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Die Erschlie­ßung der Zukunft Kommunale Krisen­lö­sungen durch den Forschungs­ver­bund Stadt 2030

Städtische Politik zwischen kurzfristigem Handlungsdruck und langfristiger Orientierung

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S 79-88

Das Thema Zukunft ist von aktueller Relevanz für Stadtentwicklung, Stadtforschung und Stadtgesellschaft. In den Feuilletons überregionaler Zeitungen, in Fachkreisen, in Politik und Wissenschaft wird darüber diskutiert, vor welchen Herausforderungen die Gesellschaft in der Zukunft stehen wird, und es wird darüber nachgedacht und ge= forscht, was wir über die Zukunft wissen können. Die Fokussierung auf das Thema Zukunft ist eng verknüpft mit der Steigerung von Komplexität in der globalisierten Welt, mit schnellen Veränderungen und hierdurch verstärktem Steuerungs- sowie Wissensbedarf. Eine besondere Rolle kommt dabei den Städten zu: Vor allem dort vollzieht sich ganz konkret eine tief greifende gesellschaftliche und technische Umwälzung; in ihnen offenbaren sich die Auswirkungen des Wandels am deutlichsten. Ein qualitativ neuer Handlungs- und Veränderungsdruck entsteht, wenn Bevölkerungsverlust, Alterung der Gesellschaft und wirtschaftlicher Strukturbruch zusammentreffen. Hier sind bereits heute die Konsequenzen zu erahnen, die sich aus demographischem Wandel, Technikentwicklung, Internationalisierung, wachsender lokaler Verflechtung und Städtekonkurrenz ergeben.

Diese Veränderungen erfordern neue Antworten auf grundlegende Fragen, die beispielsweise die Stadtorganisation und deren politische Legitimation, Identität und Integrationsleistung von Städten betreffen. Gefordert sind neue Lösungsideen, die eine dauerhafte Balance zwischen kurzfristig zu bewältigenden Tagesanforderungen und der notwendigen Beachtung langfristiger Entwicklungen gestatten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen langfristigem Denken und kurzfristigem Entscheiden ist nicht neu, es tritt nun aber — angesichts der steigenden Anforderungen — in den Städten deutlicher als Zukunftsdilemma zutage (vgl. Gösche12003). Die Erschließung der Zukunft, die Orientierung auf längere Zeithorizonte — zum Beispiel über Wahlperioden hinaus — scheint in Politik und Planung einem fundamentalen Dilemma zwischen Kurz- und Langfristigkeit zu unterliegen, das weder durch gut gemeinte Appelle noch Managementtechniken oder ähnliche Mittel aus der Welt zu schaffen ist.

Zunehmend zu einem Merkmal sozialer Privilegierung bzw. Benachteiligung. Abläufe im täglichen Leben werden von vielen Bürger/-innen, insbesondere Frauen, in Frage gestellt, da die Vereinbarkeit verschiedener Lebenswelten — Beruf, Familie und Freizeit — zunehmend schwierig wird. Eine Verbesserung der Lebensqualität soll durch am Alltag der Bewohner bzw. Nutzer städtischer Dienstleistungen orientierten Zeitgestaltung er-reicht werden. Diese erfordert eine verbesserte Abstimmung von städtischen Zeitstrukturen (z.B. Öffnungszeiten, Fahrpläne) mit der individuellen oder familiären Alltagsorganisation. Im Bremer Leitbild der „zeit bewussten Stadt” wird die Zukunft einer Stadt gezeichnet, die mit den Zeitressourcen ihrer Bewohner und Nutzer nach legitimen Regeln umgeht. Diese besseren oder gerechteren Zeiten herauszufinden und in Stadtpolitik zu implementieren, soll Resultat eines Dialogs zwischen Bürgern, Verwaltung und Politik sein. Im Kontext der Debatte um die Zukunft des Sozialstaates und in der Bürgerrechtsdebatte wird versucht, eine neue sozialstaatliche Kategorie — Zeitgerechtigkeit als das Recht auf eigene Zeit — einzuführen. Zeitpolitik und Zeitgerechtigkeit sind Gegen-stand des neuen Bürgerrechts und zugleich kommunalpolitisches Handlungsfeld.

Ein erstes Fazit: Lernende Organi­sa­ti­onen statt fixierter Visionen

Praktisch-politische Strategien einer Vermittlung von Lang- und Kurzfristigkeit, die nicht ausschließlich Ergebnis wissenschaftlicher Forschung sind, bedürfen einer Rückkopplung in das direkte politische Umfeld der beteiligten Städte. Deshalb wurde von allen Projekten neben einer engen Kooperation von Wissenschaft und Praxis ein möglichst intensiver Dialog mit der Bevölkerung erwartet. Die Anforderung an Stadtforschung, Stadtpolitik sowie Städte und Gemeinden bestand darin, gemeinsam mit anderen Akteuren, z.B. aus der Zivilgesellschaft oder der Wohnungswirtschaft, neue Lösungsstrategien und Handlungskonzepte zu entwickeln, die neue Kooperationsformen einschließen.

Die Projekte des Forschungsverbundes Stadt 2030 zeigen Modelle auf, wie die Bevölkerung dabei einbezogen werden kann. Sie heben hervor, dass die Förderung von Integration eine Kombination unterschiedlicher Ansätze voraussetzt. Sozialer Ausgleich durch kommunale Leistungen wird ergänzt durch partizipative Prozesse im symbolischen bis hin zum materiellen Bereich. Es wird nahezu ausnahmslos betont, dass Beteiligung, Kooperation und Kommunikation und damit neue dialogische Beteiligungsformen im Bereich der lokalen Politik wenn nicht Voraussetzungen, so doch wichtige Ressourcen darstellen: für die Gestaltung der Zukunft der Stadt, die sich ein Mehr an Solidarität, Akzeptanz, aber auch Effizienz und Effektivität bei gleichzeitig wachsender Individualisierung und Heterogenität zum Ziel

setzt.

Angesichts der beschriebenen Krisen und Strukturbrüche, mit denen die Städte gegenwärtig konfrontiert sind, ist die Entwicklung von Zukunftskonzeptionen, Zielperspektiven und Leitbildern eine Aufgabe, die sich als schwierig erweist. Es ist nicht selbstverständlich, ein Leitbild für eine drastisch schrumpfende Stadt oder Region zu entwickeln oder eine positive Vision für eine Stadt zu zeichnen, die mit stetig zunehmender Segregation rechnen muss. Erkennbar wird ein deutliches Votum für Handlungsmodelle, in denen punktuell gemeinsame Projekte vereinbart werden, die durch Leitlinien miteinander in Beziehung stehen müssen. Das Neue des Verbundes liegt darin, regionale Kooperation und integrative Partizipationsmodelle als Anstoß und Anlass zu nutzen, in den beteiligten Stadtverwaltungen kommunale und interkommunale Lernprozesse zu initiieren und versuchsweise umzusetzen. Durch diese wird eine Verknüpfung langfristiger Perspektiven mit kurzfristigen Handlungsoptionen auch über kommunale Grenzen hinaus ermöglicht.

Innovationen im kommunalen Alltag erfordern Freiräume und Laborsituationen, um neues Handeln zu erproben, dessen Konsequenzen zunächst nicht absehbar sind. Bezogen auf die Perspektiven inner- und interkommunaler Zusammenarbeit wurde die Chance ergriffen, Kooperation, die sich meist nicht von selbst einstellt, zu inszenieren und in einigen Fällen auch als Bestandteil des eigenen Projekts zu evaluieren. Freiräume für Vertrauensbildung, eine der wichtigen Voraussetzungen erfolgreicher Zusammenarbeit, können – so sind zumindest die bisher vorliegenden Ergebnisse zusammenzufassen — durch die gemeinsame Arbeitszeit jenseits der Tagespolitik zu einer Stärkung und Ausweitung von Kooperation beitragen.

Die Projektergebnisse und die im Forschungsverbund Stadt 2030 angestoßenen Prozesse tragen dazu bei, sich der Frage zu nähern, wie sich Leitbilder, Visionen oder die Form der Zukunftserschließung verändern, wenn Zukunft als etwas Negatives und Bedrohliches erscheint. Eine einfache und abschließende Antwort auf diese Frage gibt es nicht, doch es zeichnet sich ab, dass an die Stelle fixierter oder eindeutig formulierter Visionen und Zukunftsentwürfe dialogische Prozesse treten. Bei diesen müssen in aller Regel Wege in eine offene Zukunft gefunden werden, in denen die Wegbeschreiter — seien es Städte, Verwaltung, Politik oder Bürgerinnen und Bürger — sich selbst als lernende Organisationen verstehen. Der Weg ist das Ziel, wenn in einem Lernprozess, der dialogische Prozesse und inhaltliche Aussagen verknüpft, neues Wissen und neue Kompetenzen für eine offene und zugleich gestaltbare Zukunft von Stadt und Region generiert werden.

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Opladen, S. 264-272

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