Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum - Bundesverfassungsgericht soll erneut entscheiden
Grundrechte-Report 2013, Seite 30
Ob der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum an Bedingungen zu knüpfen ist und welcher Betrag angemessen ist, war in jüngerer Zeit zunehmend zum Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen. Im Februar 2010 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dass der Gesetzgeber das Existenzminimum in einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren festzulegen hat. Aufgrund von statistischen Erhebungen setzte dieser anschließend den Regelbedarf neu fest, wobei die Regelbedarfsstufe 1 mit 364 Euro den höchsten Satz vorsieht (382 Euro ab 1. Januar 2013). Das Bundessozialgericht hält die Höhe des Regelbedarfes für Alleinstehende in einer Entscheidung aus dem Juli 2012 auch für verfassungsgemäß. Ein Berliner Sozialgericht ist dagegen von der Verfassungswidrigkeit der Neu-Festsetzung überzeugt. Es hat im April 2012 ein laufendes Verfahren ausgesetzt und die Frage der Verfassungsmäßigkeit dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Dieses Verfahren ist eine gute Gelegenheit, um sich damit zu beschäftigen, wie es mit der Gewährleistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum tatsächlich bestellt ist.
Unbelehrbar? Gesetzgeber missachtet Verfassungsvorgaben
Es mutet absurd an, dass erstens der Gesetzgeber jahrelang trotz massiver Kritik aus der Erwerbslosenbewegung und von Sozialverbänden nicht in der Lage war, den Regelbedarf in einer verfassungskonformen Weise zu ermitteln. Zweitens hat er es erneut nicht geschafft, einen verfassungsgemäßen Regelbedarf vorzulegen, weil er den vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich formulierten Anforderungen nicht nachgekommen ist.
Dabei ist der verfassungsrechtliche Rahmen hinreichend klar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Artikel 1 Absatz 1 GG i.V.m. Artikel 20 Absatz 1 GG (Sozialstaatsgebot). Mit dem Urteil vom Februar 2010 führte das Bundesverfassungsgericht einmal mehr aus, dass dessen Gewährleistung sowohl die physische Existenz eines Menschen (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene, Gesundheit) als auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und in einem Mindestmaß die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasse. Das Grundgesetz erlaube zwar keine exakte Bezifferung dieses Minimums, so dass sich die gerichtliche Kontrolle auf die Frage beschränke, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Allerdings erfordere das Grundrecht, dass die Festsetzung der Leistungen aufgrund verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren erfolgt.
Erneute Vorlage ans BVerfG
Die erneute Anrufung des BVerfG war deswegen erforderlich. Anlass war der Fall einer dreiköpfigen Familie, die geltend machte, dass der Regelbedarf für ein menschenwürdiges Leben nicht ausreiche. Nach dem Berliner Sozialgericht ist die vom Gesetzgeber festgelegte Höhe des Regelbedarfes aus mehreren Gründen verfassungswidrig. So sei die Referenzgruppe fehlerhaft bestimmt worden. Der Gesetzgeber müsse entscheiden, bei welcher Referenzgruppe die tatsächliche Ausgabestruktur eine Absicherung realitätsgerecht ergebe. Dabei sei zu berücksichtigen, dass bei sehr armen Haushalten sich die Ausgabenstruktur weniger nach dem tatsächlichen Bedarf als nach der tatsächlichen finanziellen Situation richte. Es sei nicht nachvollziehbar, warum als Referenzgruppe lediglich die unteren 15 Prozent gewählt worden seien und nicht wie bisher die unteren 20 Prozent.
Das Berliner Sozialgericht bemängelt zudem, dass nicht plausibel begründet worden sei, aus welchem Grund der Bedarf für Haushalte mit Kindern genauso hoch ausfallen sollte, wie der Bedarf für Alleinstehende. Vielmehr seien für Familien die spezifischen Bedarfe, die sich aus einer Familiensituation ergeben, zu berücksichtigen.
Im Übrigen seien langlebige Konsumgüter (Waschmaschine, Fahrrad etc.) nicht ausreichend berücksichtigt worden. Des Weiteren seien bestimmte Güter und Dienstleistungen in nicht nachvollziehbarer Weise in dem Katalog zur Ermittlung des Regelbedarfs zu gering berücksichtigt bzw. herausgehalten worden. Dies betrifft z.B. Aufwendungen für Verkehr, alkoholische Getränke, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, auswärtige Speisen und Getränke, chemische Reinigung, Reparaturen von Einrichtungsgegenständen oder für Vorstellungsgespräche. Dadurch sei außerdem die Möglichkeit des internen Ausgleichs (nach der höhere Kosten in einem Bereich (z.B. hohe Telefonkosten) mit geringeren Ausgaben in einem anderen (z.B. kaum Mobilitätskosten) ausgeglichen werden können sollten) nicht mehr gewahrt, obwohl die Möglichkeit hierzu Kernelement der Pauschalierung der Leistung sei. Die Fehler würden bei zusammenlebenden Ehepaaren bzw. Partnern zu einem normativen Fehlbetrag von mindestens 31,83 Euro und bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren von mindestens 20 bis 28,30 Euro führen.
Sozialstaat ohne Misstrauenskultur
So lange es keine Neuorientierung in der Sozialpolitik gibt, steht außer Frage, dass der Gesetzgeber sich zumindest an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu halten hat. Dem ist er, wie das Sozialgericht überzeugend ausführt, nicht nachgekommen. Bei der Ermittlung des Regelbedarfs u.a. zu fordern, dass statistisch signifikante Daten zugrunde gelegt werden, Zirkelschlüsse (Berechnung des Bedarfs anhand der tatsächlichen Ausgaben von ALG II bzw. Sozialhilfe-Empfängern) vermieden werden und die Abgrenzung zwischen regelleistungsrelevantem bzw. nicht regelleistungsrelevantem Konsum sachgerecht begründet wird. Ob das Statistikmodell zur Ermittlung eines angemessenen Bedarfs geeignet ist, darf bezweifelt werden. Das ist z.B. daran zu sehen, wie der Bedarf für eine gesunde Ernährung ermittelt wird. Faktisch führt der derzeitige Regelbedarf zu einer Unterversorgung, insbesondere bei Ernährung, Strom und Mobilität.
Grundsätzlich ist eine Form der Regelbedarffestsetzung zu fordern, die nicht wie bisher von einer Haltung des Misstrauens und der Missgunst erwerbslosen Menschen gegenüber geprägt ist. Sozialpolitik muss die Achtung der Menschenwürde zugrunde liegen; sie darf nicht von Nützlichkeitserwägungen geleitet sein, nach denen nur erwerbswilligen Menschen ein Anspruch auf Existenzsicherung zusteht. Da dies nach geltendem Recht, wie z.B. auch an dem Kontroll- und Sanktionssystem zu sehen ist, nicht der Fall ist, ist es an der Zeit, dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch in tatsächlicher Hinsicht zum Durchbruch zu verhelfen.
Literatur
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09
Bundessozialgericht, Urteil vom 12.07.2012 – B 14 AS 153/11 R und B
Berliner Sozialgericht, Beschluss vom 25. April 2012 – S 55 AS 9238/12
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Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 10, 2012
Helga Spindler, Verfassungsrecht trifft auf Statistik. Wie soll man mit den Regelsätzen weiter umgehen?, in: info also 2011, S. 243
Frank Jäger/Harald Thomé, Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A-Z, 26. Auflage, Stand: 1. Juni 2011