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Another Brick in the Wall - Neues EU-Grenz­schutz­recht verletzt Menschen- und Flücht­lings­rechte

Grundrechte-Report 2014, Seite 178

Es war ein Wettbewerb der Mitleidsbekundungen, und gar etwas Selbstkritik war aus Brüssel, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten zu vernehmen nach dem Tod von mehr als 300 Menschen im vergangen Oktober vor der italienischen Insel Lampedusa. Plötzlich forderte jeder und jede neue Regeln beim Umgang mit Flüchtlingen. Stellvertretend für die deutsche Betroffenheit, forderte Bundespräsident Joachim Gauck, nicht mehr wegzuschauen und die Menschen „hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod.“ Der stellvertretende Vorsitzende der CDU, Armin Laschet, mahnte an, dass auf die einhellige Empathie auch Taten folgen müssten.

Tatsächlich folgten Taten, jedoch stehen die Zeichen der europäischen Grenzsicherungspolitik nochmal mehr als zuvor auf Abwehr statt auf Flüchtlingsschutz. Anstatt die nächstliegenden Konsequenzen aus dem jahrelangen Massensterben an den europäischen Seeaußengrenzen zu ziehen – nämlich ungefährliche legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen oder wenigstens ausreichende Resettlement-Programme für Flüchtlinge anzubieten – wird die europäische Grenzschutzagentur Frontex gestärkt.

Just eine Woche nach dem Tod der Flüchtlinge vor Lampedusa stimmte das Europäische Parlament der Einrichtung des Grenzüberwachungssystems Eurosur zu. Das bereits seit Jahren geplante, 340 Millionen Euro teure System ist seit Dezember des letzten Jahres in Betrieb und soll dazu beitragen, dass illegale Grenzübertritte an den europäischen Außengrenzen durch effektivere Überwachungstechnologien und eine stärkere Vernetzung der nationalen Grenzschutzbehörden und Frontex besser aufgedeckt und schneller verhindert werden können. Die Rettung von Menschen aus Seenot wird in der zugrundeliegenden Verordnung nur am Rande erwähnt, konkrete Vorgaben über umstrittene Fragen, nämlich welche Institutionen in einer Notlage zuständig sind und welche Maßnahmen sie ergreifen sollen, fehlen in der Regelung.

Abgefangen, kontrol­liert und ausge­schifft

Daneben werden in naher Zukunft neue Regelungen für die Überwachungsmaßnahmen in Kraft treten, die an den europäischen Seeaußengrenzen unter der Koordinierung von Frontex durchgeführt werden. Diese Seeaußengrenzen-Verordnung bekennt sich zu den einschlägigen Menschen- und Flüchtlingsrechten – und formuliert sodann, wo und wie Flüchtlingsboote und -schiffe abgefangen und kontrolliert werden und wohin die abgefangenen Menschen ausgeschifft werden sollen. Die Verordnung ersetzt die sogenannten Frontex-Leitlinien, die 2010 als unionsrechtliches Tertirärrecht beschlossen und zwei Jahre vom EuGH als rechtswidrig verworfen wurden, weil das Europäischen Parlament nicht hinreichend an der Gesetzgebung beteiligt worden war.

Die Seeaußengrenzen-Verordnung scheint zunächst stärker als ihre Vorgängerregelung auf die verbreitete menschenrechtlich fundierte Kritik an der Politik von Frontex zu reagieren. So ist vorgesehen, dass die beteiligten Einsatzkräfte vor einer Ausschiffung eines Schiffes in einen Drittstaat die dortige Lage berücksichtigen müssen, um menschenrechtswidrige Rückschiebungen zu verhindern. Zugleich sollen die betroffenen Personen über den Ort der Ausschiffung informiert und ihnen die Gelegenheit gegeben werden, „etwaige Gründe für die Annahme, dass die Ausschiffung an dem vorgeschlagenen Ort gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt, vorzubringen“. So hatte es auch der EGMR in seinem Urteil in der Rechtssache Hirsi (Hirsi and Others v. Italien, No. 27765/09 (GK)) nochmals ausdrücklich gefordert hat. Es mangelt jedoch in der Verordnung wie bereits in den Frontex-Leitlinien an Vorgaben, die in ihrer Konkretheit den flüchtlingsrechtlichen Verpflichtungen aus der GFK, der EMRK und der GrCH gerecht werden. Es ist zwar vorgesehen, dass die Beamt_innen menschenrechtlich geschult werden – der Umfang dessen und die Umsetzung der vorgeblichen Kenntnisse werden jedoch nicht ausgeführt. So schweigt die Verordnung darüber, wie insbesondere eine erforderliche länderspezifische Expertise der handelnden Beamt_innen sichergestellt wird, ob und wie Dolmetscher_innen zu den Anhörungen hinzugezogen werden können und inwiefern den Betroffenen eine rechtliche Beratung und ein effektiver Rechtsschutz gegen Rückschiebungen gewährt werden soll.

Aushebelung von Menschen­rechten

Konkreter ist die Verordnung bei der Abwehr von Einwanderer_innen, indem sie vorsieht, dass Rückschiebungen in Drittstaaten grundsätzlich möglich sind, wenn ein Schiff auf Hoher See abgefangen wird. Damit wird keine neue Praxis erfunden, denn es ist hinlänglich bekannt, dass unter der Koordinierung von Frontex derartige Maßnahmen stattfinden. Die Regelungen verrechtlichen und akzeptieren damit allerdings eine Vorgehensweise, die menschen- und flüchtlingsrechtlich höchst problematisch ist. Denn auf Hoher See ist ein effektives und individuelles Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und von Abschiebeverboten nicht möglich.

Keine Regelungen finden sich zu den Maßnahmen in Territorialgewässern von Drittstaaten. In der Praxis fanden unter Koordinierung von Frontex vor der Küste Senegals und Mauretanien Praxis Einsätze statt, die von Menschenrechtsorganisationen als eine Verhinderung von Flucht problematisiert worden sind. Diese Form der vorverlagerte Flucht- und Migrationsverhinderung läuft dem Flüchtlingsschutz zuwider und hätte deswegen rechtlich für unzulässig erklärt werden müssen.

Positiv ist, dass die Verordnung verbindliche Bestimmungen enthält, wie in einer Seenotlage zu verfahren ist – allerdings sind auch hier die Details problematisch. So ist etwa vorgesehen, dass bei einer Abfangmaßnahme auf Hoher See das betroffene Schiff vorrangig in einen Drittstaat, also nicht in einen europäischen Staat ausgeschifft wird – obwohl das Völkerrecht ein solches Vorrangverhältnis nicht kennt. Ohnehin ist zweifelhaft, inwiefern die EU überhaupt die Kompetenz besitzt, Regelungen in diesem Bereich zu treffen – zwar sind die beteiligten Grenzschutzbeamt_innen zweifelsohne an das einschlägige Seevölkerrecht gebunden und müssen Menschen aus einer Notlage retten. Diese Verpflichtung bedeutet jedoch nicht, dass die Kompetenzen der EU auf dem Gebiet des Grenzschutzes erweitert werden können. Zielführendender wäre es rein praktisch, die an sich zuständigen und viel fähigeren Seenotrettungsstellen der Küstenwachen der Mitgliedstaaten zu stärken – wie aus Berichten von Augenzeug_innen hervorgeht, fehlt es den Grenzschutz-Booten häufig an der elementarsten Ausrüstung, um eine Seenotrettung durchzuführen.

Die deutsche Bundesregierung trägt die Grundaussagen der Seeaußengrenzen-Verordnung mit und die deutsche Bundespolizei beteiligt sich weiterhin eifrig an den Einsätzen von Frontex. Auf der anderen Seite werden die südlichen Grenzstaaten der EU, die auf der Grundlage des Dublin-Systems für die Aufnahme der Flüchtlinge zuständig sind, nicht unterstützt, eine grundlegende Reform des Systems wird erst recht ausgeschlossen. Auch die Große Koalition zieht in ihrem Koalitionsvertrag eine Neuregelung der Zuständigkeiten für Asylgesuche nicht einmal in Betracht. Stattdessen soll eine „Strategie für Migration und Entwicklung“ die Kooperationen mit Transit- und Herkunftsstaaten stärken – mit dem Ziel einer konsequenten Rückführung nicht erwünschter Migrant_innen. Deutschland und Europa stellen so einmal mehr die Abwehr von Migrant_innen vor den Schutz von Menschen- und Flüchtlingsrechten.

Literatur

Hayes, Ben / Vermeulen, Mathias, Borderline. The EU’s New Border Surveillance Initiatives. Assessing the Costs and Fundamental Rights Implications of EUROSUR and the “Smart Borders“ Proposals, hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung / Ska Keller, Berlin/Brüssel 2012.

Lehnert, Matthias, Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen. Verwaltungskooperation – materielle Rechtsgrundlagen – institutionelle Kontrolle, Baden-Baden 2014.

Statewatch/Marie Martin, Analysis: “If at first you don’t succeed”… European Commission proposes new rules on interception and disembarkation during Frontex sea operations, 2013, http://www.statewatch.org/analyses/no-224-frontex-sea-operations.pdf

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