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Notstand der Sprache

Der Jargon der Parteien im Streit um die „Saubere Leinwand“

Aus: vorgänge Heft 10/1965, S. 439-441

(vg) Der nachfolgende Kommentar von Klaus Kreimeier wurde von dem Informationsdienst „Kirche und Films“, einem von Dr. Focko Lüpsen, Bethel bei Bielefeld, herausgegebenen evangelischen Sonderdienst über Filmfragen des Evangelischen Pressedienstes (epd) veröffentlicht.

Es scheint, als lege sich der Staub, den die Streitgespräche über die „Aktionen“ „Saubere Leinwand“ und „Sorge um Deutschland“ aufgewirbelt haben. Dies mag der angemessene Zeitpunkt für eine rückschauende Analyse sein, die den Versuch macht, sich dem Kern der Sache mit sprachkritischen Kriterien zu nähern.

Wo und wann immer der Mensch, anklagend oder sich rechtfertigend, die Sache aus dem Auge verliert oder sie bewußt preisgibt, um seine Affekte und sein gestörtes Verhältnis zur Realität als die Realität selbst herauszustellen, geschieht der Sprache Gewalt. Leidend wird sie zum Gradmesser der Aufrichtigkeit, die in eben dem Maße schrumpft, in dem die Aggressivität zunimmt, die das sachentfremdete Bewußtsein aufwendet, um seine „Verschrobenheit“ im Umgang mit den Dingen zu überspielen. Der Notstand des Denkens wird Fleisch im Notstand der Sprache: Sie signalisiert die Diskrepanzen, und ihr einschlägiges Signal ist selbst eine schrille Diskrepanz: der Jargon. Im folgenden steht der Jargon zur Debatte, dessen sich die Parteien im Streit um eine „saubere Leinwand“ befleißigen.

Der Film, ob frei oder unfrei, ob Kunst oder Machwerk, ist eine Funktion der Wirklichkeit. In freien Zeiten liegt diese Funktion offen vor Augen: Die politisch und moralisch schillernde Weimarer Zeit besaß eine Leinwand, die nach Herzenslust Genuß und Dekadenz pries, reflektierte oder schmähte – je nachdem; eine Leinwand, die überdies die allgemeine Höllenfahrt ins Dämonische und Irrationale mit bestürzender Präzision vorwegnahm. In unfreier Zeit ist das Verhältnis reziprok: Der SS-Staat, der den Massenmord legalisierte, besaß sicher die sauberste Leinwand, die es jemals gab. Wir Heutigen leben in einer Zeit, die ihre Freiheit aus den Händen der Interessenverbände empfängt. Das heißt: Wir haben die Freiheit, uns freiwillig selbst zu kontrollieren, oder aber, ebenso freiwillig, aus dem Rennen geworfen zu werden. Weil wir dem – immerhin demokratischen – Trugschluß erliegen, daß die Summe der Gruppeninteressen das öffentliche Interesse ergebe, haben wir eine Leinwand, deren Relation zur Wirklichkeit sonderbar mißgestaltet ist: Theoretisch dazu prädestiniert, unsere Zeit bruchlos zu spiegeln, wird sie praktisch von den verschiedensten Seiten immer wieder dazu angehalten, einen Zerrspiegel zu liefern. Dies gilt für das Kunstwerk, das die kranken Symptome der Zeit darstellt, um ihre Wurzeln freizulegen, ebenso wie für das Machwerk, das Mord, Inzest und Vergewaltigung abspiegelt, weil sie Gefallen finden, und daher nicht minder ein getreuer Reflex unserer Zeit zu nennen wäre, als das intellektuell vorbelastete künstlerische Produkt.

Eben dieses Machwerk wollen die ernstzunehmenden Verfechter der „Sauberen Leinwand“ gesäubert wissen. Sie wollen, so heischen sie in einer ihrer Petitionen, „sittlich saubere und moralisch vertretbare Filme“. Ihr Jargon vergißt, daß ein Film niemals per se sauber oder moralisch vertretbar sein kann, sondern stets – je nach Art der Einflußnahme von außen – eine direkte, umgekehrte oder verzerrte Funktion der Wirklichkeit ist. Der Jargon der Entrüstung ist ein Surrogat für echtes Aufbegehren und wahrhaftiges Engagement. Echtes Aufbegehren würde sich gegen die Anarchie wenden, die in unserer Wirklichkeit statthat, gegen die Perversion unserer Moralbegriffe durch die Praxis. Wo der Protest in die Entrüstung abgedrängt ist, enthüllt der Jargon, daß das Bewußtsein mit der Wirklichkeit Frieden geschlossen hat. Zwar die Wirklichkeit wird nicht sittlich sauber und moralisch vertretbar befunden – es verhält sich schlimmer: Die Frage, ob unsere Zeit sauber und vertretbar sei, wird nicht zugelassen. Konkret: Man empört sich über den angeblich verderblichen Einfluß des Gangsterfilms auf die Wertvorstellungen der Jugend – über das Faktum, daß eine ganze Generation von Eltern vor der Geschichte versagt und in ihrer Nachkommenschaft heillose Verwirrung gestiftet hat, schweigt man. Und eben darin erweist sich das gestörte Verhältnis zur Realität.

Es ist Wesen des Jargons, daß er beständig sich selbst entlarvt. Eine von der Evangelischen Marienschwesternschaft in Darmstadt initiierte Parallelaktion nennt sich „Sorge um Deutschland“, offensichtlich ungetrübt von jeder historischen Erinnerung oder aber, was niemand hoffen möge, unbekümmert um den Gleichklang mit einer anderen Propaganda. Wie nun? Sorgt man sich um die Moral in Deutschland? Offenbar ist derjenige, der im Sinne der Marienschwesternschaft lebt, zugleich ein guter Deutscher – umgekehrt ein schlechter, wer sein Leben anders einrichtet. Hier wird wieder vermengt, was die Lehren dieses Jahrhunderts, wie es schien, endgültig und für immer getrennt haben: Nationalität und charakterliche Zuordnung; Volksgenossenschaft als automatische Bindung an ein von oben erlassenes ethisches Wertgefüge. Die Moral ist Moral von Staats wegen und um des Staates willen, Deutschland das Prokrustesbett eines doktrinären Sittengesetzes. „Neuorientierung des deutschen Volkes am Willen Gottes“ tönt der Jargon, den Adorno „Jargon der Eigentlichkeit“ nennt: Es ist der Zungenschlag derer, die, da sie immer nur auf das Eigentliche aus sind, aus allem Differenzierten einen erhabenen Eintopf machen, der eben darum lächerlich wird. Er decouvriert sich mehr noch als in den daherstampfenden Hauptsätzen in den verständnisvollen und verständigungsbereiten Zugeständnissen: „Wir wissen sehr wohl um den Wert der Freiheit.“ Nur logisch, daß, wer „um“ den Willen Gottes weiß und die Neuorientierung gleich eines ganzen Volkes fordert, nebenbei auch die Freiheit in die Tasche gesteckt hat. An ihren Parenthesen sollt ihr sie erkennen, hier zeigen sie ihre Zähne.

Wer sich das Vokabular des Unmenschen zu eigen macht, schert sich nicht um Grammatik. Ein Bürgerkomitee in München spricht von „Tendenzen zur Zerstörung, Leugnung, Verantwortungslosigkeit und Perversion… in einem Ausmaß, deren (sie!) Grund im Nihilismus und deren Absicht in der Befreiung von jedem Wert liegt“. Sorglos wie die Syntax ist die Begriffswelt dieses Satzes: ein Konglomerat von chiliastischen, philosophischen und vulgärsoziologischen Klischees, das so oder ähnlich stets dann auftritt, wenn Hilflosigkeit zu den Waffen ruft. Da sie ja ständig mit Werten und Werthaltigem verkehren, könne sie, wie in Ulm, ohne mit der Wimper zu zucken dekretieren: „Der Kunstbegriff soll mit den sittlichen Ordnungen vereinbart werden.“ Und warum nicht? Wird heute nicht alles vereinbart, mittels Agreement bewältigt, nach Abwägung aller Interessen arrangiert? Warum sollen sich nicht die Künstler mit den Hütern der sittlichen Ordnung an einen Tisch setzen und, nach gebührendem Palaver, sich einen neuen Kunstbegriff verpassen lassen? Ist die Vorstellung, daß Kunst das Ende gegebener oder ein-gewöhnter Ordnungen sei, nicht wirklich archaisch in einer Zeit, in der man Vereinbarungen trifft?

Da Kunst per definitionem immer frei oder aber nicht Kunst ist, wäre es praktisch gleichgültig, ob ihre Feinde „um“ den Wert ihrer Freiheit wissen, ob man ihre Freiheit gesetzlich verankert oder nicht. Die Tücke der Gesetzgebung zeigt sich dort, wo man der Kunst ihre Freiheit konzediert, um desto grimmiger gegen Erscheinungen einzuschreiten, die man, da sie Althergebrachtes einreißen, als Kunst nicht gelten läßt. Hier stellt sich heraus, was die scheinbar zum Absolutum erklärte Freiheit der Kunst ist: eine Vereinbarung der Heuchler, eine reservatio mentalis. Die Werte, die sittlichen Ordnungen, schwimmen oben. Nicht jeder kann ihre mangelnde Fixierbarkeit so schlagend nachweisen wie jener Vierzehnjährige in Heilbronn, der, befragt, was Unmoral sei, definierte: „Ha, des was mer ebbe net tuet.“ Es stimmt versöhnlich, daß beide Kirchen in diesem Streit offiziell Zurückhaltung geübt haben. Freilich: Das „äußerste Maß an Bescheidenheit“, das Bischof Wölber empfohlen hat, wohl wissend, daß polemische Abstinenz am ehesten gegen die Verführungen des Jargons immunisiert – dieses Maß wurde oft überschritten. Studiert man die Stellungnahmen genauer, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß klerikales Engagement in der Frage der „Sauberen Leinwand“ zwangsläufig zu einer Einerseits-Andererseits-Haltung führt, die gerade wegen ihrer Unentschiedenheit für die verbalen Eiertänze des Jargons besonders anfällig ist. Einerseits will man, jenseits aller gesetzlichen Regelung, einen „Volksentscheid des Geschmacks und des sittlichen Empfindens“ herbeiführen – als habe das Volk durch die Honorierung des heutigen Films nicht längst entschieden. Andererseits begrüßt man die Aktion von Professor Süsterhenn. Einerseits also rhetorische Anerkennung demokratischer Prinzipien, andererseits praktische Zweifel an eben diesen, denn bei dem so überzeugend klingenden Plebiszit kann es sich nur um die taktische, durch Stimmenfang erzwungene Majorisierung der öffentlichen Meinung durch eine Minderheit handeln. Einerseits lehnt man, auf evangelischer Seite, die Allgemeingültigkeit der katholischen Naturrechtslehre als Basis eines Sittengesetzes ab, andererseits stellt man flugs einen eigenen Katalog „ewiger Wertbegriffe“ auf und zählt darunter die „Ehrfurcht vor Gott“ und die „Selbsteinschränkung der in der Verfassung garantierten Freiheitsrechte“. Eine Beobachtung von tragischer Ironie: In einem Land, dessen Machthaber seit je dazu neigen, die Freiheitsrechte nicht nur einzuschränken, sondern abzuschaffen, befleißigen sich die Untertanen nur allzu gern einer Haltung, die der Selbstverstümmelung nahekommt und diese gar unter die ewigen Werte erhebt.

Es gehört zum Jargon, daß er, Nutznießer der babylonischen Sprachverwirrung, die Begriffe umkehrt. Der redliche Demokrat, der sich als solcher den Bürgeraktionen widersetzt, traut seinen Ohren nicht, wenn ihn der Familienbund der Deutschen Katholiken belehrt, in der Demokratie sei es das gute Recht des Staatsbürgers, sich gegen Auswüchse des Films zur Wehr zu setzen. Gewiß soll er sich wehren, wo und wann immer er es für richtig hält! Demokratie ist, wohl verstanden, die Souveränität des Volkes, sein öffentliches Leben selbst zu regeln. Verbriefter Schutz des einzelnen gegen den Übermut der Mächtigen. Die Demokratie hingegen, die der Familienbund meint, ist jene Demokratie von oben nach unten, für die es die viel treffendere Bezeichnung Demagogie gibt: Schutz der Mächtigen gegen die Freiheitsgelüste des einzelnen.

Der Jargon dreht das um. Der Jargon bringt alles fertig. Er spricht auch von der „Diktatur der Unanständigkeit“ und läßt dabei außer acht, daß Unanständigkeit an sich niemals Diktatur üben kann. Diktatur wird dort geübt, wo Menschen gezwungen werden, entweder Unanständigkeit über sich ergehen zu lassen oder Unanständigkeit zu meiden.

Die Einerseits – Andererseits – Haltung zumal der katholischen Kirche gegenüber der Freiheit der Kunst ist chronisch und scheint unaufhebbar, weil die Kirche die Forderung nicht fallen lassen kann, der Künstler müsse sich von der Kirche die Inspiration holen, „die man die Gnade und das Charisma der Kunst nennt“. So Papst Paul VI. in einer Messe in der Sixtinischen Kapelle 1964 – unter dem „Jüngsten Gericht“ Michelangelos -, als er die Künstler der Welt feierlich um Vergebung für die Unbill bat, die sie von der Kirche erfahren haben, und sie gleichzeitig zum Gehorsam anhielt.

Nun wäre es ungerecht, wollte man übersehen, daß die Gegenseite es sich nicht hat nehmen lassen, mit den gleichen Waffen zurückzuschlagen, auf den Jargon im Jargon zu antworten. Wie sollte es anders sein? Der Jargon, so wurde eingangs gesagt, ist das Mittel, das dazu dient, ein gestörtes Verhältnis zur Realität nach außen als intakt auszuweisen. Die deutsche Filmwirtschaft hat sich gegen die Säuberungsaktion verteidigt, und ihre Argumente hatten überall dort überzeugenden Klang, wo sie aus der Einsicht in die Begrenztheit der Branche erwuchsen. Die These der „Deutschen Film-Korrespondenz“: „Es gibt eine Fülle geschmackloser Filme, aber es gibt sie, weil dafür ein nicht zu beseitigender Bedarf besteht“, ist wahrhaftig lapidar und leuchtet ein. Sie beruht auf der unausgesprochenen Voraussetzung, daß der Film in erster Linie Unterhaltungsindustrie sei. Wie jeder Industrielle hat auch der Filmunternehmer das Recht, seine Kundschaft als mündigen Partner zu bedienen, der seine Ware aus freier Entscheidung wählt. Man muß nicht unbedingt die Freiheit der Kunst berufen, wenn es „nur“ um die Freiheit der Unterhaltungsmedien geht. Die eine Freiheit ist, sub specie democratiae, nicht schlechter als die andere – für beide sich mit gleicher Kraft einzusetzen, lohnt sich schon in diesem Lande. Nur: In zweiter Linie ist der Film eben auch Kunst. Kunst wird gegen den Bedarf entworfen. Es ist der Filmwirtschaft gewiß nicht zuzumuten, daß sie den Bedarf, von dem sie lebt, beseitige – sie könnte es auch gar nicht. Aber in Deutschland fehlt ihr heute weitgehend der Mut, den Bedarf, dem sie immer wieder und aus allen Kräften Genüge tut, auch einmal zu leugnen.

Wo diese Begrenztheit übersehen, wo diese Realität nicht einbekannt wird, entsteht der Jargon. Es verkündet der Wirtschaftsverband der Filmtheater: „Der Film muß in einer freiheitlichen Gesellschaft die Freiheit haben, die Probleme unserer Zeit aufzugreifen und zu gestalten.“ Man möchte antworten: Wenn sich der deutsche Film doch endlich einmal auf diese seine Freiheit besinnen, wenn er sich doch endlich diese Freiheit nehmen würde! Angesichts der Flut der Filme, welche die Probleme unserer Zeit aufgreifen, um sie zu verharmlosen, zu versüßlichen und zu verfälschen, entblättert sich das Pathos dieses Arguments und gleicht sich eben jenem pseudomissionarischen Rotwelsch an, auf das es antwortet. Freilich – die Säuberer haben, in ihrer erschreckenden Ungenauigkeit, diese Töne provoziert, in dem sie damit begonnen haben, Kunst und Unterhaltung durcheinanderzuwerfen – beides paßt nicht in ihr Konzept einer sauberen Leinwand in einer unsauberen Welt hinein. Sie meinen das Gros der anrüchigen Unterhaltung, sagen aber „Das Schweigen“ und „491″, weil ihnen, den Nichtkinogängern, beim besten Willen keine Titel einfallen. Ist es verwunderlich, daß die Gegenseite dankbar aus diesem Quiproquo Kapital schlägt und die Realität auf den Kopf stellt, ohne dabei das Argument der Gegner umkehren zu müssen? Auch der Wirtschaftsverband der Filmtheater spricht, ohne sie zu zitieren, vom „Schweigen“ und von „491″ – meint aber doch wohl ganz andere Erzeugnisse. Das Ganze sieht aus wie ein Schattenboxen und ist von der ergreifenden Komik jenes Streites zweier kahlköpfiger Sophisten um einen Kamm, den Kierkegaard beschreibt. Nur – daß sich dieser Streit in den erhabenen Untiefen des Jargons abspielt und auf beiden Seiten mit dem blechernen Brustton der Überzeugung geführt wird, mischt der Komik eine kräftige Prise Verzweiflung bei. Wie sagt das „Film-Echo“? „Man müßte in filmwirtschaftlichen Kreisen … nun endlich wissen, wo und wie die Hebel anzusetzen sind…“ Dagegen ist nichts einzuwenden, es sei denn gegen die Sprache, die aber nun einmal die Sprache der zweiten Jahrhunderthälfte, eben der Problemaufgreifer und Hebelansetzer ist. Wozu Hebel ansetzen? Nun, „um dem bigotten Muckertum, das sich mit demokratisch anmutendem Schafspelz verkleidet hat, die scheinheilige Maske vom Gesicht zu reißen“. Tableau! Hier hört der Jargon und die Langmut des Chronisten auf. Hier beginnt die Pidgin-Sprache der Comic-Strips (gegen deren Recht auf Freiheit damit nicht das geringste gesagt werden soll).

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