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Gekürzte Sozial­leis­tungen zur Migra­ti­ons­kon­trolle - BVerf­G-­Ur­teil zu Asylsu­chenden wird ignoriert

Grundrechte-Report 2014, Seite 138

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung zum AsylbLG vom 18. Juli 2012 klar und unmissverständlich betont, dass der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ein unverfügbares Menschenrecht ist, das ab Beginn des Aufenthaltes in der Bundesrepublik stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf decken muss. Mit Nachdruck hatte das BVerfG hervorgehoben, dass das menschenwürdige Existenzminim migrationspolitisch nicht zu relativieren ist. Die Verfassungsrichter forderten vom Gesetzgeber nicht nur die unverzüglichen Änderung und Aufarbeitung dieses Leistungsregimes, sie setzten mit ihren Kernaussagen auch weitergehende Maßstäbe für das noch „neue“ Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.

Leistungs­kür­zung nach § 1 a AsylbLG

Die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG wurden für verfassungswidrig erklärt und dank der Übergangsregelung des BVerfG angehoben. Alle übrigen Reglungen und damit auch die Leistungskürzung nach § 1 a AsylbLG sind jedoch weiter in Kraft. Hiernach ist eine zeitlich unbegrenzte Anspruchseinschränkung für eine bestimmte Gruppe von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG vorgesehen, wenn diese sich (Nr. 1) entweder in das Bundesgebiet begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen oder (Nr. 2) bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Liegen die Voraussetzungen der Missbrauchstatbestände nach § 1a AsylbLG vor, erhalten die Betroffenen nur die zur Existenzsicherung „unabweisbar gebotenen“ Leistungen. Der Barbetrag zur Deckung der sog. „persönlichen Bedürfnisse“ gehörte nach den bisherigen Maßstäben nicht zu den unabweisbar gebotenen Hilfen und wurde in der Regel gänzlich versagt.

Streitstand in Politik und Recht­spre­chung

Dass sich das BVerfG auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG beschränkt hat, wird gern zum Anlass genommen, ihm ein beredetes Schweigen anzudichten und damit zu unterstellen, die Vereinbarkeit der Leistungskürzungen nach § 1 a AsylbLG mit dem GG nicht in Frage gestellt zu haben. Da der Gesetzgeber an der Regelung festhält, sind die Betroffenen erneut darauf angewiesen, ihre Ansprüche auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Aber auch ein Teil der Rechtsprechung hält die gesetzliche Regelung der Leistungskürzung in § 1 a AsylbLG weiterhin für verfassungskonform. Hier wird frei nach dem Motto „Recht ist, was (noch) Gesetz ist“ versucht, die Kernaussagen des BVerfG aufzuweichen und deren Reichweite und Aussagekraft herabzumindern. Andere Landessozialgerichte halten eine Absenkung der Grundleistungen jedenfalls bis zu einer gesetzlichen Neuregelung für unzulässig oder kommen zu dem Ergebnis, dass der Rechtsbegriff der „unabweisbar gebotenen“ Leistungen i.S. von § 1 a AsylbLG dahingehend auszulegen ist, dass der Leistungsumfang des menschenwürdigen Existenzminimums in Höhe der vom BVerfG vorgegebenen Übergangsregelung nicht unterschritten werden darf. Das Bundessozialgericht hat die Frage mangels Entscheidungserheblichkeit bisher offen gelassen, deren Klärungsbedürftigkeit aber ausdrücklich betont.

Verfas­sungs­ge­richt­liche Vorgaben zu § 1 a AsylbLG

Die Leistungskürzung nach § 1 a AsylbLG ist – anders als die Sanktionsregeln im SGB II/SGB II – ersichtlich keine Regelung zur Umsetzung des sozialhilferechtlichen Selbsthilfegrundsatzes, sondern rein migrationspolitisch motiviert. Das BVerfG hat unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die Vermeidung von Anreizwirkung für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau in der Bundesrepublik kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum zu rechtfertigen vermag. Die Annahme, dass das verfassungsgerichtliche Verbot der Relativierung des Existenzminimums aus migrationspolitischen Erwägungen nur allgemein für die Bemessung des Leistungsniveaus des AsylbLG aber nicht für den Einzelfall einer unter dieses Leistungsregime fallenden Person gelten sollte, ist nicht haltbar. Dies machen bereits die Worte des Vorsitzende, Prof. Dr. Kirchhoff, in der mündlichen Verhandlung hinreichend klar: „Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die schon, kann es doch wohl nicht sein.“ Das Verbot einer Leistungsabsenkung unter dem Aspekt der Verhinderung einer Anreizwirkung erfasst den Tatbestand der Kürzung wegen des Vorwurfs der Einreise zum Zweck des Leistungsbezuges (§ 1 a Nr. 1 AsylbLG). Das Verbot der Leistungskürzung zur „Abschiebung durch Aushungern“ erfasst den Tatbestand der Leistungskürzung, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus einem von dem Leistungsberechtigten zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können (§ 1 a Nr. 2 AsylbLG). +

Auswir­kungen der verfas­sungs­ge­richt­li­chen Vorgaben auf § 1 a AsylbLG

Was also, wenn jemand trotz festgestellter Ausreisepflicht im Bundesgebiet verbleibt? Darf man dann relativieren, abwägen und unter dem Deckmäntelchen fehlender ausländerrechtlicher Mitwirkungen, existenzsichernde Leistungen kürzen? Sind die Motive desjenigen, der mit allen erdenklichen Mitteln versucht, in Deutschland zu bleiben, von vornherein leistungsmissbräuchlich und darf eine Leistungsabsenkung dazu missbraucht werden, eine Ausreisepflicht durchzusetzen? Ist der Vorhalt, der Ausländer habe es doch schließlich selbst in der Hand, durch sein Verhalten/Mitwirkung die Leistungsvoraussetzungen zu erfüllen und so eine Kürzung oder den Wegfall existenzsichernder Leistungen zu vermeiden, gerechtfertigt?

Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der Bezug existenzsichernder Leistungen für die Zeit eines Arbeitsverbots ohnehin aufgezwungen und daher nicht vorwerfbar, da unvermeidbar ist.

Reist jemand unerlaubt und tatsächlich allein zum Zweck des Leistungsbezuges ein, kann sein Aufenthalt mit den dafür zur Verfügung stehenden ausländerrechtlichen Instrumentarien beendet werden. Der aus diesem Grund sanktionierte Hilfebedürftige hat es nach der Einreise selbst nicht mehr in der Hand, den zeitlich unbefristeten Zustand der Leistungsabsenkung durch eigenes Verhalten wieder zu beenden.

Die Nichterfüllung ausländerrechtlicher Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung ändert nichts an dem Zustand der Hilfebedürftigkeit. Der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann und muss in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht. Maßgeblich ist allein der gegenwärtige Bedarf selbst, nicht etwa die Gründe für die Hilfebedürftigkeit (BVerfG, Urt. v. 12.05.2005 – 1 BvR 569/05, Rn. 28). Fehlen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel, weil diese weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages unabhängig von den Gründen der Einreise und des Verbleibens verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen.

Die Leistungsabsenkung in § 1 a AsylbLG knüpft an der fehlenden Bereitschaft zur Ausreise an und nicht etwa an der fehlende Bereitschaft, die Hilfebedürftigkeit etwa durch den Einsatz von Arbeitskraft, Verbrauch vorhandener eigener Mittel o.ä. zu beenden. Sie folgt damit allein dem bedarfsfremden Ziel, die Zuwanderung zu begrenzen, die Rückkehrbereitschaft zu fördern und die Ausreisepflicht durchzusetzen. Rechtsuntreuem Verhalten im Zusammenhang mit dem unerlaubten Verbleib im Bundesgebiet ist aber mit den Mitteln des Ausländerrechts und des Strafrechts zu begegnen. Sofern eine Identitätstäuschung dazu dient, Leistungen zu beziehen, mag hierin ein Sozialhilfebetrug liegen. Die Identität lässt sich jedenfalls nicht durch eine Leistungskürzung klären. Hierfür stehen dem Ausländeramt Möglichkeiten wie der Abgleich der Fingerabdrücke, Vorführungen vor Botschaften etc. zur Verfügung. Eine Beugehaft zur Durchsetzung ausländerrechtlicher Mitwirkungspflichten ist unzulässig. Wie kann dann der Eingriff in das unverfügbare Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gerechtfertigt sein? Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist ein unverfügbares Menschenrecht und damit abwägungsresistent. Durch das Verbot, die in Artikel 1 GG garantierte Menschenwürde migrationspolitisch zu relativieren, kommt dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht nur eine reine Leistungs-, sondern auch eine Abwehrfunktion zu. Dies muss jedenfalls dann uneingeschränkt gelten, wenn das Ziel der Sanktion in keinem Zusammenhang zur Hilfebedürftigkeit steht. Andernfalls würde der Betroffene zu einem bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Der zeitlich unbefristeter Leistungsausschluss ist zudem zweifellos unverhältnismäßig.

Bis zu einer Klärung der Verfassungsmäßigkeit der Regelung in § 1 a AsylbLG bietet es sich an, über die tatbestandliche Rechtsfolge des § 1 a AsylbLG einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen, indem die Leistungen in Höhe der Übergangsregelung des BVerfG als „unabweisbarer Bedarf“ gewährt werden. De Grundsatzentscheidung des BVerfG verpflichtet jedenfalls Gesetzgeber und Rechtsprechung dazu, den Verfassungsanspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum als ein unverfügbares Menschenrecht endlich Verfassungswirklichkeit werden zu lassen, statt sie mit allen Mitteln zu umgehen.

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