Publikationen / vorgänge / vorgänge 09-2007

Toleranz braucht Grenzen

Ein Plädoyer für Kulturpluralismus und gegen Kulturrelativismus

aus: vorgänge Heft 09/2007, S. 110-119

1.Ein­lei­tung und Frage­stel­lung

Wovon soll der Umgang mit Menschen anderer ethnischer, kultureller und religiöser Ausrichtung geprägt sein?[1] Von Toleranz, um in gegenseitigem Respekt zusammen zu leben, lautet die eine Antwort. Diese Einstellung und Verhaltensweise gilt als ein Grundmerkmal pluralistischer Gesellschaften, erlaubt sie doch erst die Koexistenz verschiedener Auffassungen und Praktiken. Entgegen der identitären Gesellschaftsauffassung bestehen unterschiedliche Einstellungen und Interessen auf den verschiedensten Ebenen, welche bei jeweiliger Absolutsetzung zu ständigen Konflikten führen würden. Darüber hinaus sollte aufgeklärten Individuen die Einsicht in die Fehlbarkeit der eigenen Vernunft und in die produktive Wirkung eines Wettstreits von Ideen eigen sein. Insofern steht Toleranz auch für ein realistisches Bild von Gesellschaft und für den produktiven Umgang mit Differenzen. Es handelt sich außerdem um den Ausdruck einer gegenseitigen Anerkennung von Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen.

Gegenwärtig kann man allerdings häufig eine andere Antwort auf die einleitende Frage hören: Von Intoleranz, um die Werte der Aufklärung zu verteidigen, meint diese Stellungnahme. Für sie stehen Buchtitel wie „Falsche Toleranz” oder „Tödliche Toleranz“.[2] Zugespitzt formuliert diese Position der Publizist Henryk M. Broder, der hinter Toleranz eine von „Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit” geprägte Einstellung gegenüber Fanatikern und Fundamentalisten sieht: „Wer heute die Werte der Aufklärung verteidigen will, der muss intolerant sein, der muss Grenzen ziehen …“[3] Doch schließt die Forderung nach Toleranz notwendigerweise die Duldung der Diskriminierung von Frauen und des Verbotes eines Religionswechsels ein? Oder um es angesichts der gegenwärtigen Debatte grundsätzlicher zu formulieren: Ist nun Toleranz eine Tugend oder eine Untugend? Die aktuelle Kontroverse dazu wird zwar emotional und zugespitzt geführt, vermeidet dabei aber meist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Toleranz.

Dazu will die vorliegende Abhandlung einen Beitrag leisten, indem zunächst eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Toleranz-Verständnis und der ihm eigenen dialektischen Dimension der Ablehnung und Akzeptanz erfolgt (2.). Die Klarheit über die unterschiedlichen Ebenen, Grenzen und Konzeptionen der Toleranz erlaubt erst eine genauere Positionierung (3.). Sie artikuliert sich auch in einer dezidierten Ablehnung des Kulturrelativismus als Ausdruck einer kritikwürdigen Indifferenz (4.) und der Orientierung an einem Kulturpluralismus als Alternative der wertgebundenen Toleranz (5.). Daraus ergeben sich Minimalbedingungen für das soziale Miteinander in der multikulturellen Gesellschaft für Tolerierende wie Tolerierte (6.), welche bei den praktischen Auswirkungen sowohl Benachteiligungen wie Bevorzugungen von Menschen mit anderer ethnischer oder religiöser Prägung ausschließen. (7.). Abschließend sollen nicht zu leugnende Ambivalenzen und Probleme des Kulturpluralismusverständnisses benannt werden (8.).

2. Die dialek­ti­sche Dimension des Toleranz­ver­ständ­nisses

Der Begriff „Toleranz” wird alltagssprachlich wie philosophisch[4] unterschiedlich verwendet: Das Verständnis bewegt sich je nach Akteur und Situation zwischen gegenseitigem Respekt und herablassender Duldung, artikulierter Indifferenz und inhaltlichem Relativismus, gegenseitiger Nächstenliebe und sozialem Nihilismus. Insofern gilt „Toleranz” als umstrittener Begriff, der nur schwer definiert und eingeschätzt werden kann. Zu einem genaueren Verständnis regt die Definition aus dem technischen Bereich an, wo man damit eine noch akzeptable Abweichung von einer Norm meint. Dies veranschaulicht folgendes Beispiel: Schlage ich einen Nagel in die Wand, um ein Bild aufzuhängen, ist eine gewisse Schiefe tolerabel, solange das Bild hängen bleibt. Demnach lassen sich auch gegenläufige oder -teilige Tendenzen dulden, aber nur so lange die beabsichtigte Funktion noch besteht oder die gewünschte Zielsetzung erreichbar bleibt. Hier ist demnach Toleranz ein Spannungsverhältnis von Abweichung und Akzeptanz eigen.

Im gesellschaftlichen Miteinander steht Toleranz für die Koexistenz unterschiedlicher Einstellungen und Verhaltensweisen, die aber die Basis für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben nicht gefährden dürfen. Somit lässt sich auch hier eine Ablehnungskomponente, also eine negative Bewertung als Falsches, und eine Akzeptanzkomponente, also eine positive Bewertung zur Duldung, ausmachen.[5] Gerade in dem damit verbunden Spannungsverhältnis besteht die dialektische Dimension der Toleranz. Hier könnte auch von einer Paradoxie gesprochen werden, gilt es doch folgende Frage zu beantworten: Warum soll etwas als falsch oder unmoralisch geltendes trotzdem anerkannt und geduldet werden?[6] Genau diese Problematik macht eine Definition des mit Toleranz als Einstellung oder Gebot Gemeintem so schwer. Letztendlich bedarf es bei jeder Begriffsverwendung einer Rückfrage dahingehend, was jeweils aus welchen Gründen Gegenstand der Toleranz sein soll und worin dafür konkret die Grenzen bestehen.

Insofern unterscheidet sich ein solches Verständnis von Toleranz mit der klaren inhaltlichen Positionierung sowohl von einer Bejahung wie von einer Indifferenz. Es bleibt immer mit einer ablehnenden oder distanzierten Position gegenüber dem Gemeinten verbunden. Bei der damit einhergehenden negativen Bewertung müssen aber in der Abwägung die positiven Gründe für die Anerkennung oder Duldung überwiegen. Ansonsten bestünde ein grundlegender Widerspruch zwischen dem Konstatieren von etwas Falschem, Kritikwürdigem oder Verwerflichem und dem Gewährenlassen dieses Falschen, Kritikwürdigen oder Verwerflichen. Somit sollte das Plädoyer für Toleranz auch die Grenzen benennen, welche darüber hinaus weisende Einstellungen und Handlungen nicht mehr duldet. Gerade diese besondere Dimension geht häufig bei der Begriffsverwendung und Reflexion in der aktuellen Debatte verloren und erklärt die klischeehafte und oberflächliche Nutzung des Terminus im Sinne eindimensionaler Bekenntnisse.

3. Die unter­schied­li­chen Ebenen, Grenzen und Konzep­ti­onen der Toleranz

Worin bestehen nun die notwendigen Grenzen der Toleranz? Einzelne Positionen und Verhaltensweisen dürfen nicht so weit gehen, die Grundlagen für ein allseitiges und gleichrangiges Miteinander aufzuheben. Kurzum, die Toleranz hört dort auf, wo ihre Voraussetzungen zur Disposition gestellt werden sollen. Die von gegenseitigem Respekt geprägte Koexistenz unterschiedlicher Einstellungen und Handlungen lässt sich nur umsetzen, wenn alle Beteiligten an bestimmte Minimalbedingungen in Gestalt von Normen und Regeln gebunden sind. Der US-amerikanische Sozialphilosoph John Rawls sprach von einem „übergreifenden Konsens“[7], der von allen gesellschaftlichen Gruppen und einzelnen Individuen geteilt werden sollte. Zu dessen inhaltlichen Bestandteilen zählen zum einen die Gewährung der Menschenrechte und zum anderen die Einhaltung der Gesetze. Darüber hinaus können sich die unterschiedlichsten ethischen, politischen und religiösen Auffassungen ungehindert artikulieren.

Bei den ihnen zugestandenen Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten im Sinne der Toleranz lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: die persönliche Einstellung, also die individuelle Position zu einer Frage, und die rechtliche Normierung, also die staatliche Garantie derartiger Rechte. Beide Einstellungen zur Toleranz können, müssen aber nicht übereinstimmen, da sie auf voneinander unabhängig entstandenen Auffassungen gründen. Dies sei anhand des aktuellen Beispiels der geplanten Moschee-Bauten[8] erläutert: Aus einer persönlichen Perspektive kann man dies ablehnen, führt doch die Errichtung von solchen nicht nur religiös genutzten Einrichtungen eher zu einer gesellschaftlichen Desintegration von Muslimen. Aus einer rechtlichen Perspektive lässt sich kaum etwas dagegen einwenden, da der Bau einer solchen Einrichtung eben auch Ausdruck von Religionsfreiheit und anderen Grundrechten ist. Einseitige Einschränkungen in dieser Frage würden die allseitige Geltung der erwähnten Minimalbedingungen aufheben.

Wie steht es bei dem skizzierten Verständnis von Toleranz nun um das Verhältnis von Tolerierenden und Tolerierten bzw. welche Varianten sind möglich? Mit dem Philosophen Rainer Forst können folgende Konzeptionen unterschieden werden: Erstens gehört dazu eine Erlaubnis-Konzeption, wobei eine Autorität oder Mehrheit einer von deren Wertvorstellungen abweichenden Minderheit gestattet, gemäß den ihnen eigenen Auffassungen zu leben. Die zweite Variante der Koexistenz-Konzeption geht demgegenüber davon aus, dass es zwischen Tolerierenden und Tolerierten ein gleichrangiges Verhältnis gibt und die Tolerierenden auch Tolerierte sind. Drittens zählt dazu die Respekt-Konzeption, die von einer wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen und Gruppen als gleichberechtigte Mitglieder ausgeht. Und als vierte Variante gilt die Wertschätzungs-Konzeption, die andere kulturelle oder religiöse Gemeinschaften nicht nur als gleichrangig respektiert, sondern auch als ethisch wertvoll schätzt.[9]

4. Kultur­re­la­ti­vismus als Ausdruck einer kritik­wür­digen Indifferenz

Das vorgenannte Toleranzverständnis richtet sich auch gegen einen Kulturrelativismus[10], der alle Erscheinungsformen angeblicher kultureller Identität“[11] duldet. Ihr wird damit eine eigene Wertschätzung zuteil, unabhängig von deren Bestandteilen wie der Bedeutung des Individuums oder der Rolle der Frau. Eine kulturrelativistische Auffassung geht davon aus, dass die Koexistenz unterschiedlicher Kulturen wünschenswert ist, sie in ihren Ausprägungen um der Toleranz willen bewahrt werden sollen und sich daher in sie hinein wirkende Forderungen verbieten. Alltagssprachlich findet man diese Haltung in dem Sprichwort „Andere Länder, andere Sitten”. Damit verweigert sich ein solcher Relativismus aber der Auseinandersetzung mit den Normen, die mit den Worten des italienischen Sozialphilosophen Paolo Flores d’Arcais „in ‚anderen Kulturen‘ die bürgerlichen Rechte des Individuums verletzen“[12]. Die These von der Gleichrangigkeit aller Kulturen negiert den unterschiedlichen Entwicklungsstand der Menschenrechte in den Kulturen.

Exemplarisch für eine kulturrelativistische Position stehen die folgenden Aussagen des früheren italienischen Innenministers, Ministerpräsidenten und Staatspräsidenten Francesco Cossiga, die das ehemalige Mitglied der christlich-demokratischen Partei „Democrazia Cristiana” einige Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in einem Kommentar formulierte: „Wir müssen den islamischen Gemeinden in unserem Land volle Autonomie einräumen – auch für ihre herkömmlichen, ureigenen und grundlegenden Institutionen. Das betrifft nicht nur die religiöse Praxis in Moscheen oder auf Straßen und Plätzen. Wir müssen ihnen auch das Recht einräumen, bei uns ihre Vorstellungen und ihre Praxis von Ehe und Familie aus zu leben und zu verwirklichen. Das schließt auch die Polygamie, das Recht auf Verstoßung der Ehefrau sowie die Herrschaft des Mannes in der Familie ein.“[13] Die damit eingeforderte Respektierung des Islam würde somit die Herabwürdigung der Frau als legitimen Ausdruck kultureller Identität der Muslime ansehen.

Eine solche Wertebeliebigkeit im Multikulturalismus-Diskurs führt zur Fragmentierung der Gesellschaft, nicht zur Integration in die Gesellschaft. Diese Positionen gehen davon aus, dass eine Koexistenz von Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit allgemein wünschenswert ist, ohne dafür genauere Kriterien oder Voraussetzungen zu benennen. So bleibt weder die Situation in den jeweiligen Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund noch deren Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft an bestimmte Normen oder Regeln gebunden. Gerade die allgemeine Wertschätzung von anderen Kulturen als andere Kulturen führt somit zu Abschottung und nicht zu Integration. Vor allem in den sich herausbildenden Parallelgesellschaften[14], die um der angeblichen oder tatsächlichen Wahrung der kulturellen Identität willen entstehen, kommt es zu einer solchen Segregation. Sie bedingt nicht nur Spannungen mit der Mehrheitsgesellschaft, sondern gestattet auch die Fortexistenz bedenklicher Einstellungen.

5. Der Kultur­plu­ra­lismus als Alternative der wertge­bun­denen Toleranz

Welche Auffassungen können nun einem mit dem Kulturrelativismus einhergehenden kollektivistischen und werte relativistischen Verständnis entgegen gestellt werden?[15] Nach den obigen Ausführungen bedarf es dafür eines Konzeptes, das einerseits das gesellschaftliche Miteinander der Angehörigen unterschiedlicher Kulturen ermöglicht, andererseits aber auch dafür ein verbindliches Regelwerk benennt. Letzterem bedarf es, um ersteres zu garantieren. Dabei entsteht verständlicherweise ein nicht zu leugnendes Spannungsverhältnis: Die freie Entfaltung unterschiedlicher kultureller Werte ist nur dann möglich, wenn alle Akteure eben diese Möglichkeit auch den jeweils anderen Akteuren einräumen. Insofern ist denn auch die Voraussetzung für die Anwendung solcher Freiheiten nicht deren Absolutsetzung und Willkürlichkeit, sondern ihre Anbindung und Eingrenzung. Die allseitige kulturelle Freiheit setzt die gesamtgesellschaftlich gesicherte Garantie für ihr Ausleben voraus.

Angesprochen ist damit ein Verständnis von Pluralismus, das als Alternative zum vorgenannten Werterelativismus dienen kann. Anknüpfungspunkt für dessen inhaltliche Bestimmung sollen die bisherigen Auffassungen zur Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders von Bürgern in einem Nationalstaat sein. Für den Politologen Ernst Fraenkel konnte in seiner Pluralismustheorie kein politisches Gemeinwesen lebensfähig sein, dessen Normensystem nicht auf einem anerkannten Wertkodex beruhte. Auch in einer pluralistischen Demokratie müssten alle Beteiligten an einen Rahmen gebunden sein, wozu neben rechtsstaatlichen Verfahrensregeln auch inhaltliche Wertvorstellungen gehörten. Ihn bezeichnete Fraenkel als den „nicht-kontroversen Sektor”, der einen allgemeinen Konsens für die Regelung von Auseinandersetzungen absteckte.[16] Es handelt sich dabei um die Minimalbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates, also Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität.

Diese Überlegungen können auch auf die inhaltliche Gestaltung eines Kulturpluralismus übertragen werden. Doch welche Regelungsformen und Wertvorstellungen gelten dabei als „nicht-kontroverser Sektor”? Sie dürften erstens nicht aus den Besonderheiten nur einer Kultur abgeleitet werden, würde dies doch zu deren Dominanz führen und die Akzeptanz Anderer verhindern. Und sie müssten zweitens in möglichst vielen Kulturen zumindest latent vorhanden sein, woraus sich Anknüpfungspunkte für ihre Etablierung als Bestandteile eines „nicht-kontroversen Sektors” ergeben. Ein solcher hätte eine ein- als auch eine ausschließende Dimension, d. h. von seiner inhaltlichen Benennung hängt ab, welche Individuen und Positionen innerhalb einer Gesellschaft auf Basis einer kulturpluralistischen Grundlage ihre Freiheiten unter Wahrung ihrer kulturellen Identität entfalten können oder daran gehindert werden. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit können als Kern eines solchen „nicht-kontroversen Sektors” gelten.

6. Minimal­be­din­gungen der Toleranz in der multi­kul­tu­rellen Gesell­schaft

Ein Kulturpluralismus auf Basis dieser Minimalbedingungen steht nicht für „Eurozentrismus”, sondern bildet erst die Grundlage der Toleranz. Gegen eine Anbindung des sozialen Miteinanders an Kriterien wie die Menschenrechte wird wie von dem oben zitierten Francesco Cossiga mitunter der Einwand erhoben, es handele sich um „Kulturimperialismus” oder „Menschenrechtsfundamentalismus”, übertrage man dabei doch westliche Wertvorstellungen auf Angehörige anderer Kulturen. Dem wäre entgegen zu halten, dass es sich bei den genannten Prinzipien durchaus mit den Worten des Philosophen Otfried Höffe um Bestandteile eines „interkulturellen Rechtsdiskurses“[17] handelt. Sie bildeten sich historisch-politisch bedingt in bestimmten Regionen der Welt weniger oder stärker aus. Für die Frage der Toleranz in den europäischen Nationalstaaten spielt darüber hinaus dieser Einwand ohnehin keine Rolle, geht es doch um die Grundlage für die gesellschaftliche Koexistenz ebendort in Form des gegenseitigen Respektes.

Über die Minimalbedingungen für Anerkennung oder Duldung entscheidet die Mehrheitsgesellschaft, welche damit auch ihr Selbstverständnis artikuliert. Die vorstehenden Voraussetzungen für Integration und Toleranz dürften nicht jedem Menschen mit Migrationshintergrund entgegenkommen, gleichwohl sind sie zur Wahrung des sozialen Miteinanders in gegenseitiger Anerkennung notwendig. Die Mehrheitsgesellschaft kann solche Anforderungen an Migranten richten, treten diese doch mit eigenen Interessen und Wünschen an sie heran. Dies erlaubt es, ein entsprechendes Anforderungsprofil für Aufenthalt und Garantien, Pluralismus und Toleranz als Gegenleistung zu benennen. Gleichwohl gilt auch in der umgekehrten Perspektive, dass der Umgang mit Migranten Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Mehrheitsgesellschaft erlaubt. Deren Verhalten steht mit für die Akzeptanz der individuellen Grundrechte, das Ausmaß der vorhandenen Toleranz und den Entwicklungsstand des kulturellen Pluralismus.

Zu den Minimalbedingungen gehören die Kenntnis der deutschen Sprache, die Akzeptanz der Menschenrechte und die Einhaltung von Recht und Gesetz. Bezogen auf den Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund stellt das erstgenannte Merkmal keineswegs primär den Ausdruck einer besonderen kulturellen Wertschätzung dar. Vielmehr bildet die Beherrschung der Landessprache die entscheidende Voraussetzung für Kommunikation, welche erst die formale Möglichkeit für soziales Miteinander schafft. Die Akzeptanz der Menschenrechte bildet demgegenüber die normative Grundlage für Toleranz, und insofern sind sie auch allen Bestandteilen der jeweiligen kulturellen Identitäten übergeordnet. Ein abwertendes Frauenbild mag ein Kulturrelativismus, aber nicht ein Kulturpluralismus akzeptieren. Ähnlich verhält es sich bei der Einhaltung von Recht und Gesetz, wobei diese Minimalbedingung über die Selbstverständlichkeit hinausgeht. Auch im Namen kultureller Identität lassen sich Ausnahmen nicht rechtfertigen.

7. Praktische Auswir­kungen der Konzeption des Kultur­plu­ra­lismus

Welche praktischen Auswirkungen hätte die Konzeption des Kulturpluralismus über das bisher Ausgeführte hinaus. Als Grundsatz dafür kann gelten: Menschen mit einer anderen ethnischen oder religiösen Prägung dürfen keine Benachteiligung erfahren, aber auch keine Bevorzugung erhalten. Die Gewährung der Menschenrechte steht auch für die Ausübung der Religionsfreiheit, sofern diese nicht andere Grundrechte beschneidet. Um noch einmal an das bereits erwähnte Beispiel anzuknüpfen, bedeutet dies auch, dass sich der Bau einer Moschee nicht untersagen lässt. Sind alle Voraussetzungen formaler Art wie eine baurechtliche Genehmigung erfüllt, handelt es sich um ein legitimes Anliegen. Ein anderer Wille aus der Mehrheitsgesellschaft kann dem nicht entgegen wirken, steht doch keines der Grundrechte zur Disposition einer Mehrheitsentscheidung. Gleichwohl müsste es auch im Interesse islamischer Organisationen sein, auf Ängste und Irritationen aus der Bevölkerung öffentlich einzugehen.

Gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung richten sich auch unterschiedliche Vorgaben für Migranten je nach ethnischer Zugehörigkeit oder geographischer Herkunft: Wenn etwa türkische Verbände im neuen Zuwanderungszuzugsrecht eine Ungleichbehandlung gegenüber Ausländern aus anderen Nicht-EU-Staaten ausmachen, dann können sie für ihre Kritik gute Gründe vortragen.[18] Die Vorgabe, nach Deutschland ziehende Frauen sollten über rudimentäre Deutschkenntnisse verfügen und mindestens 18 Jahre alt sein, ist um der Erleichterung von Integration und der Verhinderung von Zwangsehen willen verständlich. Sicherlich stellen auch aus der Türkei zuziehende Frauen hier eine weitaus höhere Relevanzgruppe als Frauen aus Kanada oder den USA dar. Gleichwohl handelt es sich bei der exklusiven Ausrichtung auf Türkinnen um eine einseitige Benachteiligung. Es gibt darüber hinaus keinen nachvollziehbaren Grund, warum diese Vorgaben nicht auf alle Zuziehenden aus Nicht-EU-Staaten ausgedehnt werden können.

Umgekehrt darf es aber auch keine Bevorzugung im Sinne von Sonderrechten für Menschen mit Migrationshintergrund geben. Eine Nicht-Teilnahme von Schülern am Biologieunterricht mit den Themenschwerpunkten Evolutionstheorie oder Sexualkunde, welche angeblich religiös begründet sei, gehört etwa dazu. Derartige Forderungen verstoßen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und öffnen willkürlichen Ansprüchen Tür und Tor. Dafür stehen auch die zahlreichen derartigen Anträge von christlichen Fundamentalisten, die aus religiösen Gründen eine Befreiung ihrer Kinder von der Schulpflicht erreichen wollen. Hier wird ähnlich wie im Falle muslimischer Antragssteller argumentiert.[19] Direkt und zwingend ableiten lässt sich eine solche Forderung aus keiner der angesprochenen Religionen. Selbst wenn dies der Fall wäre, kann man damit keine exklusiven Sonderrechte begründen. Deren Inanspruchnahme dürfte darüber hinaus zu einer weiteren Abschottung und nicht zur Integration führen.

8. Probleme und Zusam­men­fas­sung

Die vorstehenden Ausführungen können und wollen nicht verschiedene Probleme des skizzierten Toleranz-Konzeptes auf Basis des Kulturpluralismus verleugnen. So lassen sich etwa in individueller Einstellung und rechtlicher Praxis unterschiedliche Positionen einnehmen. Gerade die Verinnerlichung von kulturellen Prägungen führt mitunter zur freiwilligen Akzeptanz von Grundrechtsverletzungen, welche die Betroffenen dann nicht als solche wahrnehmen. Dafür stehen die arrangierten Ehen, sollen doch bei einem großen Teil türkischstämmiger Frauen die Ehepartner von Verwandten ausgesucht worden sein.[20] Dies verstößt gegen das den Menschenrechten eigene Autonomieprinzip. In der rechtlichen Praxis besteht aber die Schwierigkeit des Nachweises und der Unterbindung solcher Ehen. Besonders problematisch wird es, wenn sich betroffene Frauen zumindest verbal damit einverstanden erklären.[21] Solche Schwierigkeiten nötigen allerdings nicht zum Verzicht auf eine klare individuelle Ablehnung im öffentlichen Diskurs.

Ein weiteres Problem bezieht sich auf eine rechtlich nicht verallgemeinerbare, aber politisch wünschenswerte Auffassung: Die Minimalbedingungen von Kulturpluralismus und Toleranz sollten nicht nur das Verhältnis der verschiedenen Gruppen zueinander, sondern auch den Umgang miteinander in eben diesen Gruppen prägen.[22] Es kann durchaus Gemeinschaften und Organisationen in einer pluralistischen Gesellschaft geben, welche in ihrem Innenleben die oben erwähnten Prinzipien wie das des gleichen Stellenwertes von Frauen und Männern verletzten. Davon lässt sich nicht nur bezogen auf islamische Religionsgemeinschaften, sondern mit geringerem Ausmaß auch hinsichtlich der katholischen Kirche sprechen. Akzeptabel wären solche Gruppen oder Organisationen aber nur unter zwei Vorbehalten: der Möglichkeit zu einem freiwilligen Ein- und Austritt aus einem solchen Personenzusammenschluss und dem Verzicht auf das Übertragen der eigenen Wertvorstellungen auf die allgemeine Rechtsordnung.[23]

Trotz der vorgenannten Ambivalenzen und Probleme lassen sich abschließend folgende Grundpositionen in sechs Thesen zusammenfassen: Erstens, eine wert gebundene Toleranz bleibt eine anerkennenswerte Tugend individueller Einstellung und politischer Ordnung. Zweitens, sie setzt aber inhaltliche Klarheit hinsichtlich ihrer Ablehnungs- und Akzeptanzkomponente bei der Bestimmung der notwendigen Grenzen voraus. Drittens, im Umgang mit Menschen anderer ethnischer, kultureller und religiöser Ausrichtung bestehen diese in Minimalbedingungen. Viertens, sie lassen sich in der Kenntnis der deutschen Sprache, der Akzeptanz der Menschenrechte und der Einhaltung von Recht und Gesetz ausmachen. Fünftens, damit kann kulturelle Identität für die Legitimation von Handlungen keinen primären Status mehr beanspruchen. Sechstens, das allseitige und gleiche Recht auf Artikulation und Umsetzung damit verbundener Auffassungen ist nur auf Basis eines übergreifenden Konsenses im Sinne des Kulturpluralismus möglich.

[1] Die vorliegen Ausführungen gehen auf einen Vortrag anlässlich des 9. Stuttgarter Schlossgesprächs „Toleranz und ihre Grenzen” am 21. Juni 2007 zurück. Der Autor dankt den Diskussionsteilnehmern für Anregungen und Kritik, die in die erweiterte Textfassung eingearbeitet wurden.

[2] Vgl. Alice Schwarzer (Hrsg.), Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002; Günther Lachmann, Tödliche Toleranz. Die Muslime und unsere offene Gesellschaft, München 2005.

[3] Henryk M. Broder, Bin ich verrückt, oder sind es die anderen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juni 2007, S. 35. Broder sollte der Kontrahent des Autors im Panel zu dem Stuttgarter Schlossgespräch (vgl. Anm. 1) sein, sagte aber seine Teilnahme aus Termingründen ab.

[4] Vgl. zur kritischen Argumentationsgeschichte: Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M. 2003, S. 53-526 und zur aktuellen philosophischen Debatte: Rainer Forst (Hrsg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt/M. 2000.

[5] Vgl. Preston King, Toleration, New York 1976, S. 44-54, wo von „acceptance component” und „objection component” die Rede ist.

[6] Vgl. Rainer Forst, Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, in: Forst (Hrsg.), Toleranz (Anm. 4), S. 119-161, hier S. 120-123.

[7] Vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998, S. 219-263.

[8] Vgl. Jan Feddersen, Raus aus den Hinterhöfen!, in: die tageszeitung vom 18. Juni 2007, S. 13; Uta Rasche, Die Moschee-Baumeister, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Juli 2007, S. 3.

[9] Vgl. Forst, Toleranz im Konflikt (Anm. 4), S. 42-48.

[10] Die folgenden Ausführungen knüpfen an zwei frühere Veröffentlichungen des Autors an, vgl. Armin Pfahl-Traughber, Kulturpluralismus statt Kulturrelativismus. Plädoyer für die Wertgebundenheit des Miteinanders von unterschiedlichen Kulturen, in: Humanismus aktuell, 4. Jg., Nr. 6/Frühjahr 2000, S. 17-27; Armin Pfahl-Traughber, Integrationsansprüche und Kulturrelativismus. 12. Thesen zur „multikulturellen Gesellschaft”, in: Perspektiven ds, 17. Jg., Nr. 1/2000, S. 54-60.

[11] Vgl. Thomas Meyer, Identitätswahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds, Berlin 1997; Thomas Meyer, Identitätspolitik, Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt/M. 2002.

[12] Paolo Flores D’Arcais, Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet, Berlin 1997, S. 55.

[13] Francesco Cossiga, Vielweiberei tut not. Der Westen sollte dem Islam radikal tolerant begegnen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18. November 2001, S. 11.

[14] Vgl. Johannes Kandel, Organisierter Islam in Deutschland und gesellschaftliche Integration, in: http://www.fes-online.de (gelesen am 2. August 2007), S. 11 (These 17); Thomas Meyer, Parallelgesellschaft und Demokratie, in: Thomas Meyer/Reinhard Weil (Hrsg.), Die Bürgergesellschaft. Perspektiven für Bürgerbeteiligung und Bürgerkommunikation, Bonn 2002, S. 343-372.

[15] Vgl. als inhaltlich ähnliche Entgegensetzung u.a. Dieter Oberndörfer, Die politische Gemeinschaft und ihre Kultur. Zum Gegensatz zwischen kulturellem Pluralismus und Multikulturalismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B-52-53/1996, S. 37-46; Bassam Tibi, Multikultureller Werte Relativismus und Werte-Verlust. Demokratie zwischen Werte-Beliebigkeit und pluralistischem Werte-Konsens, in: ebenda, S. 27-36.

[16] Vgl. Ernst Fraenkel, Demokratie und öffentliche Meinung, in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt/M. 1991, S. 232-260, hier S. 246-249. Vgl. dazu Armin Pfahl-Traughber, Pluralismus als Strukturmerkmal des demokratischen Verfassungsstaates. Ernst Fraenkels Neoplualismus-Theorie, in: Jahrbuch für Liberalismusforschung 6, Baden-Baden 1994, S. 45-63.

[17] Vgl. Otfried Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt/M. 1996; Otfried Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Ein philosophischer Versuch, Frankfurt/M. 1999.

[18] Vgl. Merkel weist „Ultimaten” türkischer Verbände zurück, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Juli 2007, S. 1f.; Birand Bingül/Eren Ünsal, „Ehre spielt eine Rolle”, in: Die Zeit, Nr. 30 vom 19. Juli 2007, S. 7.

[19] Vgl. Christian Rath, Christliche Fundamentalisten vor Gericht, in: die tageszeitung vom 25. Juli 2007, S. 6; Christian Rath, Bibeltreue Parallelgesellschaft, in: ebenda, S. 11.

[20] Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Studienergebnisse, Berlin 2006, S. 29; Jürgen Kaube, Was ist repräsentativ für den Islam?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29. April 2007, S. 74.

[21] Vgl. Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln 2005, S. 119 als Beispiel, das aber hinsichtlich seiner grundsätzlichen Problematik im ganzen Buch nicht thematisiert wird.

[22] Diese Position formulierte der Autor anlässlich der erwähnten Toleranz-Konferenz (vgl. Anm. 1). Nach der Auseinandersetzung mit der eben dort daran formulierten Kritik wird hier eine Korrektur vorgenommen.

[23] Vgl. Ralf Poscher, Du musst nicht verfassungstreu sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Juni 2007, S. 7.

nach oben