Freiheitsberaubung durch die Hamburger Polizei
Grundrechte-Report 2012, Seite 65
Mit Beschluss vom 8. März 2011 musste das Bundesverfassungsgericht (Az. 1 BvR 47/05) wieder einmal der Polizei Grenzen setzen – und auch den Gerichten, die bei der Überprüfung polizeilicher Maßnahmen immer wieder ihrem Auftrag zur Kontrolle staatlicher Eingriffe, auch und insbesondere im Hinblick auf die Grundrechte, nicht nachkommen.
Am 27. September 2003 betraten ca. 100 Personen aus dem Umfeld der sogenannten Bauwagenszene in Hamburg ohne Erlaubnis oder Billigung der Berechtigten ein Grundstück in der Absicht, das Gelände für sich als neuen Wohnsitz sowie als Abstellort für vier mitgeführte Bauwagen zu nutzen. Nachdem ein Vertreter der Berechtigten Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gegen die „Besetzer“ gestellt hatte, stellte die Polizei anhand der Personalausweise die Identität der Anwesenden fest – und verweigerte ihnen, sich nach Vorlage des Ausweises zu entfernen. Gegen 19.55 Uhr umstellte die Polizei die Personen, die sich dort aufhielten und führte sie ab 20.20 Uhr nacheinander aus dem Kessel, wobei der Beschwerdeführer sich wiederum unter Vorlage des gültigen Bundespersonalausweises auswies. Dennoch brachte die Polizei ihn zur Polizeiwache, wo er etwa eineinhalb Stunden in einer Zelle verbrachte. Gegen 23.00 Uhr brachte die Polizei ihn zum Polizeipräsidium, wo er wiederum eine Stunde in einer Zelle verbrachte, bis er erkennungsdienstlich behandelt wurde, es wurden drei Fotos von ihm gemacht. Entlassen wurde er erst am nächsten Tag um 1.30 Uhr.
Auf Antrag des Beschwerdeführers stellte das Amtsgericht nachträglich fest, dass dem Grunde und der Dauer nach seine Freiheitsentziehung rechtswidrig war, da angesichts der Vorlage des Bundespersonalausweises weder eine Feststellung der Identität nach § 163b Strafprozessordnung (StPO) noch für Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens nach § 81b StPO die Anfertigung von Lichtbildern erforderlich war.
Einsperren keine Freiheitsentziehung?
Das Landgericht Hamburg wusste es besser: Angesichts der Vielzahl der Beteiligten hätten Lichtbilder zur erkennungsdienstlichen Behandlung für den Strafprozess gefertigt werden müssen. Da die Anwesenheit des Beschwerdeführers jedoch polizeilich bereits festgestellt und die Identität mit dem Bundespersonalausweis nachgewiesen war, fragt man sich, was hier noch die Anfertigung von Fotos sollte – außer die Beteiligten möglichst lange festzuhalten und ihnen somit möglicherweise einen „Denkzettel“ zu verpassen. Aus unerfindlichen Gründen vermochte das Landgericht hierin noch nicht einmal eine Freiheitsentziehung zu sehen, was nämlich nach § 104 Absatz 2 GG es erforderlich gemacht hätte, dass die Polizei „unverzüglich“, und das heißt sofort, eine richterliche Entscheidung über das weitere Festhalten hätte herbeiführen müssen. Um das zu vermeiden, stellte das Landgericht fest, dass es sich „lediglich“ um die Anwendung unmittelbaren Zwangs handele! Da fragt man sich, zu welchen akrobatischen Geistesverrenkungen Juristen fähig sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde für offensichtlich begründet erachtet insoweit, als das rechtswidrige Festhalten durch die Polizei den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt hat. Zur Identitätsfeststellung war angesichts der Vorlage des (fälschungssicheren) Personalausweises kein Anlass. Und selbst wenn man für die Durchführung des Strafverfahrens meinte, Fotos zu benötigen, so war es hierfür weder erforderlich noch angemessen, ihn fünfeinhalb Stunden festzuhalten, auf der Polizeiwache eineinhalb Stunden und anschließend auf dem Polizeipräsidium wieder eine Stunde in einer Zelle einzusperren und zwischendurch eine Stunde vom einen zum anderen Ort zu verbringen, da keine schwierigen erkennungsdienstlichen Maßnahmen durchzuführen waren. Denn für drei einfache Fotos ohne das Erfordernis fotografischer oder kriminalistischer Erfahrung hätte die Polizei schon beim Kessel oder spätestens dann auf der Polizeiwache eine normale vorhandene Kamera benutzen können und müssen.
Das Verfassungsgericht als Kämpfer gegen Windmühlenflügel
Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal ein Machtwort gesprochen, das Festhalten als Freiheitsentziehung bezeichnet und die ganze Angelegenheit als rechtswidrig festgestellt. Aber was hilft das alles? Im Grundrechte-Report ist schon vielfach, nahezu jährlich, berichtet worden über permanent verfassungswidrige Wohnungsdurchsuchungsbeschlüsse, Polizeikessel, Verhaftungen, Überwachungsmaßnahmen. Jährlich werden mindestens ein halbes Dutzend solcher Entscheidungen veröffentlicht, und wenn man weiß, dass es sich dabei nur um die Spitze eines Eisbergs handelt, weil in den meisten Fällen Geld und Kraft fehlen, um durch die Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht vorzudringen, dann weiß man, dass es sich in Wirklichkeit jährlich um Tausende von Fällen handelt, also der Verfassungsbruch alltäglich ist. Und weder die Ermittlungsbehörden noch – was viel schlimmer ist – die zur Kontrolle aufgerufenen Gerichte kümmern sich um die Verfassungsgerichtsrechtsprechung.