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Grundrecht oder Straftat? - Neues Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­ur­teil zu Sitzblo­ckaden

Grundrechte-Report 2012, Seite 92

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Artikel 8 GG ist von großer Bedeutung für die Demokratie. Die Versammlungsfreiheit gilt nicht nur für „normale“ Demonstrationen, die in Form von Straßenaufzügen stattfinden, ebenso für Aufsehen erregende Aktionen wie Sitzblockaden. So bekräftigte es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im März 2011, als es erneut über die Strafbarkeit von Sitzblockaden entschied. Allerdings bedeutet das nicht, dass Sitzblockaden grundsätzlich unbestraft bleiben. Das BVerfG meint, dass das Sitzen auf einer Straße eine Nötigungshandlung sein kann. Es bestätigte die sogenannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs (BGH), welche mittels einer fragwürdigen juristischen Konstruktion das Verhalten bei Sitzblockaden als Gewalt darstellt. Dies tritt in einen offenen Konflikt zu einem fundamentalen Grundsatz des Strafrechts: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“ – Artikel 103 Absatz 2 GG.

Sitzblo­ckaden können Nötigungen sein

Der Gesetzgeber hatte nie ein Strafgesetz geschaffen, welches Sitzblockaden ausdrücklich unter Strafe stellt. Dies wurde als Strafbarkeitslücke aufgefasst, und es musste eine juristische Konstruktion folgen, um Sitzblockaden dennoch zu bestrafen. In den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückte § 240 des Strafgesetzbuches (StGB) – die Nötigung. Eine solche liegt vor, wenn der Täter mittels Gewalt eine andere Person zu einer Handlung nötigt und dies als verwerflich anzusehen ist. Diese Straftat sah ein hessisches Amtsgericht verwirklicht, als im Jahr 2004 ein Demonstrant gemeinsam mit anderen die Zufahrtsstraße der Rhein-Main Air Base – ein Luftwaffenstützpunkt der US-amerikanischen Streitkräfte bei Frankfurt am Main – blockierte, um gegen die militärische Intervention der USA im Irak zu demonstrieren. Das Gericht verurteilte den Demonstranten zu einer Geldstrafe.

Die justizielle Vergan­gen­heit – wie Sitzen zu Gewalt wurde

Wie es dazu kam, dass das Sitzen auf einer Straße als Gewalt interpretiert werden konnte, ist eine längere Geschichte. Ausgehend von dem in der juristischen Lehre und Rechtsprechung vertretenen klassischen Gewaltbegriff wurde unter Gewalt eine körperliche Kraftentfaltung verstanden, durch die beim Opfer durch Einwirkung auf dessen Körper Zwang ausgeübt wird. Da bei Sitzblockaden nicht auf den Körper von anderen eingewirkt wird, also keine sogenannte „physische Zwangswirkung“ vorliegt, musste diese Definition aufgeweicht werden. Hierzu wurde zunächst mit Rücksicht auf das Schutzgut von § 240 StGB – die Willensfreiheit – argumentiert, dass bremsende Autofahrer einem psychischen Zwang ausgesetzt seien, der einer physischen Zwangswirkung gleichzustellen ist: Sie sind gegen ihren Willen gezwungen zu bremsen, um die Demonstrierenden nicht anzufahren. Dies sei Gewalt.

Auf der Grundlage dieses „vergeistigten Gewaltbegriffs“ wurden Mitte der 80er Jahre zahlreiche Teilnehmende bei vornehmlich antimilitaristischen gewaltfreien Blockaden wegen Nötigung verurteilt. 1995 setzte das BVerfG diesen Bestrafungen jedoch ein Ende. Es sah in der Annahme, dass bloß psychisch wirkender Zwang Gewalt begründe, einen Verstoß gegen das Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 2 GG.

Hiervon herausgefordert, begannen die Strafgerichte aber erneut Wege zu suchen, um Blockierer zu bestrafen. Zunächst wurde festgestellt, dass Gewalt vorliegt, wenn physische Hindernisse bereitet werden, also beispielsweise durch Autos oder schwere Barrikaden, auch eine Menschenmenge von 100 Demonstrierenden sollte genügen. Barrikaden, die auch faktisch ein physisches Hindernis darstellen, bewirkten auch physischen Zwang bei den herannahenden Autofahrern. Diese müssten schließlich bremsen, um einen Schaden an sich zu vermeiden. Dies sei Gewalt.

Dies hielt auch einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung 2001 stand und so entwickelte sich die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH. Das Vorliegen eines physischen Hindernisses bei einer Sitzblockade wurde mit der Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft bejaht. Das physische Hindernis ginge zwar nicht von den Demonstrierenden selbst, jedoch von den Autofahrern der ersten anhaltenden Reihe aus, welche von den Demonstrierenden zu ihren Werkzeugen gemacht würden. Durch das Abbremsen übten die Autofahrer der ersten Reihe als Tatmittler Gewalt gegenüber den nachfolgenden aus, die ebenfalls bremsen müssten, und schafften somit ein physisches Hindernis. Diese Gewalthandlung könne den Blockierenden zugerechnet werden. Damit war das juristische Kunstwerk vollendet: Das Sitzen auf der Straße ist Gewalt.

Sitzen muss aber nicht verwerflich sein!

Diese komplizierte Konstruktion der „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ wurde vom BVerfG nun bestätigt. Obwohl es 1995 einen Grundrechtsverstoß annahm, wenn ein einziger Autofahrer bremsen muss, verneint es diesen, wenn zumindest ein weiterer Autofahrer bremsen muss. Das Gericht sieht einen Unterschied in den Sachverhalten, der auch rechtlich anders zu bewerten sei. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Wird durch eine Sitzblockade nur ein einziges Auto zum Stehen gebracht, ist dies keine Gewalt, werden jedoch mindestens zwei Autos hintereinander zum Stehen gebracht, liegt Gewalt vor. Dies hält das Gericht auch in der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ für nachvollziehbar. Schließlich führe das Verhalten der Demonstrierenden dazu, dass sich die anreihenden Fahrzeuginsassen zwischen Fahrzeugen und dem Seitenstreifen eingekeilt wiederfänden. Dies sei Gewalt und noch innerhalb der „Wortlautgrenze“ des Gewaltbegriffs.

Dass eine solche Sitzblockade dennoch nicht immer bestraft werden kann, ist nun daran zu messen, ob eine – wenn auch gewaltsame – Nötigungshandlung als „verwerflich“ anzusehen ist. Hierbei ist nach dem BVerfG die Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen. Das Gericht stellt klar, dass auch wenn eine Sitzblockade strafrechtlich als gewaltsame Handlung begriffen wird, eine solche dennoch von der Versammlungsfreiheit in Artikel 8 GG geschützt sein könne. Eine Versammlung verliere ihren Schutz erst, wenn von ihr aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen ausgehen. Sofern eine verfassungsrechtlich geschützte Sitzblockade vorliegt (weil Versammlung), ist laut BVerfG eine solche nur dann verwerflich, wenn andere höherwertige Rechtsgüter eine Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit rechtfertigen können. Da dies bei der in Frage stehenden Sitzblockade 2004 nicht zu erkennen war, sah das Gericht das Recht des Demonstranten auf Versammlungsfreiheit als verletzt an, als dessen Berufung abgelehnt wurde. Es forderte das Landgericht dazu auf, über den Fall unter Beachtung der Versammlungsfreiheit erneut zu entscheiden.

Mit diesem Urteil räumte das Bundesverfassungsgericht der Versammlungsfreiheit zwar einen hohen Stellenwert ein, dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine weit hergeholte Gewaltkonstruktion („Zweite-Reihe-Rechtsprechung“) nach wie vor zur Bestrafung von an sich friedlichen Sitzblockaden führen kann.

Literatur

BVerfG, Az. 1 BvR 388/05 vom 7.3.2011, Absatz-Nr. (1–46) unter: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20110307_1bvr038805.html

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