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Straßburger Rüge - Laxer Umgang mit polizei­li­cher Gewalt­andro­hung im Fall »Daschner«

Grundrechte-Report 2011, Seiten 21 – 24

Dass Folter und unmenschliche Behandlung ausnahmslos unzulässig sind, dürfte nicht nur in Polizeikreisen als hinreichend gesicherte Rahmenbedingung sicherheitsbehördlicher Tätigkeit gelten. Gleiches gilt für die Kenntnis, dass sich ein gegen dieses Verbot verstoßender Amtswalter einer Straftat schuldig macht. Was sollte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) also beizutragen haben zur Aufarbeitung des Frankfurter Entführungsfalls, bei dem es um die Androhung von schweren Schmerzen durch den örtlichen Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner und weiteren Polizeibeamten gegenüber dem Entführer eines Kindes ging (vgl. Heiner Busch,
Grundrechte-Report 2004, S. 21 ff. und Grundrechte-Report
2005, S. 29)?

Am 1. Juni 2010 erklärte die Große Kammer des EGMR vermeintlich
Selbstverständliches: Das absolute Verbot unmenschlicher Behandlung gelte völlig unabhängig vom Verhalten des Opfers oder der Beweggründe der Behörden und lasse keine Ausnahmen zu. Er befand, dass die unmittelbaren Drohungen gegen den Entführer des Kindes in der Absicht, Informationen zu erpressen, schwerwiegend genug waren, um als unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu gelten. Seitdem darf sich der Entführer zwar nicht als Folteropfer des Polizeivizepräsidenten fühlen, wohl aber als Opfer unmenschlicher Behandlung. In der Sache besteht insoweit kein wesentlicher Unterschied, denn Artikel 3 EMRK verbietet Folter und unmenschliche
Behandlung unterschiedslos. Der Gerichtshof kam zu der Auffassung, dass die deutschen Behörden dem Entführer keine ausreichende Abhilfe für die konventionswidrige Behandlung durch die Polizei gewährt hatten. Mit anderen Worten: der justizielle und innerbehördliche Umgang mit Daschner und den anderen Polizeibeamten ließ zu wünschen übrig. Hierin liegt das eigentlich Bemerkenswerte der Entscheidung – nicht bei der Verurteilung der Bundesrepublik wegen des Verhaltens des damaligen Polizeivizepräsidenten und seiner beteiligten Untergebenen.

Eine Kammer desselben Gerichts hatte zwei Jahre zuvor ebenfalls eine Verletzung von Artikel 3 EMRK festgestellt, sah diese jedoch durch die Verurteilung Daschners als kompensiert an.

Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aus Artikel 6 EMRK wies der Gerichtshof gleichwohl – trotz Verstoßes gegen Artikel 3 – zurück. Wegen des Geständnisses des Entführers vor Gericht hätten die strittig erlangten Beweismittel keine Auswirkung auf das Strafurteil gehabt.

Schelte für ein mildes Urteil

In der Entscheidung vom 1. Juni 2010 heißt es, »dass die Bestrafung der Polizeibeamten nicht den notwendigen Abschreckungseffekt
hatte, um vergleichbaren Konventionsverletzungen vorzubeugen. Zudem gab die Tatsache, dass einer der Beamten später zum Leiter einer Dienststelle ernannt worden war, Anlass zu grundlegenden Zweifeln, ob die Behörden angemessen auf den Ernst der Lage angesichts einer Verletzung von Artikel 3 EMRK reagiert hatten.« Tatsächlich hatte das Landgericht Frankfurt am Main lediglich die Schuld der Polizeibeamten wegen schwerer Nötigung festgestellt und sich für den Fall einer Wiederholung die Verurteilung zu Geldstrafen
vorbehalten (sogenannte »Geldstrafe auf Bewährung«). Dieses
Urteil war selbst in Polizeikreisen als sehr milde Sanktionierung
bewertet worden.

Die Rüge des EGMR ist schon deswegen nicht selbstverständlich, weil sie ein unabhängiges Gericht trifft, dessen Urteil selbst überhaupt nicht Gegenstand des Verfahrens in Straßburg war. Es lässt sich also durchaus von einer Urteilsschelte durch die europäischen Richterinnen und Richter sprechen.

Ebenso wenig selbstverständlich ist freilich die Kritik am nachträglichen Umgang der politischen Führung – insbesondere! – mit dem ehemaligen Polizeivizepräsidenten. Dieser hatte sich zwar einem Disziplinarverfahren zu stellen, »fiel« anschließend aber die Karriereleiter nach oben: Nur vier Jahre nach dem Vorfall wurde er zum neuen Präsidenten des Hessischen Polizeipräsidiums für Technik, Logistik und Verwaltung ernannt. Was nun als Akt des »Hinweglobens« interpretiert werden könnte, stellte sich tatsächlich als ernst gemeinte Beförderung dar: Der damalige Hessische Innenminister und heutige
Ministerpräsident Volker Bouffier lobte ihn – nochmals: den Täter einer unmenschlichen Behandlung – für seine »in vielen Bereichen erworbenen Kenntnisse der Polizeiarbeit, seine große Erfahrung in der Personalführung und Leitung großer Polizeiorganisationen, verbunden mit einem überaus menschlichen Führungsstil«. In Anbetracht solch zynisch wirkender Feststellungen handelt es sich bei den zitierten Zweifeln der Straßburger Richter, ob auf die vorsätzliche Verletzung von Artikel 3 der EMRK angemessen reagiert wurde, um eine eher vorsichtige Wertung. Immerhin stellen sie die Konventionstreue eines
heutigen Ministerpräsidenten in Frage.

Ein Webfehler des deutschen Rechts

Dass der mittlerweile pensionierte Spitzenbeamte Daschner durch die strafgerichtliche Verurteilung nicht automatisch seinen Beamtenstatus (einschließlich Pensionsansprüche) verloren hat, ist auch das Ergebnis einer Lücke im deutschen Strafrecht. Denn während er »nur« wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Nötigung belangt wurde, hätte eine Verurteilung wegen Verleitung zu einer Aussageerpressung nach § 343 Strafgesetzbuch wegen der dort vorgesehenen Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr durchaus sehr viel wahrscheinlicher diese Konsequenz haben können. Zu diskutieren wäre allenfalls noch gewesen, ob es sich bei der Tat um einen »minder schweren Fall« gehandelt haben könnte. Indessen erfasst diese Vorschrift keine Taten, die im Rahmen von gefahrenabwehrender Polizeiarbeit begangen werden, sondern nur solche im Rahmen von Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarverfahren. Man darf durchaus von
einer nur unvollkommenen strafrechtlichen Absicherung des
absolut geltenden Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung
im deutschen Strafrecht sprechen. Diesen Webfehler kann freilich nur der Gesetzgeber beseitigen. Die Straßburger Rüge darf getrost als entsprechende Ermunterung verstanden werden.

Literatur

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Pressemitteilung
Nr. 439 und Urteil vom 1. 6. 2010 in der Rechtssache Gäfgen gegen
Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 22978/05), abrufbar
unter www.coe.int/t/d/menschenrechtsgerichtshof

Herzog, Felix/Roggan, Fredrik, Zu einer Reform der Strafbarkeit
wegen Aussageerpressung – § 343 StGB, in: Goltdammer’s Archiv
für Strafrecht
2008, S. 142 ff.

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