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Reform und Neuaus­rich­tung der Bundeswehr - Auf dem Weg zur weltweiten "Heils-Armee" für Menschen­rechte, Frieden und Freiheit?

Mitteilungen Nr. 213 (2/2011)

1. Grundlinien der Bundes­wehr­re­form

Reform und Neuausrichtung der Bundeswehr liegen nunmehr in den Händen eines Mannes, der sich von seinem auf Dauer-PR getrimmten Vorgänger durch Unaufgeregtheit und große Verwaltungserfahrung unterscheidet: Thomas de Maizière. Nach den Reformplänen soll die Bundeswehr zukünftig weniger Soldaten haben, das Personal in der Verwaltung und im Verteidigungsministerium reduziert und die rund 400 Bundeswehr-Standorte neu zugeschnitten werden. Einspareffekte in Milliardenhöhe erhofft sich der Minister u.a. aus einer Neuordnung der Rüstungsbeschaffung. Thomas de Maizière stellte das Vorhaben in einer Regierungserklärung am 27. Mai 2011 im Bundestag vor. Nach der De-facto-Abschaffung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 setzt er auf die Verkleinerung der Truppe – statt der bisherigen 230.000 künftig maximal noch 185.000 Soldaten, und 55.000 statt 76.000 Zivilangestellte. Im Gegenzug will der Minister die Zahl der für Auslandseinsätze zur Verfügung stehenden Soldaten von bisher 7.000 auf 10.000 erhöhen.
Grundlagen der Reform sind der Bericht der Strukturkommission „Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz“, den deren Leiter, Frank-Jürgen Weise, im Oktober 2010 vorgelegt hatte. Zuvor hatte der Generalinspekteur der Bundeswehr seinen Sonderbericht präsentiert. Bereits der Koalitionsvertrag dieser Bundesregierung sah „Eckpunkte einer neuen Organisationsstruktur für die Bundeswehr inklusive der Straffung der Führungs- und Verwaltungsstrukturen“ vor.
Was der Verteidigungsminister dem Parlament als Reform präsentierte, hat es jenseits von Verschlankung, Effizienzsteigerung und Kostenreduktion allerdings in sich: „Es ist unsere nationale Zielvorgabe, langfristig zeitgleich rund 10.000 Soldatinnen und Soldaten in zwei großen und in mehreren kleineren Einsatzgebieten flexibel und durchhaltefähig für Einsätze im Rahmen des internationalen Krisenmanagements bereitstellen zu können“, erklärte der Minister im Bundestag. Die deutsche Öffentlichkeit, so der Minister weiter, müsse sich zukünftig auf mehr Auslandseinsätze vorbereiten – und rückte Pakistan, Jemen, Somalia oder Sudan in den Blick. [1] Er verband dies mit der Auffassung, die Armee sei als „Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens“ und als „Instrument der Außenpolitik“ zu verstehen; die sogenannte Sicherheitsvorsorge sei „erste Staatsaufgabe“. Insofern sind die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR), die auf den Vorgaben des Weißbuches der Bundeswehr (2006) aufsetzen, das eigentliche Schlüsseldokument der Neuausrichtung der Bundeswehr. [2]

2. Neue Entwick­lungen im Verhältnis von Militär, Gesell­schaft und Politik

Freiwillige vor?

Um die geplante Sollstärke der Bundeswehr einschließlich des erforderlichen Freiwilligen-Kontingents zu erreichen und genügend Auswahl bei den Bewerbern zu haben, müssen sich jährlich ca. 60.000 junge Männer und Frauen mit Interesse am Beruf des Soldaten oder einem bis zu 23 Monate dauernden freiwilligen Dienst einfinden. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die rund 400 durchs Land ziehenden Werber der Bundeswehr ihr Unternehmen als derart attraktiv darzustellen vermögen. Angesichts geburtenschwacher Jahrgänge und der zunehmenden Nachfrage nach Fachkräften in der Wirtschaft wird die Nachwuchswerbung immer härter.
Die Öffentlichkeitsarbeit für die Bundeswehr in Schulen sieht sich zudem mit zahlreichen Protesten von Seiten der Friedensbewegung, aber auch von Schülern und Eltern konfrontiert. Jene lassen ihre Kinder vom Unterricht befreien, in dem die Bundeswehr „Öffentlichkeitsarbeit“ (sprich: Werbung) macht. In der Kampagne „Schulfrei für die Bundes-wehr“ haben sich zahlreiche antimilitaristische, pazifistische und gewerkschaftliche Organisationen zusammengefunden. Inzwischen kündigen immer mehr zivile Kooperationspartner ihre Bundeswehrunterstützung auf – beispielsweise wurde die Bundeswehr von der Leipziger Buchmesse ausgeschlossen. [3] 
Der Fortfall von Zivildienstleistenden nach Aussetzen der Wehrpflicht und des Ersatzdienstes sorgt freilich für Engpässe im Sozialbereich. Dem versucht die Bundesregierung durch den neuen Bundesfreiwilligendienst gegenzusteuern, indem sie diesen neben das Soziale und Ökologische Jahr als drittes Standbein der Freiwilligendienste stellt – obwohl der Bund in den Bereichen, in denen die Zivis tätig waren, keine Kompetenz hat und der Zivildienst als Institution des Bundes nur zulässig war, weil er der Erfüllung der Wehrpflicht diente. Zur Achtung des Prinzips der Arbeitsmarktneutralität sind Arbeitgeber im sozial-karitativen Bereich dennoch verpflichtet, d.h. sie müssen regulär Beschäftigte einsetzen, wenn sie die Funktionsfähigkeit der sozialen Infrastruktur wahren wollen. Die entstehende Lücke sollte aber nicht überschätzt werden. In der Geschichte des Zivildienstes gab es wesentlich stärkere Einbrüche bei der Zahl der verfügbaren Zivis als jetzt nach Aussetzen der Wehrpflicht zu erwarten ist. In den Bereichen, in denen Zivildienstleistende beschäftigt waren oder noch sind, arbeiten rund 3,5 Millionen Menschen. Vor der Aussetzung der Wehrpflicht machten die Zivis im Jahr 2010 nur rund ein Prozent der dort Beschäftigten aus.
Die Umwandlung zur Berufs- und Freiwilligenarmee im Einsatz hat neben diesen Auswirkungen aber tiefgreifendere soziale und politische Folgen: Die Identität als „Staatsbürger in Uniform“ ebenso wie die gesellschaftliche Repräsentanz der Streitkräfte verändern sich.

Der „Staatsbürger in Uniform“ – das Stiefkind der Neuausrichtung (Klaus Naumann)

Der neue Soldat, den die Politik in alle Welt hinausschickt, sei „mehr Staatsakteur denn Gesellschaftsrepräsentant“, schreibt der Militärhistoriker Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung. [4] Gesellschaftsrepräsentant zu sein, war allerdings auch durch den Wehrdienst schon lange nicht mehr gewährleistet. Der geringe Anteil tatsächlich Eingezogener eines Jahrgangs machte die Formel von der Gesellschafts-Repräsentanz der Bundeswehr obsolet. Wäre es nicht zynisch, so könnte man in der Vermutung, dass mit der Freiwilligen-Armee die Tendenz zur Unterschichten- oder Prekariatsarmee wächst (Klaus Naumann), eine gesellschaftliche Spiegelung des Zwei-Drittel Gesellschaft und der mit dem abgehängten Unterschichtendrittel sehen. Michael Wolffsohn von der Bundeswehr-Akademie München warnt gar vor der „Ver-Ostung“ der Bundeswehr und vor einem „gesteigerten Todesrisiko für Ostdeutsche“. [5]
Es ist illusorisch anzunehmen, dass das von Wolf Graf von Baudissin in der Frühphase der Bundeswehr eingeführte Leitbild des Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ und die damit verbundene Philosophie der Inneren Führung in der Einsatzarmee bruchlos weitergeführt werden könnte. Nach Baudissin war es die Staatsbürgerlichkeit, die dem Soldaten Sinn, Überzeugung und Verantwortung für seinen Beruf als Garant der Sicherheit erschloss. Es bestand eine Schicksalsgemeinschaft zwischen Soldat und Gesellschaft durch die Latenz der Abschreckungsdrohung.
Bei der Suche nach der Identität wird die Tätigkeit in der Bundeswehr als „kein Beruf wie jeder andere“ (Thomas de Maizière), der neue Soldat als „demokratischer Krieger“ definiert: „… der Krieger oder ‚warrior‘ (ist) gekennzeichnet durch eine starke Wertgebundenheit, durch eine klare Distanz gegenüber der Zivilgesellschaft sowie durch ein hohes Maß an Professionalität. Die von Kriegern repräsentierten Werte spiegeln nicht die Werte der jeweiligen Gesellschaft oder Gemeinschaft wider. Sie sind nicht politisch oder ideologisch gefärbt, sondern rühren allein aus ihrer Zugehörigkeit sowie ihren besonderen Fähigkeiten her. Am nächsten kommen ihnen die mittelalterlichen Ritter. Wie diese verstehen sich Krieger als eine gesellschaftliche Elite.“ [6] Diffuser kann die hilflose Suche nach der Identität des Einsatz-Soldaten der Bundeswehr kaum sein.
Wie kann ein ungebrochen staatsbürgerlich-demokratisches Selbstverständnis der Einsatz-Soldaten denn auch angenommen werden, wenn ihr Auftrag auf Grundlagen beruht, die sie im Grundgesetz nicht finden und die sie folglich von einer Parlamentsmehrheit für das jeweilige Mandat ableiten müssen? Zumal diese Mandate oft nur vage und ohne die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Out-of-Area-Entscheidung (1994) geforderte Konkretheit formuliert sind, auf die eine Parlamentsarmee Anspruch hat. „Das Grundgesetz ist der blinde Spiegel der Bundeswehr. Die deutsche Arme schaut hinein, sie sieht sich aber nicht mehr. Die Bundeswehr im Sinne des Grundgesetzes ist Vergangenheit, es gibt sie nicht mehr. Von der neuen Bundeswehr findet sich aber in der Verfassung kein Wort“ [7], schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung mit Blick auf den Afghanistaneinsatz.

3. Staats­bürger in Uniform, aber ohne Grund­ge­setz: Zur Entgrenzung des Vertei­di­gungs- und Sicher­heits­be­griffs

In Artikel 87a beschreibt das Grundgesetz (GG) den Zweck der Streitkräfte: die Verteidigung. In Artikel 115a wird der Verteidigungsfall als ein begonnener oder unmittelbar bevorstehender bewaffneter Angriff auf Bundesgebiet definiert. [8]
Um zu verstehen, wie es kommen konnte, dass nach dem Ende der Systemkonfrontation im Kalten Krieg die von vielen erhoffte „Friedensdividende“ weitgehend ausblieb und den Streitkräften nach Wegfall des militärischen Gegners (Warschauer Pakt) neue Aufgaben zugeordnet wurden, sollte man sich jene Etappen vergegenwärtigen, die das Friedensgutachten 2011 als Marksteine im Prozess der Beseitigung des eng gefassten Verteidigungsauftrags des Grundgesetzes und als Entgrenzung der militärischen Instrumente beschreibt:
· Nach Auffassung von Sabine Jaberg bewirkt das Streitkräfteurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 erstens eine grundgesetzliche Entgrenzung. Auslandseinsätze gelten mit Bezug auf Art. 24 Abs. 2 GG seitdem auch jenseits der Selbstverteidigung als verfassungskonform, sofern sie im Rahmen friedenswahrender kollektiver Sicherheitssysteme stattfinden. Jaberg: „Während die Fachwelt hierunter Einrichtungen wie die UNO versteht, in denen alle potenziellen Widersacher ihre Sicherheit gemeinsam nach vereinbarten Normen und Regeln gewährleisten wollen, beziehen die Karlsruher Richter der Möglichkeit nach auch Militärbündnisse wie die NATO ein, in denen sich einige Staaten gegen äußere Bedrohungen zusammenschließen.“ [9]
· Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wurde der Beteiligung der Bundeswehr am Kosovokrieg der NATO (1999) ohne Mandat der Weltorganisation Vorschub geleistet. Jaberg: „Nur das fragwürdige Konstrukt der humanitären Intervention schützt hier vor dem Verdikt des Angriffskriegs.“ [10] Das markiere eine völkerrechtliche Entgrenzung, die im Weißbuch der Bundeswehr (2006) fortgeschrieben wurde. Seitdem gelte die Bundeswehr als Mittel zur „frühzeitigen Konflikterkennung, Prävention und Konfliktlösung“. [11] Die Beistandsverpflichtung für Bündnispartner wurde auf Krisen und Konflikte erweitert, „die zu einer konkreten Bedrohung eskalieren können“ (Hervorhebung Jaberg). [12] Ihr Resumee: „Militärische Generalprävention und Nothilfe auf Verdacht sind aber durch Völkerrecht gerade nicht gedeckt. Sie unterspülen das absolute Gewaltverbot der UNO-Charta.“ [13]
· Das Engagement der deutschen Streitkräfte in Afghanistan hat drittens zur Entgrenzung der Einsatzintensität beigetragen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Enttabuisierung des Kriegsbegriffs wider, der seit geraumer Zeit umgangssprachlich für die Situation am Hindukusch verwendet wird.
· Viertens finden kategoriale Entgrenzungen statt. Die Erweiterung des Sicherheits- und Verteidigungsbegriffs macht aus ihm eine „Catch-all-Kategorie“. In den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien werden darunter nunmehr so unterschiedliche Bereiche wie Recht, Wohlfahrt, Terrorismus und Pandemien gefasst. Zum anderen wird die Bundeswehr als „Instrument der Außenpolitik“ betrachtet. Jaberg: „Was auf den ersten Blick recht unscheinbar daherkommt, kann in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden: Wo Außenpolitik stattfindet, ist das nationale Interesse als Leitkategorie in der Regel nicht weit. Macht, Einfluss und Wohlstand stellen aber andersartige Orientierungsmuster dar als Sicherheit und Verteidigung. Bei den einen geht es um Gestaltung und Komfort, bei den anderen um Existenz. Für die einen gilt der Normalmodus, für die anderen der Ausnahmemodus – militärische Mittel eingeschlossen.“ [14]

Oberst Hannes Wendroth von der Führungsakademie der Bundeswehr erklärte kürzlich: „Für mich ist es selbstverständlich, dass wir als Instrument der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik auch dafür da sind, sichere Handelswege zu garantieren und zu gewährleisten.“ [15] Was noch im vorigen Jahr heftige Medienkritik hervorrief und zum Rücktritt des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler beitrug – nämlich seine Bemerkung über die im Notfall erforderliche militärische Sicherung von Handelswegen – ist für die Bundeswehrführung inzwischen selbstverständlich und sorgt kaum mehr für Aufregung. So wird der Einsatz der Marine am Horn von Afrika nicht nur als Maßnahme zur Bekämpfung des transnationalen Terrorismus, sondern ebenso als Schutz dieser für den „Welthandel strategisch wichtige[n] Seepassage“ betrachtet. [16] Das Friedensgutachten 2011 schlussfolgert: „Noch ummanteln hier UNO-Mandate und Völkerrecht die militärisch gestützte Verfolgung nationaler Interessen. Aber immer stärker drängt die Politik auf deren Freilegung. Die bisherige hidden agenda mutierte dann zum Hauptmotiv für militärische Einsätze, die einer weiteren Rechtfertigung nicht mehr bedürften … Damit droht eine weitere Schranke beim Streitkräfteeinsatz zu fallen. Bis auf den militärischen Alleingang jenseits nationaler Rettungs- und Evakuierungsoperationen und den erklärten Angriffskrieg wäre demnach fast alles erlaubt.“ [17]

4. Der Tunnelblick des Militä­ri­schen

Nicht „vom Einsatz her denken“ (so der Berichtstitel der Strukturkommission), sondern von der Einsatzvermeidung ist Sache der Friedenswissenschaft und der Friedensbewegung. Für die Bundeswehrreform bringt das einen Perspektivwechsel weg vom Militärischen hin zu den Möglichkeiten ziviler Krisenprävention und Konfliktbewältigung. Zwar ist auch in den verteidigungspolitischen Richtlinien vom 27. Mai 2011 und in der jüngsten Regierungserklärung des Verteidigungsministers von den zivilen Ansätzen im Konzept der „vernetzten Sicherheit“ die Rede. Wer allerdings in den verteidigungspolitischen Richtlinien nach Erwähnung des im Jahr 2004 verabschiedeten Aktionsplans der Bundesregierung „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ und den Ergebnissen seiner Umsetzung sucht, wird enttäuscht.
Der politischen Geringschätzung dieser seinerzeit mit insgesamt 160 vorgeschlagenen zivilen Aktionen bedeutenden Initiative entspricht die im Bundeshaushalt 2011 erfolgte Kürzung der Mittel für den Titel Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung. Auch wenn die Bundesregierung das Gegenteil behauptet: Diese Kürzung der Mittel für zivile Krisenprävention gegenüber 2010 konnte die Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung, Dr. Ute Finckh, nach kritischer Sichtung der durch zahlreiche Umschichtungen im Bundeshaushalt nur schwer herzustellenden Vergleichbarkeit der jeweiligen Titel kürzlich nachweisen. [18]
Dass der militärische Aufwand der Deutschen im Afghanistan-Krieg im Verhältnis zu zivilen Maßnahmen (u.a. Entwicklungszusammenarbeit) rund vier zu eins beträgt, beklagen Friedensbewegung und Bürgerrechtsgruppen seit langem. Diese Fixierung aufs Militärische wiederholte der überwiegende Teil der Medien sehr deutlich in der Libyen-Diskussion um die „Responsibility to Protect“ (R2P). Jene fand im Jahr 2005 Eingang in UN-Dokumente und ist seitdem primäre Rechtfertigung für militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte. In der Debatte um R2P wird jedoch ausgeblendet, dass die Schutzverantwortung einen Schwerpunkt auf den Präventionsaspekt und den Einsatz ziviler Mittel sowie Diplomatie vorsieht. In diesem Sinne hätte die jahrzehntelange Unterstützung autokratischer Herrschaftssysteme beispielsweise in Nordafrika – politisch, aber auch durch Rüstungslieferungen – schon im Vorfeld der aktuellen Krise die Aufmerksamkeit der offiziellen Politik, aber auch der Friedensbewegung und von Bürgerrechtsgruppen finden müssen.

5. Ausblick

Was vor Jahren mit einem Lazarettschiff nach Vietnam, der Einrichtung eines Lazaretts in Kambodscha und einer logistischen Unterstützung für Somalia als humanitäre Hilfeleistung durch die Bundeswehr begann, was durch militärische Einsätze im Namen sogenannter „humanitärer Interventionen“ ohne (Jugoslawien) oder mit UN-Billigung (Afghanistan) weiter getrieben wurde, hat die Zweckbestimmung der Bundeswehr von der einstigen Verteidigungsarmee hin zur gewissermaßen weltweiten „Heils-Armee“ für Menschenrechte, Frieden und Freiheit verschoben. In diesem Sinne beschrieb Verteidigungsminister de Maizière im Gespräch mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider beim Evangelischen Kirchentag im Juni 2011 in Dresden die Rolle der Bundeswehr im Einsatz.
Aufklärung über Krieg und Frieden ist dadurch für Bürgerrechts- und Friedensgruppen nicht einfacher geworden. Gilt es doch, immer erneut den Nachweis zu führen, dass ernsthafte politische Bemühungen um Lösungen oder Konfliktentschärfungen im Vorfeld militärischer Aktionen – wie häufig in der Vergangenheit – defizitär sind. Und immer erneut ist zu belegen, dass militärisches Eingreifen und Humanität ein Widerspruch ist, weil die menschlichen und materiellen Opfer auch des vermeintlich gerechten Krieges unermessliches Leid bedeuten. [19] Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht entfällt zudem für Tausende junger Leute die kritische Auseinandersetzung mit drohendem Kriegsdienst und dem damit verbundenen Eingriff in ihre Freiheitsrechte. Die neuen „zivilen“ Jahrgänge anzusprechen, ist besondere Herausforderung für Friedens- und Bürgerrechtsgruppen. Themen gibt es genug auch jenseits des notwendigen Protestes gegen den Afghanistan- und den Libyen-Krieg: die Rüstungsexporte Deutschlands als drittgrößtem Rüstungslieferanten der Welt; die Abschaffung der atomaren Bewaffnung, aber auch kritisches Monitoring bei Versuchen, in Deutschland eine eigene Militärgerichtsbarkeit für die Einsatz-Soldaten einzuführen; ebenso kritisches Monitoring bei Versuchen, nach dem „Kippen“ der Abschussbefugnis im Luftsicherheitsgesetz durch das Bundesverfassungsgericht eventuell erneut Rechtsgrundlagen zu schaffen für den Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Mitteln im Innern jenseits von Katastrophenschutz und Amtshilfe.

Werner Koep-Kerstin
ist Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union
und dort für den Bereich Friedenspolitik zuständig.

(1) FAZ-Interview vom 27.5.2011.
(2) Verteidigungspolitische Richtlinien v. 27.5.2011, in: www.bmvg.de.
(3) Vgl. Michael Schulze von Glaßner: An der Heimatfront. Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr, Köln 2010.
(4) Klaus Naumann: Das Militär der Gesellschaft, in: Frankfurter Rundschau v. 7.6.2011, S. 32.
(5) zit. nach Süddeutsche Zeitung v. 18./19.6.2011, S. 8.
(6) Andreas Herberg-Rothe u. Ralph Thiele, Vom Staatsbürger in Uniform zum demokratischen Krieger, in: vorgänge 193 (1/2011), S. 33.
(7) Süddeutsche Zeitung v. 25.1.2010.
(8) Vgl. Martin Kutscha: „Verteidigung“ – vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, in: Kritische Justiz 2004, 228; vgl. auch Sven Lüders u. Rosemarie Will: Das neue Weißbuch und die Militarisierung der deutschen Innen- und Außenpolitik, in: Mitteilungen Nr. 195 (2006), S. 8-11
(9) Sabine Jaberg: Bundeswehrreform – technokratische Optimierung im Raum unbegrenzter militärischer Möglichkeiten, in: Friedensgutachten 2011, hrsg. v. Margret Johannsen et al. Berlin 2011, S. 313, abrufbar unter http://www.friedensgutachten.de/index.php/id-2011.html. Die indifferente Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichts auf „friedenswahrende kollektive Sicherheitssysteme“ behandelt ausführlich: Dieter Deiseroth, Das Friedensgebot des Grundgesetzes. Anspruch und Wirklichkeit nach sechzig Jahren, in: vorgänge 189 (1/2010), S.103-115.
(10) ebd.
(11) Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006, S. 20, zit. nach Jaberg 2011, S. 313 f.
(12) Jaberg 2011, S. 314.
(13) ebd.
(14) ebd.
(15) Interview im Deutschlandradio am 6.6.2011.
(16) Deutscher Bundestag, Drs. 16/3150 v. 25.10.2006, S. 2, zit. nach Jaberg 2011, S. 314.
(17) Jaberg 2011, S. 315.
(18) Ute Finckh: Zivile Konfliktbearbeitung und zivile Krisenprävention, in: vorgänge 193 (1/2011), S. 135.
(19) Vgl. Gustav Heinemann-Initiative: Gerechter Friede statt ‚gerechter‘ Krieg. Diskussionspapier vom 2.2.2005, abrufbar unter www.humanistische-union.de/themen/frieden.

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