Publikationen / vorgänge / vorgänge 137

Die Ombudsfrau des deutschen Straf­voll­zugs

Laudatio zur Verleihung des Courage-Preises an Birgitta Wolf

Aus: vorgänge Nr. 137( Heft /1997),Seite 132-138

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Birgitta,

den Courage-Preis sollst Du heute erhalten. Einen Preis für den Mut, mit dem Du Dich in Deinem Leben immer wieder für Menschen in Not eingesetzt hast. Da frage ich mich als erstes: Wie bist Du eigentlich eine derart mutige Person geworden? Hat man Dir diese Tugend in Deiner Familie beigebracht? Oder hast Du es in der Schule gelernt, couragiert zu sein — so, wie man dort den Bauchaufschwung am Reck erlernt? Üben, üben, üben, und irgendwann kann man es? Nein! Ich denke, die Entwicklung zum Mutig sein verläuft ganz anders. Vergegenwärtigen wir uns doch alle einmal, wie eine Gruppe von kleinen Kindern agiert — etwa in einer Kinderkrippe oder einem Kindergarten, der nicht autoritär geführt wird.
Das Faszinierende an diesen kleinen Menschen ist doch immer wieder ihre unbändige Lebensfreude, ihre Vitalität und ihr Mut, sich auf alle möglichen, ihnen noch weitgehend unbekannten Risiken des Lebens einzulassen. Aber dann gibt es da all diese Erziehungspersonen, die einem beibringen, wie man sich einfügt in diese Gesellschaft, daß man Autoritäten zu respektieren hat, daß Disziplin und Anpassung notwendig sind, daß man gehorchen muß. Manches an diesen Sozialisationsvorgängen mag ja notwendig sein, damit wir uns in dieser Gesellschaft zurechtfinden und das Zusammenleben von Millionen von Menschen einigermaßen geordnet abläuft.
Aber eines ist auch klar: Zum Untertanen wird man nicht geboren. Dazu wird man gemacht.
Eine derartige Abrichtung zum Gehorsam hast Du, Birgitta, offenkundig nicht erlebt.
Du bist in einem märchenhaften Schloss in Schweden aufgewachsen, umgeben von den kleinen Holzhäusern der Arbeiter, deren viele Kinder Deine liebsten Spielkameraden waren. Dein Vater, Graf von Rosen, war zwar nach Deinen Schilderungen ein Patriarch von altem Schrot und Korn — also durchaus schon mal jähzornig aufbrausend, wenn ihm seine sechs Kinder gar zu sehr auf den Geist gingen. Aber Dich als viertes Kind hat das nicht mehr so hart getroffen. Im Gegenteil: Er hat Dich immer ermutigt, es ihm deutlich zu sagen, wenn er aus Deiner Sicht ungerecht und böse gewesen war. So hast Du eine Art Pippi Langstrumpf-Kindheit gehabt — geprägt von großen Freiräumen, viel Liebe und wenig Ängsten.
Als ungezähmte, wilde kleine Schwester hast Du offenbar auf einen Deiner Brüder, den Graf Björn von Rosen, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er, ein Schriftsteller, hat Dich jedenfalls in einem Kinderbuch verewigt, das den schönen Titel trägt „Das Märchen von der ungehorsamen Adeli-Sofi und ihrer furchtbaren Begegnung mit dem Wassermann”. Du hast dieses Kinderbuch Anfang der 40er Jahre ins Deutsche übersetzt. Gleich nach seinem Erscheinen wurde es dann jedoch im Jahr 1944 als entartete Kunst eingestuft und verboten. Was war daran so gefährlich für die Nazis? Das war offenkundig die Beschreibung eines kleinen Mädchens, das lustvoll ungehorsam ist. Ich zitiere: „Wir möchten auch mal was Verbotenes tun, nur Ungezogensein macht richtig froh.”
Gewissermaßen zur Strafe dafür, daß Adeli-Sofi sich diesem Grundsatz gemäß verhält, wird sie vom mächtigen Wassermann in die Tiefen des Meeres entführt. Aber glücklich wird er mit
ihr nicht. Alles Drohen, Umwerben und Flehen hat keine Wirkung. Sie schweigt. Und dann – ich zitiere: „Da sprach sie endlich – doch das Wort war: Nein! Sie öffnete den Mund und schrie und schrie, und Schreien konnte Adeli-Sofi! Sie hatte es schon oft geübt zu Haus und brachte jetzt die höchsten Töne raus.
Und wie geht es weiter? Der Wassermann gibt entnervt auf und bringt Adeli-Sofi ans Ufer zurück. Und die Moral von der Geschicht‘? Sie steht in den letzten beiden Zeilen: „Wenn man nur genügend schreien kann, setzt man sich durch – auch bei dem Wassermann.”
Klar, daß die Nazis diese Geschichte des erfolgreichen Widerstands eines Kindes nicht geliebt haben.
Ich denke, das Märchen ist symbolisch für das Leben von Birgitta Wolf. Sie hat immer dann laut aufgeschrien, wenn ihr sinnloses Leiden begegnet ist, das andere Menschen absichtlich verursacht haben. Immer dann, wenn sie auf himmelschreiendes Unrecht gestoßen ist, hat sie sich gerade nicht damit begnügt, in einer stillen Fürbitte den Himmel anzurufen. Sie hat die Öffentlichkeit alarmiert. Und sie hat mit dem Schreien erst dann aufgehört, wenn die
Behörden, die Ministerien oder die verantwortlichen Mitmenschen endlich reagiert und dem jeweiligen Mißstand abgeholfen haben.
Damit wäre ich eigentlich in meiner Laudatio schon bei der Birgitta angelangt, von der Sie, verehrte Zuhörer, heute viel hören wollen. Aber ich bitte um etwas Geduld. Noch einmal will ich zu Birgittas Jugend zurückkehren, weil in ihr so viel von dem angelegt wurde, was sie später in ihrem Leben getan hat.
Ich habe es schon erwähnt – am liebsten spielt sie mit den Arbeiterkindern in den Wäldern rund um den geliebten See. Und weil sie im Bogenschießen, im Segeln und im Raufen bestens mit den Jungs mithalten kann – beispielsweise wird sie 1929 schwedische Jugendmeisterin im Bogenschießen – wählt ihre Gruppe sie zu ihrer großen Freude zum Räuberhauptmann.
So wird sie zu einem weiblichen Robin Hood, der sich schon in dieser Zeit für diejenigen einsetzt, die am Rande der Gesellschaft stehen. Dazu ein Beispiel: Am 23. April 1929 lädt sie als damals 16jährige im Arbeiterviertel ihres Städtchens für 19.00 Uhr in das sogenannte Haus des Volkes zu ihrem ersten öffentlichen Vortrag ein. Das Thema lautet „Vorschlag zur Bildung eines Kameradenclubs in Starreholm”. Sie will eine Art Freizeitverein für all diejenigen gründen, die nirgends so richtig dazugehören und als Habenichtse zum Herumlungern und Zuschauen verurteilt scheinen. Und weil Birgitta davon ausgeht, daß der Saal zu klein sein würde für die vielen Jugendlichen und Erwachsenen, die ihr zuhören wollen, hat sie auf dem Plakat angekündigt, daß sie am selben Tag um 20.30 Uhr den Vortrag noch einmal halten werde. An Sendungsbewußtsein und Selbstvertrauen hat es ihr wahrlich nie gefehlt.
Ein weiteres Beispiel für ihre außergewöhnliche Courage bietet sie ihren Familienangehörigen und Freunden ein Jahr später als 17jährige. Damals ist sie zu Besuch in der Schweiz und reist mit dem Zug von Genf nach Luzern. Unterwegs hält der Zug. Auf dem Nachbargleis schaut ein attraktiver junger Mann aus dem Fenster eines Zuges, der gerade aus der Gegenrichtung eingefährt. Als er Birgitta erblickt – eine hinreißende nordische Schönheit, die ihn herzlich anlächelt – ist es um ihn geschehen. Er springt aus dem Zug, wechselt hinüber und nimmt gegenüber Birgitta Platz. Der Schaffner, der kurze Zeit später seinen Fahrschein kontrolliert, meint zwar noch „Junger Mann, Sie sind im falschen Zug”. Aber die beiden jungen Leute sind da offenkundig ganz anderer Ansicht. Einige Stationen später – dort, wo der junge Mann zuvor sein Auto geparkt hat – steigen sie beide aus und starten in dem Zweisitzer ihre Reise in ein gemeinsames Leben. Drei Jahre später heiraten sie. Und weil er Deutscher ist, landet Birgitta auf diese Weise im Jahr 1933 im Schwarzwald. Hier in unserem Land verkehrt sie alsbald im Kreis der mächtigsten Nazi-Größen.

Als Verwandte Hermann Görings – er hat die jüngere Schwester ihrer Mutter geheiratet – ist sie oft bei ihm, aber auch bei Göbbels, bei Speer und sogar bei Hitler zu Gast. Das verführt sie jedoch nicht. Sie bleibt, wie wir gleich sehen werden, ganz die alte.
Die ersten Jahre in Deutschland ist Birgitta Wolf noch primär damit beschäftigt, verliebt zu sein, Kinder in die Welt zu setzen und ihr Familienleben zu gestalten. Doch das ändert sich schlagartig, als 1936 die Frau eines Arbeiters, Robert Haist, zu ihr kommt und um Rat und Hilfe bittet. Sie erzählt ihr, daß ihr Mann sozialistische Flugblätter mit der Aufforderung zum Widerstand gegen Hitler verteilt hat. Er sei dabei verhaftet worden und sei seitdem verschwunden. Die Frau befürchtet, daß die Gestapo ihn in ein KZ-Lager abgeschoben hat und dort umbringen würde. Birgitta Wolff zögert nicht lange. In einem Gemisch von Naivität und Empörung schreibt sie einen ziemlich impertinenten Brief an den damaligen Leiter des Sicherheitsdienstes des Reichsführers der SS, Reinhold Heydrich, schildert die Situation und ihr völliges Unverständnis für die Handhabung dieses Falles. Sie fordert, daß der Mann, falls er sich strafbar gemacht habe, einem ordentlichen Gericht zugeführt werde und daß man seine Adresse der Ehefrau mitteilt. Und das Wunder geschieht. Man entspricht ihrem Vorschlag. Der Mann wird verurteilt, sitzt noch einige Zeit im Gefängnis und überlebt die Nazi-Zeit.
Seit dieser Geschichte hat Birgitta ihre Augen offen. Mehr und mehr begreift sie, was wirklich in Deutschland abläuft. Und sie engagiert sich. Dazu nur drei Beispiele:

— 1938, der Vormittag nach der Reichskristallnacht. Birgitta hat Besuch von ihrer Mutter und ihrem Bruder. Zu dritt protestieren sie öffentlich gegen die Ausschreitungen auf der Straße. Alle drei werden von SS-Leuten in ein kleines, für solche Fälle bereitgestelltes Lokal abgeführt. Als man anhand der Personalien feststellt, daß es sich um Verwandte von Göring handelt, werden alle drei wieder freigelassen.
— Frühjahr 1945: Birgitta Wolf versucht, über Hermann Göring eine Besuchserlaubnis für das KZ-Außenlager Dachau zu bekommen. Sie will dort eine mit ihr verwandte holländische Widerstandskämpferin besuchen, von der sie weiß, daß diese psychisch in einer sehr bedrohlichen Lage ist. Göring telegrafiert und schreibt ihr brieflich, daß ein Besuch völlig ausgeschlossen sei. Daraufhin schmuggelt sich Birgitta mit falschen Angaben in das KZ. Es gelingt ihr, die zum Tode verurteilte und danach zu lebenslanger Haft begnadigte Frau zu sprechen und ihr auf schwedisch ermutigende Nachrichten aus der Heimat und zur Kriegslage mitzuteilen.
— Ebenfalls Frühjahr 1945: Die Tochter Birgittas findet im Wald drei völlig entkräftete Jüdinnen, die bei einem Transport hatten fliehen können. Birgitta versteckt die drei in dem von ihr gemieteten Haus in Grainau bei Garmisch-Partenkirchen, bis das Kriegsende endlich auch das Ende der Nazi-Herrschaft bringt.
Damit sind bereits in den Jahren von 1936 bis 1945 die drei Elemente der späteren Arbeit von Birgitta Wolf erkennbar, die ab Mitte der 50er Jahre ihren Alltag prägen:
Die Gefangenenfürsorge, die Notaufnahme in ihrem Haus und der öffentliche Protest gegen eine inhumane Behandlung von Außenseitern dieser Gesellschaft. Zu diesen drei Arbeitsschwerpunkten möchte ich jetzt etwas mehr und Genaueres sagen.
Zunächst zur Gefangenenfürsorge: Birgitta Wolf kümmert sich auch nach 1945 persönlich um Menschen, die sich in Notlagen befinden — vor allem um Gefangene, denen sie Briefe schreibt, die sie in ihren Gefängnissen besucht, denen sie Mut macht, sich persönlich nie aufzugeben, und für deren Belange sie sich gegenüber den staatlichen Behörden einsetzt. Im Laufe ihres Lebens hat sie von knapp 9.000 Gefangenen ca. 60.000 Briefe erhalten, die sich mit der Bitte um Hilfe oder Rat an sie gewandt haben.
Diese in Europa wohl einmalige Dokumentation des Erlebens von Strafvollzug durch die Betroffenen hat sie in ihrem Keller ordentlich archiviert. Später einmal sollen die Briefe in dem von Jan Philipp Reemtsma gegründeten Hamburger Sozialforschungsinstitut wissenschaftlich ausgewertet werden.
Auch bei diesem Teil von Birgitta Wolfs Arbeit fällt auf, daß sie keine Scheuklappen kennt. Sie versucht jedem zu helfen, der sich in seiner Not an sie wendet. Das gilt selbst für den Henker von Buchenwald, Gerhard Sommer, oder den ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilten Heinrich Baab, der für die Konzentrationslager Judentransporte zusammengestellt hat. Beide haben mehr als 20 Jahre Gefängnis hinter sich, als sie Birgitta schreiben. Beide sind unheilbar krank. Beide sind bereit, sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen. Da organisiert Birgitta Wolf, daß ein jüdischer Wissenschaftler, Prof. Steiner, der selber Auschwitz nur knapp überlebt hat und dort seine Mutter verloren hat, mit beiden stundenlang sprechen kann. Danach beantragt er – unterstützt von Birgitta Wolf – die Begnadigung der beiden – im Fall von Heinrich Baab mit Erfolg. Für Gerhard Sommer gibt es zumindest eine Haftunterbrechung. Er stirbt wenig später in den Rummelsberger Anstalten.
Ein anderes Beispiel: Birgitta Wolf kümmert sich auch um Mitglieder der Baader Meinhof-Gruppe bzw. der RAF. Mit insgesamt 17 von ihnen hat sie Briefkontakt. Bei den lebensbedrohlichen Hungerstreiks wird sie als Vermittlerin eingeschaltet. Sie trägt wesentlich dazu bei, daß einige sich von der Gewalt lossagen. Mit mehreren von ihnen wie etwa Horst Mahler entsteht ein intensiver Briefdialog, dem Besuche in der Haft folgen. In dem Fall einer zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten engagiert sich Birgitta nach 12 Jahren Haftverbüßung mit großem Einsatz für die Begnadigung durch den Bundespräsidenten von Weizsäcker. Er entspricht ihrem Vorschlag – und er wird dafür in der Öffentlichkeit heftig angegriffen.
Und die Strafvollzugsbehörden – wie haben sie auf diese von den Gefangenen erwählte Ombudsfrau reagiert? Viele zunächst mit Mißtrauen und Abwehr. Vom Justizministerium Nordrhein-Westfalen erhält Birgitta Wolf zeitweise sogar ein Hausverbot und Kontaktverbot für alle Anstalten, weil sie in Schweden die Zustände in der Anstalt Werl deutlich kritisiert hat. Nach einem persönlichen Gespräch hebt der Minister Neuberger die Anordnung dann jedoch wieder auf. Und manchmal geschieht sogar das Gegenteil. 1976 erhängen sich zwei Gefangene in der Hamburger Anstalt Fuhlsbüttel. Eine Gefangenenmeuterei steht unmittelbar bevor. Da bittet der Anstaltsleiter Stark Birgitta Wolf telefonisch, eiligst nach Hamburg zu kommen. Im Kirchenraum der Anstalt darf sie allein, ohne Beisein von Bediensteten, zu etwa 300 Gefangenen sprechen. Und es gelingt ihr tatsächlich, die Situation zu entschärfen.
Das war vor 20 Jahren. Damit Sie nicht glauben, Birgitta Wolf hätte jetzt im höheren Alter die Hände in den Schoß gelegt, nachfolgend in Stichworten ihr letzter Fall aus diesem Jahr:
Ein Strafgefangener überlebt mit knapper Not seinen dritten Herzinfarkt. Nun ist eine komplizierte Herzoperation angesagt – vier Bypässe sollen gelegt werden. Er und Birgitta Wolf befürchten, daß er wie bei früheren Krankenhausaufenthalten wieder gefesselt wird, wenn er von der Intensivstation in das Mehrbettzimmer verlegt wird. Das geschieht dieses Mal aufgrund ihres Protests zwar nicht. Aber hören Sie, was statt dessen ablief. Der schwer herzkranke Mann wird am Tag vor der Operation zur Durchführung der notwendigen Voruntersuchungen von seiner Vollzugsanstalt in das ca. 60 km entfernte Krankenhaus hin und wieder zurücktransportiert. Dann am nächsten Morgen wieder vom Gefängnis ins Krankenhaus. Am gleichen Tag folgt die Operation mit anschließend drei Tagen Intensivstation. Und danach geht es trotz seines sehr angegriffenen Gesundheitszustandes sofort zurück in das Gefängnis. Am nächsten Tag erleidet er dort einen Schlaganfall.
Vier Wochen später stirbt er. Sie können sich denken, daß Birgitta Wolf da nicht passiv bleibt.
Zweiter Arbeitsschwerpunkt Notaufnahme: Seit Ende des Krieges beherbergt Birgitta Wolf in ihrem jeweiligen Haus – zuerst in Grainau, dann in Murnau – Menschen, die vorübergehend ein Dach über dem Kopf brauchen, die Zuwendung suchen und einfach nicht wissen, wo sie sich sonst hinwenden sollen. Manche kommen aus einer persönlichen Notlage zu ihr – andere direkt aus dem Gefängnis. So liest Birgitta Wolf 1954 eine Zeitungsnotiz über eine 15jährige Kriegswaise, die auf der Straße gefunden worden war. Sie hatte wahrheitswidrig angegeben, daß ein Auto sie angefahren hätte. In Wirklichkeit war sie nur erschöpft. Ein Krankenhaus bedeutet ein Bett, Wärme, Essen und Zuwendung. Aber der Schwindel kommt raus. Kurzerhand steckt man sie ins Gefängnis. Als Birgitta Wolf das in der Zeitung liest, nimmt sie ein Fahrrad, fährt zum Amtsrichter und erreicht, daß man ihr das Mädchen mitgibt.
Die 15jährige Gerda wird so die erste in einer langen Kette von Menschen, die bei Birgitta nach einem Gefängnisaufenthalt Zuflucht finden. Und es sind durchaus auch ganz andere darunter wie etwa der über 60jährige Mann, der 37 Jahre lang wegen Vergewaltigung und mehrfachen Totschlags gesessen hat und der dann bei Birgitta Wolf mühsam lernt, im Alltag einer fremd gewordenen Welt außerhalb des Gefängnisses zurechtzukommen. Viele sind Urlauber aus der Haft, die sonst niemand haben, der sie aufnehmen will. Das hat ihr beileibe nicht nur die Dankbarkeit der Betroffenen eingebracht. Weil sie auch sog. „Verbrecher” bei sich leben läßt, wird sie immer wieder angefeindet, mit anonymen Schmähbriefen bedacht und erhält Drohanrufe.
Zum dritten Arbeitsschwerpunkt — dem öffentlichen Protest: Die Erfahrungen und Einblicke, die bei Birgitta Wolf im Laufe der Jahre durch die Briefkommunikation mit Tausenden von Gefangenen und ihre vielen Anstaltsbesuche entstehen, führen bei ihr bereits in den 60er Jahren zu einer sehr kritischen Analyse des deutschen Strafvollzugs. So ist es nur konsequent, daß sie Reformvorschläge ausarbeitet, darüber Vorträge hält, Bücher und Aufsätze zum
Strafvollzug publiziert und in Radio und Fernsehsendungen auf die von ihr wahrgenommenen Mißstände hinweist. In Fachkreisen der Wissenschaft und Praxis bringt ihr das viel Anerkennung ein. Ausdruck dafür ist beispielsweise, daß ihr die Deutsche Gesellschaft für Kriminologie im Jahr 1966 die Beccaria -Medaille verleiht.
Aber an den damals wirklich skandalösen Zuständen in den deutschen Gefängnissen ändert sich deswegen nichts. Nach wie vor gibt es Anfang der 70er Jahre den verschärften Arrest in der isolierten Einzelzelle, ohne Schreiberlaubnis und Lesestoff, bei dem die Gefangenen zum Teil wochen- und monatelang auf einem schlichten Brett ohne Matratze schlafen müssen, tagelang nur Wasser und Brot erhalten und so psychisch und physisch gequält werden. Und dies in einem Land, dessen Verfassung den staatlichen Organen verbietet, die körperliche Unversehrtheit und die Menschenwürde seiner Bürger zu verletzen. Nach wie vor werden z.B. Reihenuntersuchungen und Darmkontrolle im nackten Zustand vor den Augen von Bediensteten und Mitgefangenen durchgeführt. Nach wie vor gibt es für die vielfältigen Grundrechtseinschränkungen, die den Gefangenen im Vollzugsalltag auferlegt werden, keine gesetzliche Grundlage. Birgitta Wolf entscheidet sich deshalb für eine andere Form des Protestes. Sie schreibt 1970 einen offenen Brief an den Bundesjustizminister, in dem sie diese Mißstände anprangert. Ich zitiere daraus einen Satz: „Die Freiheitsstrafe darf nur im Entzug der Freiheit bestehen, nicht in zusätzlichen Schikanen und Demütigungen.” Sie organisiert eine Unterschriftenaktion, die vor allem bei Strafrechtswissenschaftlern, Kriminologen und kritischen Praktikern großen Anklang findet. Und sie erreicht, daß der offene Brief von fast allen großen Tageszeitungen auszugsweise abgedruckt und in Fachzeitschriften ungekürzt veröffentlicht wird.
Die Resonanz, die sie damit erzielt, ist beachtlich. Der Bundesjustizminister und fast alle Landesjustizministerien reagieren brieflich und setzen sich mit ihren Argumenten auseinander. Das Bundesjustizministerium teilt ihr darüber hinaus mit, daß der Kabinettsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes im Gegensatz zur Vorlage der Strafvollzugskommission die Möglichkeit des verschärften Arrestes nicht mehr vorsieht.
Trotz dieses ermutigenden Zwischenresultats ändert sich dann jedoch über Jahre hinweg an der Praxis des Strafvollzugs wenig. Im Gegenteil. Im Zuge der Strafverfolgung von
RAF-Mitgliedern ergeben sich teilweise sogar Verschärfungen. Das gilt insbesondere in bezug auf die strenge Isolationshaft, in der solche Gefangene gehalten werden, die als politische Terroristen angesehen werden. Und da ist es mit der Geduld von Birgitta Wolf zu Ende. Zwischen dem 21. Oktober und dem 17. November 1974 tritt sie für 27 Tage in den Hungerstreik, um so ihre Solidarität mit 35 Gefangenen zu bekunden, die Mitte September 1974 mit einem Hungerstreik gegen die Verhältnisse im Strafvollzug protestieren. Dieses Mal ist die Resonanz in den Medien noch breiter als vier Jahre zuvor. Und Birgitta Wolf erhält erneut viel Unterstützung durch Wissenschaftler, Studenten und kritische Bürger.
Damit habe ich nur eine kurze Zeitspanne des an Protest und Öffentlichkeitsaktionen reichen Lebens von Birgitta Wolf ausgeleuchtet. Bis heute hat sie immer wieder Anlaß gesehen, sich für die faire Behandlung von Gefangenen einzusetzen — in den letzten beiden Jahren
beispielsweise dafür, daß mittellose Untersuchungsgefangene und Asylbewerber in Abschiebehaft ein monatliches Taschengeld von 50 bis 80 DM als Sozialhilfeleistung erhalten. Zu diesem Arbeitsschwerpunkt und der damit verbundenen Öffentlichkeitsarbeit will ich abschließend noch ein paar Zahlen nennen: In den letzten 40 Jahren hat Birgitta Wolf ca. 400 Vorträge gehalten und an etwa 100 Rundfunksendungen und über 60 Fernsehsendungen mitgewirkt. Sie hat zehn Bücher veröffentlicht, und in weiteren 35 Büchern sind Beiträge von ihr erschienen.
Das, was Birgitta Wolf in diesen drei Arbeitsschwerpunkten geleistet hat, ist jedenfalls in Deutschland einmalig. In unserem Land gibt es keine zweite Person, die sich in den letzten vier Jahrzehnten derart bedingungslos, engagiert und wirkungsvoll für Gefangene eingesetzt hat. Daß Birgitta Wolf deswegen immer wieder angefeindet worden ist — und dies meist anonym, habe ich bereits berichtet. Erwähnung verdient dann aber auch das hohe Maß an Unterstützung und Anerkennung, das sie erfahren hat. Unterstützung hat sie zunächst in ihrem unmittelbaren Umfeld bekommen — am Anfang von einzelnen Personen, dann durch Initiative von Erika Sprenger-Steinmüller in Form des von ihr initiierten gemeinnützigen Vereins Nothilfe Birgitta Wolf e.V. Die engagierten Freunde und Helfer, die sich in diesem Verein zusammenfinden, leisten nun schon seit 27 Jahren großartige Arbeit und sind für Birgitta unverzichtbare Partner, Ratgeber und Kraftquelle. Und Mut gemacht hat ihr sicherlich auch, daß sie immer wieder öffentlich für ihr Engagement geehrt worden ist. Die 1966 verliehene Beccaria -Medaille habe ich bereits erwähnt. 1971 hat sie ferner den Fritz-Bauer-Preis für Anregungen in bezug auf Reformen im Strafrecht und Strafvollzug erhalten.
1985 hat sie Carl Gustav König von Schweden mit der goldenen Serafimer -Medaille für humanitären Einsatz in Europa geehrt. Und ebenfalls 1985 wurde ihr von Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. Heute erhält sie nun den Courage-Preis.
Ich denke, wohl jeder hier im Saal wird zustimmen, daß die Fraktion der Grünen im Bayerischen Landtag damit im doppelten Sinne richtig entschieden hat. Zum einen darf ich Sie zu Ihrer Entscheidung beglückwünschen, erstmals einen Courage-Preis zu verleihen.
Und zum zweiten freue ich mich sehr darüber, daß Ihre Wahl auf Birgitta Wolf gefallen ist. Gestatten Sie mir aber doch im letzten Abschnitt meiner Laudatio eine Nachfrage — oder besser gesagt ein lautes Nachdenken über derartige Auszeichnungen. Warum tun Sie das eigentlich? Warum verleihen wir solche Preise?
Ist es primär der Wunsch, die geehrte Person zu ermutigen und sie anzuspornen, in ihrem Engagement auch in Zukunft ja nicht nachzulassen? Also Birgitta, nun mit neuem Schwung ran an die nächsten 10.000 Gefangenenbriefe! Auf in den nächsten Hungerstreik! Nein, würden Sie da sicherlich antworten. Wir wollen mit dem Preis doch nur unseren Respekt bekunden, unsere große Anerkennung für diese Frau, die stets ihren aufrechten Gang beibehalten und Großartiges geleistet hat. Gut, das akzeptiere und verstehe ich doch, würde ich in unserem fiktiven Gespräch fortsetzen und weiterfragen: Aber hat Birgitta Wolf das noch nötig — bei den vielen Ehrungen, die sie schon erhalten hat?
Und jetzt gebe ich selber meine Antwort:
Wir verleihen solche Preise vor allem, weil wir sie dringend brauchen. Es gibt so wenig Menschen in unserer Gesellschaft, die wirklich Zivilcourage zeigen, die sich einmischen, die laut aufschreien, wenn Außenseitern Unrecht geschieht. Wenn wir derartigen Protest gut finden, schauen wir ihnen bei ihrem engagierten Tun gerne zu. Wir applaudieren so wie heute. Nur meistens lassen wir es dabei bewenden. Wir lassen uns nicht davon abbringen, uns weiterhin emsig um uns selbst im Kreise zu drehen und uns um unsere so wichtigen Arbeitsschwerpunkte zu kümmern. So betrachtet ist der Courage-Preis auch Ausdruck unseres schlechten Gewissens. Eigentlich sollte man ja so viel für Menschen in Not tun. Aber zum Glück gibt es da ja Persönlichkeiten wie Birgitta Wolf. Die nehmen uns das ab. Hurra! Wir preisen sie.
Ja, ich weiß, jetzt argumentiere ich einseitig und bin ein bißchen ungerecht mit Ihnen, den Grünen. Denn gerade in Ihren Kreisen finden sich viele mutige Querdenker und Unangepasste. Und natürlich verleihen Sie den Preis auch, weil Sie damit an die Bürger appellieren wollen, aktiv zu werden. Damit wären wir dann bei der zentralen Frage angelangt. Wie muß unsere Gesellschaft beschaffen sein, damit es in Zukunft mehr solche Menschen wie Birgitta Wolf gibt? Mir fällt da nur die Antwort ein, die ich am Anfang dieser Rede zu geben versucht habe. Entscheidend ist, wie wir mit unseren Kindern umgehen. Wenn wir ihnen — bayerisch gesagt — die Schneid frühzeitig abkaufen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir unter den Bürgern des Landes zu viele passive Duckmäuser haben. Also Mut zu einem Umgang mit Kindern, der von Freiräumen, von Liebe und viel Auseinandersetzung über das richtige Leben geprägt ist. Und für letzteres brauchen wir freilich auch Vorbilder – die couragierte Birgitta Wolf zum Beispiel.
Damit komme ich zum Schluss meiner Laudatio. Aus Zeitgründen habe ich bisher nur Bilder von der Birgitta Wolf nachgezeichnet, in denen sie mutig und kämpferisch ist. Dabei ist zwangsläufig zu kurz gekommen, daß es da manchmal auch eine ganz andere Birgitta gibt, eine, die verzagt und mutlos ist, der die Kraft zu schwinden droht. Sie hat selber von dieser Birgitta geschrieben – und davon, daß es dann zum Glück für sie in ihrer Nähe immer wieder Menschen gegeben hat und immer wieder gibt, die sie in den Arm nehmen, die ihr Mut zusprechen und sie stützen. Mich hat beides sehr beruhigt – daß sie sich erlaubt, manchmal schwach zu sein und daß sie dann verlässliche Freunde hat.
Und da gibt es noch eine Birgitta, die heute zu kurz gekommen ist – eine, die in ihrer Muttersprache Gedichte schreibt und sie in Schweden veröffentlicht. Gelegentlich schreibt sie freilich auch in deutscher Sprache. Eines will ich Ihnen vorlesen und damit meine Laudatio beschließen. Veröffentlicht hat es Pater Drutmar Cremer, ein Mönch des Klosters Maria-Laach.
Er hatte bei ihr angefragt, ob sie bereit sei, für einen Gebetsband mit dem Titel „Wohin Herr?” einen Text zu verfassen. Hier nun ihre Antwort:

Herr (wenn es Dich gibt) ich kann nicht beten,
denn ich habe zu viele Gebete gehört,
die nur Worte waren,
und sie machten mein Herz krank
vor Traurigkeit.

Herr (wenn es Dich gibt), ich kann nicht danken, denn:
wenn ich Dir danke, weil ich satt bin,
muß ich Dir zum Vorwurf machen,
daß Millionen hungern, wenn ich Dir danke,
daß ich gesund bin,
muß ich Dir zum Vorwurf machen, daß Millionen siechen,
wenn ich Dir danke,
daß ich gücklich bin,
muß ich Dir zum Vorwurf machen, daß Millionen an Dir verzweifeln, denn Du bist allmächtig,
heißt es
in den Büchern.

Herr (wenn es Dich gibt), ich kann nicht beten,
ich kann nicht danken, ich kann nicht glauben.

Ich kann nur versuchen,
jedem menschlichen Geschöpf, das mich braucht,
meine Liebe zu zeigen
und nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu suchen
das ist mein Gebet.

Ich kann nur versuchen,
neben meinem Bruder,
die Menschen verachten,
zu stehen,
um mit ihm verachtet zu werden das ist mein Dank.

Ich kann nur unermüdlich weitersuchen
nach der verschütteten Seele unter den Trümmern dessen,
was Dein Abbild hätte sein sollen das ist mein Glaube

Herr (wenn es Dich gibt),
gib mir Kraft, so zu beten, zu danken, zu glauben!

Der Courage-Preis wurde am 11.10.1996 von der Fraktion der Grünen im Bayerischen Landtag verliehen.

nach oben