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Die verlorene Ehre des gläsernen Menschen

Mitteilungen11/2007Seite 30

Medienopfer im Internetzeitalter und die Verantwortung der Journalisten und Politiker, Mitteilungen Nr. 199 Seite 30

Die verlorene Ehre des gläsernen Menschen

Um es gleich zu sagen: Gmür gehts keinesfalls um Einschränkung oder gar Abschaffung der Pressefreiheit, sondern und das in sehr dezidierter Weise um den Schutz der individuellen Persönlichkeit vor ungestümer boulevardesker Aggressivität“ und „ehrenrühriger Bloßstellung und Beschimpfung„, um den „medialen Pranger“ und die Überwachung des „gläsernen Menschen„, um Mobbing und Stalking. „Der Medienstil hat sich in eine aggressiv verletzende Publizistik verwandelt. Die Boulevard- und Sensationsmedien betreiben immer mehr Hexenverbrennungen und Kopfjägerei bis hin zum Bluthundjournalismus. Sie frönen der Lust an Schlammschlachten und am Rufmord und üben sich recht eigentlich im Hinrichtungsjournalismus.“

Als Hauptmerkmale nennt Gmür: „übersteigerte Moralisierung“, „Gefühlspornographie“, „Appell an die niedrigsten Instinkte“ und Missbrauch von Menschen als Rohstoff für Sensationsproduktionen„.
Den „menschenverachtenden Praktiken des Sensationsjournalismus“ stellt er seine „medienethischen Leitlinien“ und Gebote für Medienschaffende“ gegenüber: Sie haben sich an jene drei Richtlinien zu halten, die auch für die ärztliche Kunst gelten:

  1. niemandem Schaden zufügen,
  2. richtig dosieren und
  3. Nebenwirkungen so weit wie möglich vermeiden.“

Im einzelnen:

  • Schutz der Privatsphäre,
  • Rücksicht auf Personen in Notsituationen,
  • Respektierung des Rechts auf Privatsphäre auch bei Personen des öffentlichen Lebens,
  • besonderer Schutz der Kinder,
  • Beachtung der Unschuldsvermutung bei der Prozessberichterstattung,
  • Verzicht auf Namensnennungen gegen den Willen der Betroffen ohne Legitimation durch das öffentliche Interesse,
  • Beachtung des Diskriminierungsverbotes und des Opferschutzes.“

Dazu bringt der gelernte Psychiater und Psychoanalytiker eine Fülle von Beispielen von Medienopfern, die „im Rampenlicht der Öffentlichkeit bloßgestellt, schlecht gemacht, entwürdigt worden sind“, besonders anschaulich die „Tribunalisierungsopfer“ ohne adäquate Möglichkeit zur Gegenwehr moralischer Beurteilung und Verurteilung“, und schließlich die Internetopfer: Die Auswirkungen einer falschen Mitteilung“ sind wegen der dauernden Verfügbarkeit von Informationen im Google-Zeitalter“ von nicht zu unterschätzender, potenziell nachhaltiger Wirkung„. Bei der ausführlichen Darstellung „Historischer Medienskandale“ („Heinrich Böll als Medienopfer„, die Kießling-Affäre u.a.) verstösst Mario Gmür aber bisweilen gegen die eigenen vorher aufgestellten „Gebote“: So schildert er in „Der Fall Borer 2002“ fast genüsslich ausladend das Privatleben Betroffener (einschließlich Sexualität), nennt Arbeitsstelle, Wohnort etc. und völlig überflüssige Details („Sie hatte von ihrem letzten Freund einen fünfjährigen Sohn, mit dem sie in einem tristen Wohnblock am Rande Südberlins wohnte„), und dann nennt er den vollen Vor- und Zunamen dieses inzwischen 10jährigen Kindes!
Die „Harden-Eulenburg-Affäre 1907-09“ ist für Gmür „ein Beispiel dafür, wie Moralisierung in der Öffentlichkeit als Mittel für politische Ziele eingesetzt wurde und nicht, wie heute […] üblich, vor allem zu Sensationszwecken und zur Aufmerksamkeitserregung.“ Hat der eine Ahnung! Ohne solche politisch gezielte „Moralisierung“ hätten wir womöglich eine baden-württembergische Ministerpräsidentin Schavan und einen CSU-Vorsitzenden Seehofer. Zwar ist es heute nicht mehr in erster Linie die Brandmarkung als (männlicher) Homosexueller. Dafür genügt es, jemand nur irgendwelche Beziehung zur Pädophilie-Szene anzudichten, um ihn rufzumorden. Das Buch schließt mit einem Appell an die Vernunft: „Medien können durch den Stil ihrer Berichte und Kommentare massenpsychologische Entartungen wie übertriebene Emotionalisierung, Hetze und Lynchjustiz steuern, fördern oder auch bremsen. […] Vornehmlich obliegt es ihnen, der kochenden Massenseele mit der Stimme mäßigender und kühlender Vernunft zu begegnen.
Ein überfälliges Buch!

Johannes Glötzner

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