Ernüchternde Bilanz des europäischen Menschenrechtsschutzes
Rezension zu Alvaro/Zorn: Die Situation der Grund- und Menschenrechte innerhalb der EU (Hamburg 2007).
Mitteilungen Nr. 200, Seite 30
Alexander Alvaro & Steffen Zorn:
Die Situation der Grund- und Menschenrechte innerhalb der EU.
Eine Analyse der rechtlichen und politischen Hintergründe.
(= Schriften zur Europapolitik Bd. 5)
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2007, 290 Seiten, Preis: 48,- €
ISBN-13 978-3-8300-3007-2
Sind staatliche Menschenrechtsverletzungen in den EU-Ländern nicht längst ein Teil unserer Vergangenheit? Ist der Schutz der Menschenrechte in Europa nicht umfassend gewährleistet? Sind Vorkommnisse wie die Cicero-Affäre oder geheime CIA-Verschleppungen nicht bedauernswerte Einzelfälle und Ausnahmen von der Regel? Mit einem klaren „Nein“ beantworten der deutsche Europaparlamentarier Alexander Alvaro (FDP) und sein Co-Autor und Steffen Zorn solche Fragen in ihrem Buch „Die Situation der Grund- und Menschenrechte innerhalb der EU“. Sie beschreiben darin das Spannungsverhältnis zwischen Programmatik und Realität des menschenrechtlichen Schutzes in der Europäischen Union. Die Missachtung von Grund- und Menschenrechte geschehe nicht nur in Einzelfällen, sondern werde durch institutionelle Mängel ermöglicht – Alvaro und Zorn machen dafür einen lückenhaften gesetzlichen Schutz der Menschenrechte in der EU verantwortlich.
Zunächst zeigen die Autoren die nachholende Entwicklung der Menschenrechte in der europäischen Gemeinschaft auf, die als Wirtschaftsgemeinschaft begann und erst später auch zur Wertegemeinschaft wurde. Sie zeigen, welche Institutionen für den Schutz der Menschenrechte innerhalb Europas zuständig sind, angefangen vom Europaparlament, über die EU-Komission bis zum Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. An der in den letzten Jahren versuchten Harmonisierung von Gesetzen zum Schutz der Menschenrechte kritisieren die Autoren, dass die EU-Vorschriften meist nur den kleinsten gemeinsamer Nenner darstellen und die Standards einiger Länder eher untergraben, als die anderer Länder anzuheben. Insbesondere das Scheitern der EU-Verfassung, mit der die Europäische Menschenrechtscharta erstmals für alle Mitgliedsstaaten verbindlich geworden wäre, habe bessere Menschenrechtsstandards verhindert.
Den Hauptteil ihres Buches widmen die Autoren einer Darstellung der Verletzungen von Menschenrechten in den 27 EU-Staaten sowie den drei Beitrittskandidaten Kroatien, Mazedonien und Türkei. Dafür greifen sie auf eine breite Basis an Quellen zurück, etwa die Berichten verschiedener EU-Institutionen und diverser Menschenrechtsorganisationen. Diese Quellen belegen, dass in den vergangenen Jahren ein deutlicher Wechsel in der Priorität staatlichen Handelns stattgefunden hat, vom Streben nach mehr Freiheit zum Streben nach mehr Sicherheit. Durch alle Kapitel des Hauptteils zieht sich dabei wie ein roter Faden immer wieder das Problem einer überzogenen Polizeigewalt, die oft auch mit einem unverhältnismäßig hohen Gebrauch von Schusswaffen einhergeht. Zur Aufklärung und Vermeidung solcher Übergriffe fehle es meist an unabhängigen Ermittlungseinrichtungen, die mit den Ermittlungen beauftragten Polizisten ermitteln oft nur zögerlich gegen eigene Kollegen. In einigen Ländern konstatieren die Autoren fast schon eine Straflosigkeit für Polizeigewalt.
Ausführlich widmen sich Alvaro und Zorn dem Umgang mit Minderheiten. Diese seien vor allem durch Polizeigewalt und Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie in ihrem Zugang zu Bildungsangeboten benachteiligt. In Zentraleuropa betreffe dies vor allem Muslime, denen beispielsweise in Dänemark die Fahrt in der U-Bahn verweigert wurde. In Osteuropa dagegen werden besonders Roma diskriminiert. Behörden versuchten ihre Ansiedlung zu verhindern, ihre Kinder bekommen eigene Schulklassen oder werden gleich in Sonderschulen abgeschoben. In Tschechien, der Slowakei und Rumänien komme es teilweise noch zu unfreiwilligen Sterilisationen von jungen Roma-Frauen, die von staatlicher Seite nicht ausreichend bekämpft und geahndet werden. In Estland und Lettland lebt die russische Minderheit, die zu Sowjetzeiten ins Land kam und nach der Unabhängigkeit nicht die neue Staatsbürgerschaft erhielt, nun vielfach staatenlos. Die Erlangung der Staatsbürgerschaft der jeweiligen Länder sei oft durch hohe bürokratische und andere Hürden verbaut.
Darüber hinaus beschreibt das Buch auch systematische Mängel des Rechtsstaates: In einigen europäischen Ländern sei die Unabhängigkeit der Justiz durch politisch gesteuerte Personalentscheidungen gefährdet. Die Arbeitsüberlastung der Justizbehörden führe dazu, dass sich viele Verfahren in die Länge ziehen und die Untersuchungshaft für Verdächtige unverhältnismäßig lang dauere. Hinzu komme, dass die Trennung zwischen Untersuchungshäftlingen und Verurteilten nicht immer aufrechterhalten wird. Weitere Mängel zeigten sich bei der Unterbringung von Jugendlichen und psychisch kranken Insassen, die oft nicht ihren Bedürfnissen entsprechend behandelt würden. Insgesamt seien die Zustände in Haftanstalten in vielen Ländern mangelhaft, in den Anstalten fehle es an medizinischer Versorgung, an Beschäftigungsmöglichkeiten für die Inhaftierten und genügend Einzelzellen.
Die ganze Liste der beschriebenen menschenrechtlichen Probleme in den europäischen Staaten ist so lang wie erschreckend. Sie umfasst Einschränkungen der Gewissensfreiheit, der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit ebenso wie offene Korruption, offene Gewalt gegen und verdeckte Diskriminierung von Frauen und nicht zuletzt die menschenunwürdige Behandlung von Migranten, die oftmals wie Verbrecher behandelt würden und nach Möglichkeit nicht in die EU einreisen sollen. Insgesamt liefert das Buch eine ernüchternde Bilanz der menschenrechtlichen Standards in Europa. Die Menschenrechte werden – so das Fazit der Autoren – in keinem europäischen Staat umfassend geachtet. Bei ihrem Ländervergleich schneiden Luxemburg und Schweden noch am besten ab. Das Buch bietet deshalb eine wertvolle Lektüre für all diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen in der Dritten Welt vermuten, vor der eigenen Haustür jedoch noch nicht wahrgenommen haben.
Thorben Olszewski
ist in der Humanistischen Union Berlin-Brandenburg aktiv