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Christentum als Handels­ware. Zum bayerischen Streit um die „christ­li­che” Schule

vorgänge12/ 196712/1970Seite 425- 428

Aus: vorgänge Heft 12/ 1967, S. 425- 428

Das Parteientheater mit Selbstbeteiligung der Staatsbürger in Bayern ist vorbei, das bayerische Schulkarussell hat sich eine Runde weitergedreht und ist, aufs Ganze gesehen, am selben Fleck stehengeblieben, wo es vorher schon gestanden hat. Zwischendrin haben zwei Volksbegehren stattgefunden. Der bayerische Bürger, einige Monate lang von den Parteien als Souverän behandelt, stellt nach einigem Augenreiben fest, daß der demokratische Aufwand, eigenfüßig zum Rathaus zu gehen und eigenhändig zu unterschreiben, umsonst war: die Parteien haben ihr „Anliegen” wieder in der Hand; sie, die sich ein paar Monate demokratisch gaben, geben sich nun wieder als Erfüllungsgehilfen der Kirchen.

Die Entwicklung des letzten Jahres ist bekannt: Bis zum November 1966 galt in Bayern die Konfessionsschule als Regelschule, die Gemeinschaftsschule unter so erschwerten Bedingungen als Antragsschule, daß sie lediglich in den SPD-regierten Großstädten einige Aussicht auf Erfolg haben konnte. Dort aber machten, da sie eine reale Auswahl hatten, Jahr für Jahr mehr Eltern von diesem Angebot Gebrauch, so daß die Gemeinschaftsschulen in den Städten allmählich zahlreicher wurden als die Konfessionsschulen. Inzwischen war allerdings die bayerische Schulmisere auch auf dem platten Lande so offenkundig geworden, daß selbst die CSU einer Initiative zur Vorbereitung organisatorischer Maßnahmen zur Schulreform nicht mehr ausweichen konnte. Am untersten Rande des Notwendigen bastelte die CSU unter der Leitung des neu ins Kultusministerium eingezogenen Fraktionsvorsitzenden Ludwig Huber und nicht ohne daß dieser betonte, wie schwer es doch gewesen sei, den Kirchen dieses Kompromiß, das ihre vertraglichen Besitzstände schmälerte, abzuringen, ein neues Volksschulgesetz zusammen, das sie gegen alle vernünftigen Änderungsvorschläge und gegen den geschlossenen Widerstand der Oppositionsparteien allein im. Landtag durchsetzte. Das Gesetz behielt die Konfessionsschule als Regelschule bei, beseitigte aber in mancher Hinsicht die bisherigen Erschwernisse zur Beantragung einer Gemeinschaftsschule, die allerdings von nun an nicht mehr „Gemeinschaftsschule”, sondern eine neue Art von bikonfessioneller Konfessionsschule, nämlich „christliche Gemeinschaftsschule” sein sollte. Von einem Tag auf den andern waren die Hunderttausende von Eltern, die ihre Kinder auf eine Gemeinschaftsschule geschickt hatten, der neuen Wirklichkeit gegenübergestellt, daß ihre Kinder nun plötzlich eine „christliche Gemeinschaftsschule” zu besuchen hatten. Und niemand hatte sie dazu nach ihrem Elternwillen gefragt, obwohl doch das „Elternrecht” bisher die heiligste Kuh der christlichen Partei und der katholischen Kirche gewesen war.

Das neue Gesetz hatte allerdings bei den bayerischen Eltern noch einen anderen Effekt. Obwohl die CSU und die Kirchen allen Wert darauf gelegt hatten, daß ― bei einigen Erleichterungen gegenüber der früheren Konstruktion ― die Beantragung und Einrichtung einer nunmehr „christlichen” Gemeinschaftsschule schwer genug bleiben würde, machten zur Schuleinschreibung 1967 so viele Eltern selbst in den kleinen bayerischen Gemeinden von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch, daß zum Schuljahrsbeginn eine ganz erhebliche Zahl bisheriger Konfessionsschulen zu Gemeinschaftsschulen umgewandelt oder zusammengelegt werden mußten und daß, gemessen an bisherigen Ergebnissen, eine unverhältnismäßig große Zahl von Schulanfängern für die Gemeinschaftsschule angemeldet wurden. Nach der wachsenden Einsicht und dem neu angespornten Willen der Eltern stand für CSU und Kirchen das langsame Absterben der Konfessionsschulen auf der Tagesordnung.

Zugleich aber fing in Bayern die Zeit der Volksbegehren an. Den Reigen begann Anfang des Jahres die FDP. Im Landtag zusammen mit der SPD von der CSU bösartig an die Wand gespielt, war sie es, und nicht die starke SPD, die den Mut faßte, das komplizierte Verfassungsinstrument Volksbegehren in Gang zu setzen. Die Formel, die sie zum Begehren stellte, war undurchdacht und schwächlich: das Volk sollte, entgegen der Gesetzregelung der CSU, entscheiden, daß die „christliche” Gemeinschaftsschule und die Konfessionsschule verfassungsmäßig gleichberechtigte Antragsschulen sein sollten. Angesichts der geringen Mittel der FDP und angesichts des Umstandes, daß sie bei den Wahlen ihre Landtagsmandate zum Nutzen der NPD verloren hatten, war das knappe Scheitern der FDP im Volksbegehren (mit 9,4 Prozent der Stimmen fehlten ihr nur 43 000 Unterschriften zum Erfolg) trotzdem ein Menetekel für die regierende und für die oppositionelle „Volkspartei”; denn es hatte gezeigt, daß ein großer Teil des Volkes die Schulpolitik der „Volksvertreter” für den Willen des Volkes entfremdet hielt.

Das machte der bayerischen SPD Mut. Sie versuchte es zunächst mit einem Antrag auf Verfassungsänderung im Landtag, der natürlich sofort an der übermütigen CSU-Mehrheit scheiterte; dann ging sie mit eben diesem Antrag ebenfalls den Weg des Volksbegehrens. Sie formulierte ihren Text etwas besser als die FDP: die „christliche” Gemeinschaftsschule sollte Regelschule werden, Konfessionsschulen sollten nur auf Antrag errichtet werden können. So weit, so gut. Und die SPD war stolz darauf, der alleinregierenden CSU das „Gesetz des Handelns” aus den Händen gerungen zu haben. Vordergründig stimmte das auch.

Aber zugleich mit der Phase der Volksbegehren (oder etwas vorher, nämlich — und das steht auf einem anderen Blatt — bei den Landtagsauseinandersetzungen um das neue Volksschulgesetz) begann bei beiden oppositionellen Parteien das Gefasel von der „christlichen Gemeinschaftsschule”, das Beteuern, daß selbst die staatliche Gemeinschaftsschule eine mit den Kirchen abgesprochene „christliche Gemeinschaftsschule” sein müsse, obwohl man ihnen zugleich ihre vertraglichen Rechte auf Konfessionsschulen voll konzedierte.

Für die FDP mag man das hingehen lassen, war doch ihr Volksbegehren ohnehin im wesentlichen das Werk eines einzigen Politikers, der Frau Hildegard Hamm-Brücher. Der aber ist zuzugestehen, daß sie ― unter den besonderen Bedingungen der kleinen FDP ― das Mögliche so und nicht anders kalkulieren zu müssen meinte und daß sie unter dem Attribut „christlich” doch wohl im wesentlichen das „abendländische Kulturgut” verstand, nicht aber die Auslieferung der Schulbestimmung an den von den Bischöfen diktierten konfessionellen Proporz. Anders bei der SPD, die in Bayern immerhin eine „Volkspartei” ist (und auch nochmal auf die Unterstützung der FDP rechnen konnte). Ihr Fehler oder, wohl richtiger, ihre Feigheit bestand darin, daß sie dem bayerischen Wahlvolk eine Konzession machte, die von ihrer Position aus, denn sie ist ja nicht die CSU, unnötig, überflüssig, falsch und schädlich für das demokratische Schulwesen sein mußte. Sie hätte es nach dem relativen Erfolg des FDP-Volksbegehrens nicht nur nicht nötig gehabt, eine „christliche Gemeinschaftsschule” vorzuschlagen, sie hat damit auch fahrlässig die mögliche klare Alternative verwischt. Die Rechtslage war eindeutig: Die Kirchen haben laut Konkordat und Kirchenvertrag Anspruch darauf, daß der Staat Konfessionsschulen dort einrichtet, wo sie durch den Willen der Eltern begehrt werden. Die Respektierung dieses Vertragsrechts sah der SPD-Antrag unmißverständlich vor, indem er Konfessionsschulen als Antragsschulen zuließ. Darüber hinaus aber stellte er als Alternative nicht die Gemeinschaftsschule als staatliche Schule für alle zum Angebot, etikettierte sie auch nicht lediglich — wie andere Länderverfassungen — als „christliche Gemeinschaftsschule” nach dem Maß einer allgemeinen christlich-kulturellen Prägung, sondern stellte im Kern den Kirchen die Bestimmung der Christlichkeit dieser Schulen (für den Gesamtunterricht) anheim.

Die wirkliche Gemeinschaftsschule blieb dabei auf der Strecke. Die demokratische Schule für alle, die einzurichten der Staat verpflichtet ist, hatte in Bayern plötzlich gar keinen Boden mehr. Die „christliche Gemeinschaftsschule” der FDP sowohl wie der SPD war imgrunde eine ebenfalls von den Kirchen bestimmte „ökumenische” Konfessionsschule. Das war — so sehr man in der konkreten Auseinandersetzung schließlich für diese Schulform votieren mußte — die Quintessenz des SPD-Antrags zum Volksbegehren gewesen. Im Endeffekt hatten also doch die CSU und die Kirchenleitungen das Gesetz des Handelns in Händen behalten.

(Zumal anderseits in Fragen der Behandlung von Minderheiten der SPD-Vorschlag seltsam unbestimmt blieb, unbestimmter gar als der spätere CSU-Vorschlag. Denn die SPD ermöglichte Konfessionsschulen als Antragsschulen, ohne jemals klar zu sagen, aufgrund welcher Mehrheit von Elternstimmen eine Konfessionsschule eingerichtet werden müsse, so daß das Minderheitenproblem an Konfessionsschulen bestehen blieb; während die CSU immerhin nur bekenntnishomogene Klassen in ihrer chrsitlichen Einheitsschule zulassen wollte. Der Pferdefuß dieser CSU-Lösung war allerdings, daß dabei nicht nur die nur vierklassige Schule zementiert wurde, sondern wegen der „Bekenntnishomogenität” vierklassige Schulen gar wieder zu zweiklassigen zusammenschrumpfen konnten. Insofern sollten nach SPD-Plan dessen Schulen voller ausgebaut — mindestens siebenklassig, wie man verlauten ließ — sein).

Der Volksbegehrenstext der SPD war also weißgott eine zweideutige Sache. Eindeutig wurde der Zwang, sich für ihn zu entscheiden, erst, als die CSU urplötzlich selbst mit einem Volksbegehren auf den Plan trat. Das aber hatte von vornherein nicht den Zweck, auf irgendeine Weise den Plan für eine vernünftige Schulreform in Bayern durchzusetzen, sondern lediglich die parteipolitische Absicht, der SPD das „Gesetz des Handelns” nicht zu überlassen. Die Einzelheiten des Vorgangs wurden in dieser Zeitschrift ausführlich berichtet. Wie der Zauberer aus dem Hut das Kaninchen, so erfand die CSU gleichsam übernacht eine Schul-„konzeption”, die total konträr war zu allen ihren bisherigen Vorstellungen und politischen Durchsetzungen (denn ausschließlich sie hatte ja zwanzig Jahre lang in Bayern die Möglichkeit, ihre Pläne zu verwirklichen), und das Wunder geschah, daß dieser abstrusen „Konzeption” schlagartig auch die Kirchenleitungen zustimmten, obwohl sie auch hier nicht nur total konträr war zu allen bisherigen kirchlichen Vorstellungen, sondern zudem eindeutig nicht mit den in den Kirchenverträgen kodifizierten kirchlichen Interessen in Einklang zu bringen war. Das aber war den Kirchenleitungen offenbar egal, da auch ihnen nicht mehr an der Sache oder an Vertragsrechten lag, sondern lediglich am Sieg der CSU über SPD und FDP. (Außerdem: die bayerischen Kirchenfürsten sind über ihre eigenen Verträge natürlich souverän. Der CSU teilten sie insgeheim mit, daß sie — wenn das CSU-Volksbegehren nur Erfolg habe — auf dieses oder jenes Vertragsrecht verzichten wollten; der SPD/FDP aber ließ die katholische Kirche offensichtlich durch ihren Apostolischen Nuntius mitteilen, daß ihr Volksbegehrenstext natürlich gegen das Konkordat verstoße. Was wirkte, wenngleich es eine bewußte Wahrheitswidrigkeit war. Ausdrücklich das SPD-Volksbegehren hatte sich am Vertragsrecht orientiert, und war deshalb nicht weitergegangen; das CSU-Begehren aber war eine so neue Erfindung, daß es jenseits sämtlicher bisheriger Verträge und Pläne lag. Der Zweck aber, die CSU zu unterstützen, heiligte den katholischen Bischöfen die schmutzigen Mittel.)

Die CSU also erfand für ihr Volksbegehren die „christliche Volksschule” als bayerische Einheitsschule. Den Schulkampf um das Konfessionsprinzip machte sie zum Klassenkampf, indem sie an der Einheitsschule die Einrichtung konfessioneller Klassen zuließ; das außerdem in solcher Form, daß das der CSU und den Kirchen sonst so heilige „Elternrecht” ganz vor die Hunde ging. Das Machtproblem hinter der Berufung des Elternrechts wurde offenbar: nachdem die Eltern Jahr für Jahr deutlicher gezeigt hatten, daß sie ihr „Elternrecht” nicht mehr in dem Sinne auszuüben bereit waren, wie die Kirchen es wollten, schaffte man es praktisch ab; erfand stattdessen — der CSU ist kein Ding unmöglich — den Wahlkampfslogan von der endlich gefundenen Einheitsschule, von der endlich beseitigten Gefahr alljährlicher Schulkämpfe …

Nun, beide Volksbegehren hatten Erfolg: Das SPD-Begehren kam, nach SPD-üblich

fairem (und lahmem) Werbekampf, vor allem in den kreisfreien Städten mit 12,9 Prozent der Stimmen über die Runden. Das CSU-Volksbegehren erreichte, nach CSU-üblichem unfairen Werbekampf und nachdem die katholische Kirche alle ihre undemokratischen Mittel eingesetzt hatte, vor allem auf dem platten bayerischen Lande gar 17,2 Prozent der Stimmen. Die Anrufung des Souveräns war vorüber; jetzt ginge es zwar theoretisch noch um den endgültigen Volksentscheid, aber inzwischen, nachdem sie das Volk in den Zirkus gebeten hatten, sitzen die Parteien, die Kirchen und andere interessierte Verbände wieder unter sich und verhandeln, unter Ausschluß des Volkes, über eine „gemeinsame« Lösung.

Im selben Moment aber, als der übel inszenierte Volksbegehrenskampf vorüber war, in dem gerade die Kirchen sich vor den anständig denkenden Bürgern heftigst kompromittiert hatten, traten die Kirchen wieder auf den Plan mit „Leitsätzen” über eine gemeinsame christliche Erziehung. Sie sind an anderer Stelle dieses Heftes nachzulesen. Gemeiner konnte das kirchliche Vorgehen in der Tat nicht sein. Nachdem zwei Jahrzehnte lang in Bayern Kämpfe um die konfessionelle oder gemeinschaftliche Schulerziehung gefochten worden waren; nachdem die Kirchen die selbe Zeit lang hartnäckig auf Erfüllung ihrer konfessionalistischen Vertragsrechte bestanden und so eine Schulreform verhindert hatten; nachdem besonders die katholische Kirche noch im vorigen Jahr ein vernünftiges neues Volksschulgesetz verhindern half, indem sie auf der Verfassung bestand (die ihr mehr einräumte, als das Konkordat ihr zusicherte: nämlich die Konfessionsschule als Regelschule) und indem sie dem evangelischen Minderheitspartner nur den Minderheitenlehrer zugestand; nachdem die Kirchen schließlich das vernünftige Volksbegehren der SPD an ihrem Widerstand hatten auflaufen lassen, während sie das (gewiß auch nach ihrem rationalen Kalkül) durchaus unvernünftige CSU-Begehren mit unsauberen Mitteln unterstützten, — nach vielen in sinnlosem Schulkampf vertanen Jahren, die für eine Schulreform nützlich gewesen wären, treten Mitte November 1967 Arm in Arm vereint plötzlich Kardinal Döpfner und Landesbischof Dietzfelbinger als christliche Biedermänner auf und verkünden dem erstaunten bayerischen Volke folgendes:

„In der schulpolitischen Debatte wurde die Frage aufgeworfen, ob in öffentlichen Volksschulen die Kinder nach gemeinsamen Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen werden können.

Wir halten — unbeschadet der Unterschiede im Verständnis der christlichen Botschaft zwischen den Kirchen — eine gemeinsame Unterweisung und Erziehung nach christlichen Grundsätzen für möglich, wenn sie durch einen konfessionell bestimmten Religionsunterricht ergänzt und vertieft wird.”

Ja, das nicht genug. Es geht weiter: „Wir weisen darauf hin, daß schon seit Jahrzehnten an vielen bayerischen Volksschulen in konfessionell gemischten Klassen solch gemeinsamer Unterricht erteilt wird.«

Nachdem die Bischöfe seit Jahrzehnten dem bayerischen Volke klarzumachen versuchen, daß gemeinsamer Unterricht vom Übel ist, teilen sie demselben bayerischen Volke nun mit, daß solcher gemeinsamer Unterricht seit Jahrzehnten erteilt wird und durchaus möglich ist.

Heuchelei ist zwar gewiß eine kirchenpolitische Tugend; was ich als altgedienter Katholik aus langer Erfahrung natürlich weiß. Aber manchmal gibt es Ereignisse, wo selbst mir solche Heuchelei nicht mehr auf eine Kuhhaut zu gehen scheint. Doch den Bischöfen geht sie’s. Kierkegaard war es, der die Christenheit als eine Selbsttäuschung und als wahren Feind des Christentums entlarvte. Aber leider, dem Kardinal Döpfner ist Kierkegaard kein Kirchenvater und dem Landesbischof Dietzfelbinger muß er, der evangelische Glaubensgenosse, schon deshalb suspekt sein, weil Dietzfelbinger zu sehr aufs Haar genau eben jenen Kirchenführern gleicht, die Kierkegaard sein Leben lang als Christentums-Manager bekämpft hat.

Kirchenpolitisch allerdings brauchte den vereinigten Bischöfen die Frage nach Heuchelei oder nicht auch nichts auszumachen, denn einmütig fielen nach ihren verkündeten „Leitsätzen” alle Parteien und interessierten Verbände in die Knie und bekundeten (zusammengefaßt in die Worte des BLLV-Präsidenten Ebert): „Alle Bürger Bayerns — ob Katholiken, Protestanten oder Humanisten gleich welcher Prägung — sollten den Initiatoren auf katholischer und evangelischer Seite sehr dankbar sein”, die Leitsätze seien „ein Dokument ökumenischen Geistes und uneingeschränkten christlichen Zusammenstehens, das weit über die Frage von Schule und Bildung hinausreicht”.

So kann mans auch sehen; allerdings nur, wenn man mehr als zehn Jahre in Bayern lebt und seit ebensolanger Zeit darum sich sorgt, ob nicht auch in Bayern endlich einmal möglich sein könne, daß die Kinder, die man hat, eine zureichende Schulbildung erhalten.

Dabei haben, jenseits solcher Parteieneuphorie, die katholischen Bischöfe Bayerns zehn Tage später kühl zurückgenommen,was die evangelisch-katholischen Leitsätze dem Schein nach zuzugestehen schienen: die uneingeschränkt gemeinsame „christliche” Erziehung. In einer Verlautbarung vom 1. 12. 67 erklärten sie nämlich, daß die gemeinsamen Leitsätze nur für die Fälle gelten sollen, wo Kinder verschiedener Konfession gemeinsam erzogen werden müssen, in allen anderen Fällen beständen sie aber auf Konfessionsklassen; außerdem betonten sie den „hohen Wert” der katholischen Privatschule, der durch die Leitsätze nicht berührt werde. Der „ökumenische Geist” reicht also bei den katholischen Bischöfen tatsächlich nur so weit, wie ein anderer nicht durchgesetzt werden kann. Das hätte dem nüchternen Betrachter der bayerischen Szenerie von vornherein klar sein können, aber SPD, CSU, FDP, BLLV und GEW sind eben keine nüchternen Betrachter, sondern Abhängige eines kirchenpolitischen Systems, das in Bayern das staatliche überherrscht.

Was aber ist von den alliierten bischöflichen Leitsätzen der Sache nach politisch-demokratisch zu halten?

Punkt 1 habe ich zitiert. In den Punkten 2 bis 5 dekretieren die Bischöfe dem Freistaat Bayern, wie er in der Staatsschule die gemeinsame „christliche” Erziehung einzurichten und durchzuführen hat, wenn sie vom wirklichen bayerischen Souverän, den Kirchenführern, ratifiziert werden soll. Wer Sinn für reale Macht hat, mag gar darüber sich freuen, wie hier souveräne „Persönlichkeiten” kompromißbereiten Volksvertretern ein Exempel statuieren. Mit Demokratie hat allerdings diese Manifestation „ökumenischen Zusammenstehens” grad ebensoviel zu tun wie Kirchenpolitik mit Christentum.

In Leitsatz 2 wird der bayerische Staat für seine staatliche Schulorganisation, sofern sie „gemeinschaftlich” sein muß, auf die „der ganzen Christenheit gegebene Bibel mit den Zehn Geboten und dem Vaterunser, das Apostolische und das Nizänische Glaubensbekenntnis” verpflichtet. Den Lehrern und Schülern soll er unterstellen, daß sie in der „einen Taufe mit Christus als dem gemeinsamen Herrn und Heiland” verbunden sind. Von solchen Grundlagen her sollen sich nach Leitsatz 3 „mannigfaltige Konsequenzen für den schulischen Alltag” ergeben. Daß ein Lehrer „Gott als Schöpfer bekennt”, soll Konsequenzen haben für den Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern. Daß die Bibel „den Menschen als Ebenbild Gottes” kennt und „um sein dialogisches und geschichtliches Wesen” weiß (welches Deutsch!), soll wichtige Aspekte und Richtpunkte für den Deutschunterricht, den Geschichtsunterricht, die Gemeinschaftskunde und für die musischen Fächer bieten. Weiter geht’s in unbewältigtem Deutsch: „Wer um die Herrschaft und die in Christus geoffenbarte Liebe des Vaters zu uns Menschen weiß, wird auch für sein pädagogisches Handeln wichtige Impulse vom Menschenbild der Bibel her empfangen. Die biblische Botschaft unterstreicht die Würde des Menschen, sie weist aber auch hin auf die menschliche Schuld, die auch im Bereich der Schule immer wieder aufbricht; sie zeigt Christi Erlösungswerk auch für diese Kinder und sie stellt sie in den weiten Raum der Hoffnung im Horizont der Endverheißung.”

Ich darf unterbrechen. An dieser Stelle tauchen urplötzlich irgendwelche „dieser Kinder” auf. Da das „diese” auf einen Bezug hinweist, sucht man den Bezugspunkt. Es bleibt kein anderer als die „menschliche Schuld, die” (welches Deutsch!) „auch im Bereich der Schule immer wieder aufbricht”. Was sind das also für Kinder: sind’s solche, die heimlich am Marmeladentopf ihrer Mutter naschen oder die den Herrn Lehrer belügen; sind es „Kinder der Sünde”, außer- oder uneheliche; oder tauchen an dieser Stelle der bischöflichen Verlautbarung tatsächlich einmalig jene ungetauften nicht-christlichen Kinder auf, die „um” das alles nicht „wissen” und die doch von Staats wegen in die christliche Einheitsschule gepreßt werden sollen, weil es eine andere nicht gibt? Wahrscheinlich wohl diese.

Wer aber auch immer gemeint sei, das Interesse der Bischöfe daran, diese oder jene Kinder in einen Schuldzusammenhang zu verstricken, wäre eine psychoanalytische Untersuchung wert. Man beachte dabei, daß dieser Abschnitt mit den Worten: „Wer um die Herrschaft … des Vaters .. weiß” beginnt und folgerichtig endet bei dieser Schuldverstrickung. Da haben wir, wenn auch schwammig formuliert, die Pole des wahren kirchlichen Interesses beisammen: eine bestimmte Herrschaftsstruktur und (auch zu diesem Zweck) ein bestimmtes Schuldbewußtsein soll erhalten bleiben. Dies hat die staatliche Schule der Kirche zu leisten. Das biblische Beiwerk kaschiert nur dieses kirchliche Grundinteresse. Die Werte, um derentwillen es sich lohnt, in einer Demokratie zu leben, die konkreten menschlichen Freiheiten, das kleine konkrete menschliche Glück, Aufklärung und Weckung von Selbstbewußtsein kommen als Erziehungsziele in diesen bischöflichen Anweisungen für die „christliche Schule” nicht vor; sie stehen allenfalls an jenem berufenen „Horizont der Endverheißung” herum, der, wie Horizonte nun einmal sind, sich in dem Maße entfernt, wie man auf ihn zugeht.

Dies schreibe ich übrigens als Katholik, der „um” dieses und jenes auch recht gut weiß, besonders um das Interesse seines Bischofs seine Schäflein nicht nur beisammen zu halten, sondern auch als Schäflein zu erhalten, — und ich schreibe es in niemandes Auftrag, sondern ganz aus eigenem Antrieb. Was zur christlichen Substanz der bischöflichen Leitsätze zu sagen ist, läßt sich mit einem Satz zusammenfassend sagen, den Friedrich Heer kürzlich in anderem Zusammenhang niedergeschrieben hat. Die Kirchen als geschlossene Gesellschaften, sagt Heer, ringen beharrlich darum, „ihre ,Kinder‘ zu reinfantilisieren, zu repubertisieren (falls sie der Pubertät fahrlässig entlaufen sind) und in einem ,kindlichen Gehorsam‘ zu erhalten, der eben dies zu verhindern sucht: das Freiwerden zur Freiheit der Kinder Gottes.”

In der staatlichen Gemeinschaftsschule aber geht’s nicht einmal darum, sondern primär um das Freiwerden zu selbstbewußten erwachsenen Bürgern. Und darum ist die Frage nach der christlichen Substanz der bischöflichen Leitsätze weniger wichtig als die Frage des Anspruchs, den sie gegen die vom demokratischen Staat eingerichtete Schule für alle erheben. Es handelt sich ja keineswegs um Leitsätze für katholische, evangelische oder gar ökumenische Privatschulen, die sie errichten wollen, handelt sich auch nicht um kirchliche Leitsätze für staatliche Konfessionsschulen, schließlich auch nicht um Leitsätze für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Es handelt sich um kirchliche Leitsätze, die dem ganzen Unterricht in gerade den Schulen Maßstäbe setzen sollen, die vom Gebot der freiheitlicheri Verfassung her ausgerechnet jeglichem verfassungsgarantierten (Religionsunterricht, Privatschulen) oder vertraglichen (Konfessionsschulen) Zugriff der Kirchen entzogen sein sollen und müssen, die Schulen also, die der Staat als Schulen für alle zu errichten von der Verfassung her verpflichtet ist. Die Maßstäbe aber, die die Bischöfe der staatlichen Schule für alle zu setzen belieben, sind, so „positiv” sie aus „ökumenischem” kirchlichen Selbstverständnis formuliert scheinen, im ganzen repressiv. Daß der naturwissenschaftliche Unterricht auf den biblischen Schöpfungsbericht bezogen sein soll; daß Deutsch-, Geschichts-, Gemeinschaftskunde- und musischer Unterricht auf ein biblisches Menschenbild ausgerichtet sein sollen, besagt, daß der Unterricht diesen Rahmen nicht verlassen darf. Ein gewisses Herrschaftsverhalten und ein gewisses Schuldbewußtsein müssen zur Erhaltung kirchlicher Herrschaft von der staatlichen Schule anerzogen werden: Das bringt ein Beispiel in Erinnerung, das einer der wackersten Streiter für die katholische Konfessionsschule, Professor Franz Pöggeler, immer wieder als Musterbeispiel wahrhaft christlichen Unterrichts liebevoll erzählt: Im Biologieunterricht erklärt der Lehrer an Korn, Halm und Ähre das Wachstum einer Pflanze. Das sei, sagt Pöggeler, für den katholischen Lehrer willkommener Anlaß, die Schöpferkraft Gottes zu preisen, der aus einem so kleinen Korn einen so wunderbar gestalteten Halm und eine so fruchtbare Ähre entstehen läßt; ja darüber hinaus sei für den Christen das Brot, das aus dem Korn entsteht, ja noch Symbol und Zeichen eines Sakraments, in dem Christus … undsoweiter. Unter der Hand ist so der Biologieunterricht zum Religionsunterricht geworden. Und eben das und nichts anderes ist auch der Sinn und der Zweck der bischöflichen Leitsätze für den „gemeinsamen” Unterricht an den staatlichen Gemeinschaftsschulen: naturwissenschaftlicher Unterricht ist erlaubt; insofern er Zubringerunterricht für den Religionsunterricht ist; Deutsch- und Geschichtsunterricht, Gemeinschaftskunde und musische Fächer sind willkommen, insofern sie Hilfestellung für den Religionsunterricht. leisten. Die gesamte große staatliche Veranstaltung Schule schrumpft den Bischöfen auf ihr kleines Interesse zusammen, daß in der Bevölkerung eine gewisse kirchliche Bindung erhalten bleibe. Daß der Staat ihnen das garantiert, das ist der Anspruch ihrer Leitsätze.

Sie sind also eine Anmaßung. Gäbe es in unserer Gesellschaft ein verbreitetes demokratisches Bewußtsein, dann würde die Menge selbstbewußter Staatsbürger, seien sie nun Christen oder nicht, aber wären sie vor allem Demokraten, diese Anmaßung erkennen und deutlich als solche zurückweisen. Das Gegenteil aber geschieht: allerorten preist man die Bischöfe ob ihres „Beitrags zum Schulfrieden”, und die Parteien und mächtigen Verbände ziehen sich auf die Linie zurück, die die Kirchen ihnen als weiteste erlaubte zugewiesen haben: Sei es die SPD oder FDP, die GEW oder der stolze Bayerische Lehrerverein (und schließlich natürlich die CSU, die ans Interesse der Kirchen ihr Interesse an der Erhaltung ihres Wählerreservoirs ohne demokratische Komplexe anhängt).

Dergleichen also geschieht in Bayern im Jahre 1967. Allerdings: in Bayern zwar offen und in Reinkultur, im Feilschen ums „Christliche” an den Schulen aber quer durch die Bundesrepublik. Die Bischöfe betreiben aus Kirchenpolitik den Ausverkauf des glaubwürdigen Christentums. Die Volksvertreter aber betreiben den Ausverkauf von Grundbestandstücken der freiheitlichen Demokratie.

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