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Kein Ende der Vorrats­da­ten­spei­che­rung

Grundrechte-Report 2011, Seiten 46 – 50

Seit dem 1. Januar 2008 galt in Deutschland § 113a Telekommunikationsgesetz (TKG), der anordnete, dass bei allen Telekommunikationsdiensten die Verkehrsdaten aller Bürgerinnen und Bürger ohne Anlass für sechs Monate zu speichern sind. Damit waren alle elektronischen Kommunikationen strukturell überwachbar und mit Hilfe der Handyortung auch Bewegungsprofile erstellbar. § 113b TKG und § 100g Absatz 1 Strafprozessordnung (StPO) regelten den Zugriff auf diese Daten zum Zwecke der Strafverfolgung. Darüber hinaus waren Zugriffe der Polizei und der Geheimdienste auf diese Daten vorgesehen. Mit seinem Urteil vom 2. März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt, dass diese Regelungen nicht mit dem Telekommunikationsgeheimnis aus Artikel 10 Absatz
1 GG vereinbar sind, und sie für nichtig erklärt (Az. 1 BvR 256/08 u.a.). Allerdings hielt das Gericht eine Vorratsdatenspeicherung für »mit Artikel 10 GG nicht schlechthin unvereinbar«, vorausgesetzt sie diene legitimen Zwecken und trage »dem besonderen Gewicht des hierhin liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung«. Das sieht wie ein Pyrrhussieg der Bürgerrechtsbewegungen aus, die dieses Urteil erstritten haben. Zwar hat das Gericht das derzeitige Gesetz für nichtig erklärt, die nach der EU-Richtlinie 2006/24/EG weiter bestehende Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung hat es jedoch unter dem Grundgesetz für möglich gehalten. Mithin ist auch diesmal in Karlsruhe
das Gleiche passiert wie schon bei den Entscheidungen zum Großen Lauschangriff und zur Online-Durchsuchung. Während die Bürgerrechtler ihren Sieg feierten, erklärten die Befürworter, dass eine verfassungskonforme Vorratsdatenspeicherung machbar sei, wenn man sich nur an die Vorgaben des Gerichtes halte.

Vorrats­da­ten­spei­che­rung und Grundgesetz nach Karlsruhe

Hatte das Gericht noch im Volkszählungsurteil von 1983 das »strikte Verbot der Sammlung personenbezogener Daten auf Vorrat … zu nicht statistischen Zwecken« festgestellt (BVerfGE 65, S. 47), erklärte es jetzt, dass eine Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmtem oder noch nicht bestimmten Zwecken auch nach dem Volkszählungsurteil möglich sei, wenn man bereichsspezifisch und präzise regele, zu welchen Zwecken die gespeicherten Daten verwendet
werden dürfen. Damit hat das Gericht das Grundprinzip jeder Vorratsdatenspeicherung erlaubt. Danach können Daten anlasslos erhoben und gespeichert werden, wenn denn der Gesetzgeber nur die Verwendung hinreichend bestimmt regelt. Es können also von allen Bürgerinnen und Bürgern sämtliche Daten, die anfallen, erhoben werden und vom Staat – wenn es der Gesetzgeber denn korrekt regelt – zu verschiedenen Zwecken ausgewertet werden. Über diese Konsequenz ist das Verfassungsgericht offenbar selbst erschrocken und hat deshalb – nachdem es das strikte Verbot einer Speicherung von Daten auf Vorrat beseitigt hat – schnell eine neue Hürde für staatliche Vorratsdatenspeicherung errichtet: die sogenannte »Überwachungs-Gesamtrechnung« (vgl. Alexander Roßnagel, NJW 2010, S. 1238 ff.). Damit will es die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer Vorratsdatenspeicherung davon abhängig machen, dass sie eine Ausnahme bleibt. Eine Gesetzgebung, so das Gericht, »die auf eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten zielte, wäre von vorneherein mit der Verfassung unvereinbar«. Danach soll bei jeder neuen Überwachungsmaßnahme eine Gesamtrechnung darüber angestellt werden, wie viele der Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger bereits erfasst und rekonstruiert werden kann. Eine weitere Vorratsdatenspeicherung solle nur dann vor der Verfassung zu rechtfertigen sein, wenn sichergestellt sei, dass nicht alle für die Strafverfolgung oder die Gefahrenprävention nützlichen Daten vorsorglich gespeichert werden. Wie dieses Konstrukt bei einer verfassungsrechtlichen Überprüfung neuer Überwachungsmaßnahmen funktionieren soll, hat das Bundesverfassungsgericht selbst bei der Prüfung der Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationsbereich nicht vorgeführt. Es ist deshalb Skepsis gegenüber dieser Denkweise
des Verfassungsgerichts angesagt.

Keine unüber­wind­baren Hürden für den Gesetzgeber

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die angegriffenen Regelungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sicherheit einer solchen Datensammlung nicht genügen. Werden die Daten jedoch anspruchsvoll verschlüsselt und getrennt von den weiteren IT-Systemen der Telekommunikationsanbieter gespeichert, sind die Bedenken des Gerichts hinsichtlich dieser Frage auch schon ausgeräumt. Daran wird ein neues Gesetz kaum scheitern, es ist allenfalls eine Frage der Kosten.

Für den Zugriff auf die Daten durch staatliche Behörden hat das Gericht Eingriffsschwellen und Verfahrensregeln formuliert, die der Gesetzgeber lediglich umsetzen muss. Danach ist die Verwendung der gespeicherten Daten für Zwecke der Strafverfolgung auf die Verfolgung von auch im Einzelfall schweren Straftaten begrenzt. Die Verwendung für Zwecke der Gefahrenabwehr und der Geheimdienste ist »nur zur Abwehr von Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr« zugelassen. Damit dürfte eine Nutzung durch die Geheimdienste nahezu ausgeschlossen sein. Unzulässig ist ein Direktzugriff auf die Daten. Es dürfen von den Telekommunikationsanbietern nur die zur Anordnung passenden Daten herausgegeben werden. Um ein gesichertes Zugriffsregime auf die gespeicherten Daten zu gewährleisten, fordert das Gericht die Einhaltung eines Vier-Augen-Prinzips und eine revisionssichere Protokollierung. Zugleich wird ein ausgeglichenes System zur Sanktionierung von Verstößen gegen diese Vorgaben gefordert, das die Verletzung der Datensicherheit gleichermaßen bestraft wie die Nichtbeachtung der Speicherungspflichten.

Schließlich fordert das Gericht Transparenz der Datenverwendung, um einen effektiven Rechtsschutz sicherzustellen. Unabhängige Datenschutzbeauftragte seien in die Kontrolle der Vorschriften einzubeziehen; ebenso bedarf es effektiver Sicherungen, um die Löschung der Daten zu gewährleisten.

Die Freiheit verschwindet scheib­chen­weise

Das sind zwar relativ hohe, aber keine unüberwindbaren Hürden für Vorratsdatenspeicherungen. Die Vorratsdatenspeicherung als solche hat durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts faktisch ein Plazet erhalten – auch wenn ein neues Gesetz nicht mehr ganz so weitgehend sein kann, wie es sich Gesetzgeber und Sicherheitsbehörden gewünscht hatten. Das ist das wiederkehrende Drama der Richtersprüche aus Karlsruhe: Der Grundrechtseingriff wird ein wenig eingehegt, aber
grundsätzlich höchstrichterlich geadelt. So verschwindet die Freiheit scheibchenweise. Wo die Grenze für weitere Datensammlungen und Überwachungsmaßnahmen gezogen werden soll, bleibt völlig unklar. So steht zu befürchten, dass bei einer Neuregelung die Verfassung wieder ein Stückchen »ausgeleiert « wird.

Für Bürgerrechtsorganisationen gilt es weiterhin, die nationalen und europäischen Gesetzgeberinnen und -Gesetzgeber von der Unsinnigkeit und Gefährlichkeit der Vorratsdatenspeicherung zu überzeugen. Insbesondere auf europäischer Ebene muss es nun verstärkt eine politische Auseinandersetzung um den Schutz der Freiheit und des Telekommunikationsgeheimnisses geben – unabhängig davon, wie die Evaluation der Richtlinie 2006/24/EG durch die EU-Justiz- und Innen-Kommissarinnen Viviane Reding und Cecilia Malmström aus dem Jahr 2010 ausgeht.

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