Staatsleistungen an die Kirchen - ein obsoletes Privileg
Grundrechte-Report 2012, Seite 73
In seiner Freiburger Rede vom 25. September 2011 hat Papst Benedikt XVI. die deutsche katholische Kirchenhierarchie mit der These von der notwendigen „Entweltlichung“ der Kirche in große Verlegenheit versetzt: „Die von materiellen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“
Ein materielles Privileg besonderer Art genießen die Kirchen in Deutschland (und nur dort!). Sie erhalten seit 1919 in wachsendem Umfang jährlich von den Ländern – Ausnahme: die Stadtstaaten Bremen und Hamburg – sogenannte Staatsleistungen. Das sind Zahlungen, die nicht im Hinblick auf irgendwelche weltliche Leistungen der Kirchen im sozialen Bereich, etwa bei Schulen, Kindergärten oder Pflegeeinrichtungen erfolgen, sondern einzig der institutionellen Förderung der Kirchen als solcher dienen. Sie beruhen in erster Linie, aber kaum noch nachweisbar, auf historischen Gesetzen, Verträgen und besonderen Rechtstiteln (Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung, durch Artikel 140 Grundgesetz in die geltende Verfassung übernommen). Seit 1919 sind die Staatsleistungen in den zahlreichen Kirchenverträgen dem Grunde nach bestätigt und der Höhe nach spezifiziert worden, beginnend mit dem bayerischen Konkordat von 1924 und einstweilen endend mit dem schleswig-holsteinischen katholischen Kirchenvertrag von 2009. Die laufenden Zahlungen wurden weder in der Nazizeit noch in der DDR-Zeit gänzlich unterbrochen.
Verfassungsauftrag missachtet
Außer Betracht gelassen wurde in all diesen Jahren, dass die deutsche Verfassungen von 1919 wie von 1949 nicht etwa die Weiterzahlung der historischen Zahlungen anordnen, sondern das genaue Gegenteil, nämlich die Ablösung durch die Landesgesetzgebung, wofür das Reich (d.h. heute der Bund) die Grundsätze aufstellen sollte (Artikel 138 Absatz 1 Satz 2 der Weimarer Reichsverfassung). Weder ein Grundsätzegesetz noch eine Ablösungsgesetzgebung der Länder gibt es bis heute.
Es liegt auf der Hand, dass den Kirchen die Nichtablösung recht war, gewährte der Staat ihnen doch – gegenleistungsfrei – einen kontinuierlichen Geldfluss, der zudem kirchenvertraglich abgesichert nach Maßgabe der Entwicklung der Beamtengehälter stetig anwuchs. Was motiviert aber die staatliche Seite zur Weiterzahlung der Staatsleistungen, und zwar gegen den ausdrücklichen Wortlaut der Verfassung?
Die politisch maßgeblichen Kräfte in Deutschland, namentlich in den Parteien, den Parlamenten und Regierungen, weisen ungebrochen eine große Kirchennähe auf, obwohl mittlerweile beinahe zwei Fünftel der Bevölkerung den beiden Kirchen nicht mehr angehören. Eine Beeinträchtigung kirchlicher finanzieller Interessen ist von diesen Kräften kaum zu erwarten, zumal sie durch die herrschende staatskirchenrechtliche Auffassung unterstützt werden, die den Ablösungsauftrag des Grundgesetzes durch eine groteske Interpretation in sein Gegenteil verkehrt hat: Die Vorschrift über die Ablösung der Staatsleistungen wirke als Garantie für ihre Fortzahlung, solange nicht abgelöst worden sei. Diese kirchenfreundliche Interpretation unterschlägt zum einen, dass eine entsprechende Übergangsvorschrift über die einstweilige Fortzahlung der Staatsleistungen (Artikel 173 WRV) gerade nicht in das Grundgesetz übernommen worden ist. Zum andern unterschlägt sie, dass es ja bereits seit über 90 Jahren gerade staatliche verfassungsrechtliche Pflicht gewesen war und noch ist, im Wege der Gesetzgebung die Ablösung herbeizuführen. Eine dauernde staatliche Zahlungspflicht gerade aus der dauerhaften Nichterfüllung der staatlicher Ablösungspflicht abzuleiten, ist absurd.
Einer Ablösung stand bisher – unabhängig von den geschilderten juristischen Interpretationskunststücken – vor allem die folgende Überlegung entgegen. Ablösung bedeute Beendigung der Zahlungen gegen eine (einmalige oder ratenweise zu leistende) Entschädigung. Es sei eine so gewaltige Entschädigungszahlung fällig, dass dies für den Staat – zumal bei der derzeitigen Lage der öffentlichen Haushalte – nicht einmal eine theoretische Option sei. Dieses Argument verblüfft um so mehr, als bisher mangels eines Grundsätzegesetzes über die Ablösung nicht bekannt war, nach welchen Maßstäben eine eventuelle Entschädigung zu berechnen gewesen wäre. Und ebenso wenig war dem Staat (Bund und Ländern), den Kirchen und der Wissenschaft vom Staatskirchenrecht, wie sie dies alle ausdrücklich zugegeben haben, die Höhe der bisher seit 1919 geleisteten Zahlungen auch nur ansatzweise bekannt.
Unberechtigte Leistungen
Diese Wissenslücke ist nunmehr – jedenfalls für die Zeit seit dem zweiten Weltkrieg – geschlossen. Die von der Humanistischen Union ermittelten und am 18. April 2011 in einer Pressekonferenz in Berlin bekannt gegebenen Zahlen sind im Internet (www.staatsleistungen.de) im Detail für jedes Bundesland, jedes Jahr und jede Kirche nachzulesen.
Wesentliche Ergebnisse sind:
- In der DDR sind 629.425.293 Mark, in Westdeutschland und in Gesamtdeutschland seit 1990 sind bis zum Jahre 2010 insgesamt 13,9 Mrd. Euro Staatsleistungen gezahlt worden.
- An die evangelische Kirche gingen rund 7,5 Mrd. Euro, an die katholische Kirche rund 6,4 Mrd. Euro.
- Waren es etwa im Jahr 1952 rund 41,4 Millionen Euro pro Jahr, so im Jahr 2011, also 60 Jahre später, rund 466,1 Millionen Euro.
Die historische Rechtfertigung für die weitere Gewährung der Staatsleistungen, nämlich die Säkularisation des Kirchengutes von der Reformation bis zum Reichsdeputationshauptschluss von 1803, hat, wenn sie denn jemals zutraf, längst ihre Berechtigung verloren. Die wirtschaftliche Kraft der nicht zuletzt durch die Kirchensteuer unendlich reichen deutschen Kirchen hat die Staatsleistungen seit langem entbehrlich gemacht, die ohnehin nur ca. 3 % der kirchlichen Finanzen ausmachen. Die kontinuierliche über 90-jährige Zahlung der Staatsleistungen kann, ja muss als mehr als ausreichende Entschädigung für etwaige Säkularisationsverluste angesehen werden.
Daher wird als Einstieg in die dringlich zu führende Debatte über die Ablösung nachstehender Gesetzentwurf vorgeschlagen.
Entwurf eines Gesetzes über die Grundsätze zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen
§ 1
Für die Ablösung der Staatsleistungen nach Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 138 Absatz 1 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 gelten folgende Grundsätze:
- Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Ansprüche gegen die Länder auf Staatsleistungen gelten als durch Zahlung seit 1919 bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes abgelöst.
- Entgegenstehende Vereinbarungen zwischen den Ländern und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, durch welche Staatsleistungen an begründet, erneuert, bestätigt oder näher bestimmt worden sind oder werden, sind bis zum … aufzuheben.
- Neue allgemeine Staatsleistungen an Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind unzulässig.
§ 2
Dieses Gesetz tritt in Kraft am …
Literatur
Frerk, Carsten, Die verfassungswidrige Alimentierung der Kirchen durch den Staat, Vorgänge 194 (2011) S. 69 – 76
Haupt, Johann-Albrecht, Ewige Rente für die Kirchen?, in: Vorgänge 189 (2010) S. 86 – 94