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Religion der Enthebung

Vorgang 1/1970 S.29-30

 Sigrid Hunke: Europas andere Religion, Die Leberwindung der religiösen Krise,

Econ Verlag, Düsseldorf 1969, 558 S.

Die These des Buches lautet in Kürze: das Christentum, mit seinem dualistischen,

zwischen Gott und Welt schroff unterscheiden-den Daseinsverständnis orientalischen

Ursprungs ist dem unserer westlichen Welt fremd und unerträglich. Die frühe Christi

anisierung Europas, bevor seine Völker sich recht auf ihr Eigenstes haben besinnen

können, wurde zur Überfremdung, von der es sich befreien muß. Die religiöse Krise

unserer Zeit ist Ausdruck suchender Unruhe der Vielen, die das Fremde abzustreifen suchen, deutet auf den endlichen Durchbruch des uns Gemäßen. An die Stelle der orientalisch-christlichen Fremdreligion mit ihrem Absolutheitsanspruch, dieser „ungeheuren Anmaßung, auf Religion und Sittlichkeit allein das Monopol zu besitzen”, muß endlich die „europäische Religion” treten, die eine „Religion der Einheit” ist: „Erleben der Einheit und Leben aus der Einheit”, „Mitwirken mit dem Göttlichen und Mitschaffen am Göttlichen”. Hymnischer Lobpreis solcher alles heiligen-den Göttlichkeit des Menschen und der Welt erfüllt das ganze Buch.

Was für eine Religion ist das, diese „europäische”? Ihre Zeugen findet die Verfasserin bei Denkern und Dichtern durch die Jahrtausende, besonders aber in der christlichen Ketzer- geschichte, die sie hier „einmal nicht mit den Augen der Inquisitoren, sondern von der anderen Seite, von der Seite der Opfer” ansehen will. Da gibt es viele Namen, bekannte und kaum bekannte. Besonders kommen die Mystiker zu Wort; aber auch Erasmus,

Pestalozzi, Kant, Schiller, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Teilhard de Chardin, so wenig des Gemeinsamen sie sonst haben mögen, hier erscheinen sie in vielen passend ausgewählten Zitaten vereint als Vertreter des Einheitsprinzips, das dem Christentum entgegengestellt wird: „Gottes Geburt in der Seele”; die Gotteserfahrung hat ihren Ursprung im Herzen des einzelnen, innerlich bewegten Menschen. Es ist das Bewußtsein, einer göttlichen Ordnung eingefügt zu sein, die in der Welt und im Leben der Menschengemeinschaft waltet.

Da ist kein außerweltlicher Schöpfergott, kein außerweltlicher Gesetzgeber und Richter, keine Scheidelinie zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Gut und Böse. „Alle europäische Religion hat darauf verzichtet, das Unerfaßliche, Unbegreifliche in Grenze und Gestalt zu fassen. ..‚ zu personifizieren, ja mit menschlichen Kategorien und Qualitäten menschlicher Wertung und Vergleichen und sei es als ‚Liebe‘.. . überhaupt erreichen zu wollen.”

Noch einmal wird eine bunte Reihe von Namen zur Zeugenschaft zusammengetragen: griechische Philosophen der Antike, deutsche der Neuzeit, Goethe, Rilke, Gerhard Szczesny, Heinrich v. Berg, Friedrich Schöll. (In der Zeittafel des Anhangs stehen ihrer ungefähr 200 für „die andere Religion Europas”; da reicht die Spannweite u. a. von Wilhelm Busch, dem Märchendichter H. C. Andersen und R. G. Binding bis zu Franz von Baader, Max Planck, Thomas Mann, Martin Heidegger und Ernst Jünger.) „Sie alle meinen das-selbe”: „Es gibt nur ein Sein. Nur eine Wirklichkeit.” Für den Europäer wird die Grenze der Erkennbarkeit nicht zum Trennungsgraben zwischen zwei Welten. „Hier enthält in der Koinzidenz des Sowohl-Als-Auch die unerkennbare Wirklichkeit die er-kennbare in sich, als auch in allem Erkennbaren immer zugleich das Unerkennbare, in allem Endlichen immer das Unendliche, in je-dem Augenblick das Ewige mitenthalten ist.” Und wer sich dessen bewußt ist, dem „leuchtet Gott in allen Dingen”, ihm „ist nichts profan, alles heiliger Ort”. „Jeder Mensch, jede Pflanze,… jede Schönheit und jedes Schreckliche, alles Große und Erhabene der Natur, der Kunst, der Technik werden ihm ein Weg zu Gott.”

Energischer drängt sich jetzt die Frage auf: Was für eine Religion ist das? Flucht aus den heißesten Konflikten unserer Welt? Flucht aus der Verantwortung? „Der Mensch ist Gott verantwortlich”, sagt die Verfasserin, „weil Gott mit uns wächst, ist es an uns, immer mehr an uns selbst zu arbeiten und uns selbst zu überholen…, uns, unser Tun und unser Leben zur Vollkommenheit zu leben”. Das heißt: Mitschaffen am Göttlichen, „mit jedem Bauen und Geschirrspülen, mit jedem Handgriff und Fortschritt… Jeder, der mit voller Hingabe schafft, verwirklicht das Göttliche im Zeitlichen und nimmt am Ewigen, Göttlichen teil”. Hat wohl die Verfasserin schon einmal Fließbandarbeiter „mit voller Hingabe schaffen” gesehen, in der geisttötenden Monotonie dieser Arbeit, in dem von der Maschine vorgeschriebenen er-schöpfenden Tempo? Und menschliche Hybris, Brutalität: Konzentrationslager, Folterungen, Vergasungen, Napalm, zermürbenden Hunger,

die Ermordung der Hunderttausende lateinamerikanischer Indianer durch Bodenspekulanten? Wie steht es um deren „Vervollkommnung”? Die Antwort: „Gutes könnte nicht sein, wenn es Böses nicht gäbe… Auch Fehler und Irrwege, das Böse selbst, sind notwendiges Moment der göttlichen Weltordnung und Bedingung unaufhörlichen Werdens und Vergehens, von Aufstieg und Steigerung”.

Nein, es ist keine Antwort, denn die Fragen kommen in dem ganzen Buch gar nicht in den Blick. Diese die Mitmenschlichkeit so heroisch ausklammernde Ideologie sei „einhelliger europäischer Glaube, von dem Griechen Heraklit vor zweitausend Jahren bis zum Franzosen Teilhard… bis zu jedem Namen-losen der Gegenwart, der die Kraft hat, zum Leid Ja zu sagen und aus ihm Kräfte zog”. „Immer aus Not, nimmer aus fettem Nichts wächst das Große herauf”, so zitiert sie Josef Weinheber, der immerhin noch 1941 den Hitler als „Deutschlands Genius”, als „Retter” und „Erlöser” andichten konnte.

Auch die geistige Umbruchsbewegung der Gegenwart soll das „europäische” Konzept

bestätigen. Was dazu über die moderne Naturwissenschaft gesagt wird, darf hier

schonend übergangen werden; ein Wort aber zur Einschätzung der theologischen Bewegung. Für sie stehen von evangelischer Seite H. J. Schultz, Bultmann, Tillich,

Braun, Sölle, von katholischer Seite Sartory, Rahner, Halbfas, dazu Holländer, Franzosen, Engländer. Die Verfasserin zitiert Sätze, die, ihre Linie scheinbar bestätigend, sich gegen die Annahme einer supranaturalen, neben der Welt existierenden Gottheit wenden. Sie sieht richtig, daß damit eine Akzentverlagerung in der Interpretation der Evangelisten einhergeht. Sie erinnert daran, daß in der nunmehr verwendeten Sprache oft genug das Wort „Gott” zur leeren Chiffre wird und daß, weil man doch die Transzendenz Gottes zu wahren sucht, die Bemühung ohne letzte Konsequenz bleibt. Indem sie aber das rationale, aufklärerische Motiv dieser theologischen Bewegung außer acht läßt, erkennt sie hier nur die Fortdauer des alten Dualismus, das Aus-bleiben der von ihr verkündeten „Einheit”.

Und völlig entgeht ihr das Wesentliche dieser theologischen Bewegung; wieder wird nur das erwähnt, was der Leitidee des Buches zu entsprechen scheint. Außer acht bleibt, wie eindringlich gerade von den gegenwärtig die öffentliche Diskussion bestimmenden jüngeren Theologen die mitmenschliche und politische Verantwortung betont wird, die allein den Glauben glaubwürdig macht. Nicht etwa davon erwartet die Verfasserin die Überwindung der religiösen Krise, daß der Glaube einer Bewährungsprobe vor den konkreten mitmenschlichen und das heißt heute vordringlich auch vor den gesellschaft- lichen Problemen unserer Zeit ausgesetzt wird, sondern von einem Wandel im religiösen Denken: vom „Dualismus aller Spiel-arten und in allen Lebensbezirken” zur All-Einheit hin. Der Weg ins Neue sei „der Weg zu uns selbst auf einer neuen Ebene”, in der „überall grenzenaufhebenden Gesinnung des Sowohl-Als-Auch, wie sie vor der Verchristlichung selbstverständlich war”.

Der Referent gesteht sein wachsendes Unbehagen bei der Lektüre dieses Buches. Dessen entscheidender Mangel scheint ihm zu sein, daß vergessen wird, wie unfruchtbar in unserer Welt jeder Glaube bleiben muß, (ob christlich oder nicht), der sich nicht konkret auf das ganze menschliche Dasein bezieht, der das verantwortliche Miteinander der Menschen aus dem Blick verliert. Die Kritik der jungen Theologen heute am überlieferten Glauben entzündet sich unter anderem gerade daran, daß um einer irrational gewordenen jenseitigen Gottes- und Heilsvorstellung das sehr diesseitige Unheil leiden-der Menschen und die dieses Unheil erzeugenden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen vernachlässigt werden. Die „Entprivatisierung” der Heilsvorstellung (J. B. Metz) als ein Irrweg ist ihr Thema. Dieses Buch aber predigt eine privatisierte Religion, suggeriert den Selbstgenuß in erhebenden Gefühlen: in Harmonie mit dem Unendlichen zu leben; im „Grund Gottes”, im „Weltinnenraum” dem störenden Dualismus entrückt zu sein zwischen dem, was wir in guten Stunden wollen und dem, was wir in Wirklichkeit anrichten oder doch untätig zulassen.

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