke bleiben aus Präambel und Artikel 1 GG der Friedensauftrag des Grundgesetzes und die Grundrechte, die schon durch die Wehrverfassung von 1955 massiv eingeschränkt, teilweise – wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 GG) – ganz beseitigt wurden. In
welcher Weise das Recht der Kriegsdienstverweigerung künftig in der Freiwilligenarmee praktiziert werden wird, bleibt abzuwarten.

Für die Freiwilligenarmee muss jetzt verstärkt geworben werden. Das Verteidigungsministerium hat deshalb mit mehreren Bundesländern Verträge geschlossen, die den Jugendoffizieren den Zugang zu Schulen und Lehreraus- und -Fortbildung sichern. Problematisch wird dies durch die Einseitigkeit der Beeinflussung und – was verschiedentlich geschehen ist – durch Besuche von Schulklassen in Bundeswehreinrichtungen, bei denen die Jugendlichen Waffen und Gerät bestaunen dürfen. Ob und wo gegebenenfalls die Grenzen überschritten werden, die durch das Erziehungsrecht der Eltern auch der Bundeswehr gesetzt sind, bleibt abzuwarten.

Folgen im sozialen Bereich

Mit dem Zwang der Wehrpflicht endet der Zivildienst und andere Ersatzdienstmöglichkeiten können nicht mehr damit werben, dass man bei ihnen der Wehrpflicht entgeht. Das wird Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk, freiwillige Feuerwehren und andere zwingen, mehr um Helferinnen und Helfer zu werben und diese auch besser zu behandeln, damit sie freiwillig mitmachen. Die, die bisher Zivildienstleistende als billige zusätzliche Hilfskräfte einsetzen konnten, müssen andere Lösungen suchen. Da in den letzten Jahren der Zivildienst schon um ca. 100 000 Stellen geräuschlos verringert wurde, dürfte das auch für die restlichen ca. 45 000 Stellen gelingen. Problematischer ist, dass das Aussetzen der Wehrpflicht mit einem starken Ansturm auf Hochschulen und Ausbildungsstätten zusammenfällt, weil 2011 wiederum in vielen Gymnasien die ersten G-8- und letzten G-9-Klassen gleichzeitig Abitur machen.

nach oben