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Die Menschen­müll­kippe

Mitteilungen12/1998Seite 120

Mitteilung Nr. 164, S. 120

Motiviert durch den „Wissensdurst, das Interesse an der Entwicklung im Osten, die Neugier auf die PDS“, die Günter Harrer während einer Vortragsreihe in Baden auf Einladung des HU-Ortsverbandes Oberkirch erfahren hatte (wir berichteten in den HU-Mitteilungen vom Juni 1998, S. 46), hat HU-Mitglied Harrer nun ein Buch über seine Erfahrungen und Erlebnisse als Rechtssekretär des DGB in Thüringen und als parteiloser Abgeordneter für die PDS im thüringischen Landtag verfaßt: „Die Menschenmüllkippe“.
Ein „biograph-psycho-polit-Romanchen“, wie er es selber nennt; es berichtet über seine Erfolge und Mißerfolge, seine Enttäuschungen, seine Vorstellungen, wie man vieles hätte besser machen können. Daneben auch über private Erlebnisse.
Der Titel des Buches bezieht sich auf seinen spektakulärsten Fall: die Umstellung des VEB Zeiss Jena in die Jenoptik AG, ein Rationalisierungswerk des „Cleverle“ Lothar Späth, bei dem rund 10.000 Menschen arbeitslos wurden, nachdem sie zunächst in eine „Warteschleife“ geschickt worden waren. Ein weiterer Schachzug des Lothar Späth war, daß die Betriebsräte durch einen Gesamtbetriebsrat ersetzt wurden, der die Interessen des Unternehmens statt der Beschäftigten vertrat, womit der Mitbestimmung rein formal Genüge getan war, aber die Rechtsvertretung vor den Arbeitsgerichten (bei denen viele West-Richter beteiligt waren) keine Chancen mehr hatte. Die Richter beim Arbeitsgericht Jena sprachen selber von der „Menschenmüllkippe des Dr. Lothar Späth“.
Günter Haas (hinter diesem Namen versteckt sich Autor Günter Harrer) mußte erfahren, wie die Rechtsschutzabteilung des Gewerkschaftsbundes mehr als Diener von Lothar Späth denn als Vertretung von Arbeitnehmerinteressen anzusehen war.
Daneben hatte Harrer die Interessenvertretung von vielen Einzelentlassungen wahrzunehmen, die aus „persönlichen Gründen“, wegen „mangelnder persönlicher Eignung (womit natürlich ihre politische Vergangenheit, und sei es nur als Mitläufer, gemeint war) erfolgt waren. Es genügte bereits, als LehrerIn Staatsbürgerkunde unterrichtet zu haben.
Kaum verwunderlich, daß unter diesen Umständen die Akzeptanz der PDS stetig wuchs – der einzigen Partei, die sich noch für soziale Gerechtigkeit, für den Erhalt der Arbeitsplätze, die Lösung der Wohnprobleme usw. einzusetzen schien. So ließ sich Harrer 1994 von der PDS als „streitbarer Gewerkschaftler“ für ihre thüringische Landtagsfraktion anwerben.
Nachdem seine Arbeit in Jena zunächst darin bestanden hatte, Arbeitsplätze zu retten, machte er sich nunmehr daran, neue Beschäftigungsmodelle zu entwickeln; er setzte dabei seine Hoffnung auf die Europapolitik: Auf der Grundlage des Amsterdamer Vertrages und des sogenannten III. Sektors („Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor“) entwickelte er – eine Umsetzung auf Dorf- bzw. Stadtviertel-Ebene – die Modelle „Bischofferode“ und „Jena“. Zu diesem Verdruß kam es darüber – wie auch in anderen Fragen – zu Auseinandersetzungen mit der PDS-Fraktion. Am Herzen liegt ihm auch das jahrelang diskutierte „Linke Reformprojekt“: ein Reformbündnis von Sozialdemokraten, Grünen, Menschen- und Bürgerrechtlern, Humanisten, Gewerkschaftlern, Kirchen und Sozialverbänden, mitsamt der PDS, jedoch unter Ausschluß von Abgeordneten, die früher für die Stasi gearbeitet haben. Hierfür sieht Harrer in Thüringen keine Chancen.
Schließlich resignierte Harrer. Gesundheitliche Probleme kamen hinzu. Er beschloß, das nächste Mal nicht mehr für den Landtag zu kandidieren, wo er sich lediglich als „Diätenparasit“ vorgekommen wäre.
Er gibt zu, daß er in seinem Engagement dazu neigt, seine Freunde mehr zu attackieren als seine Feinde, und sein kämpferischer Geist resultiert wohl aus seiner schwierigen Kindheit und seiner Jugend und seinem unsteten Erwachsenenleben, worüber er durchaus freimütig berichtet. Diese seine Vergangenheit hat ihn aber auch einfühlsam werden lassen für die Existenzprobleme der Menschen und ihn in seinem Engagement bestärkt.

Irmgard Koll

Günter Harrer: Die Menschenmüllkippe, mit einem Vorwort des Verfassers, einer Einführung von Ursula Neumann, Illustration von Hans Jürgen Harrer, Das Buch erscheint März 1999 beim Verlag Edition Ost, Friedrichstr. 105 c, 10117 Berlin und ist dann auch in der HU-Bundesgeschäftsstelle erhältlich, für DM 15,–)

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