Literarischer Maulwurf LXXVII
Verfassung und Recht
Aus: vorgänge Nr. 138 (Heft 2/1997), S. 92-96
„Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie, wenn sie in den Zustand einer Gesellschaft eintreten, durch keine Abmachung ihrer Nachkommen beraubt oder entkleidet werden können, und zwar den Genuß des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen“, dekretierte optimistisch Art. I der Bill of Rights von Virginia vom 12.6.1776. Neben der naturrechtlichen Komponente erscheint im Text durchaus auch der Gedanke des Staatsvertrags, der erstmals bei dem Philosophen Epikur (342-270 v.u.Z.) erwähnt wurde, sich aber erst am Ende der Aufklärung durchsetzte. Doch: „Es gibt keine angeborenen Rechte, sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden.“ befand schon Ernst Bloch (Naturrecht und menschliche Würde). Und weil das so ist; müssen sie auch stets aufs Neue verteidigt werden in einer sich wandelnden Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes (GG) und das Recht, sie notfalls mit Verfassungsbeschwerde geltend zu machen, sind unser wichtigstes Instrumentarium dafür. Neue Technologien und naturwissenschaftliche Erkenntnisse zwingen uns dazu, vermeintlich als gesichert überkommene Erkenntnisse und Befindlichkeiten neu zu überdenken.
Ein glücklicher Zufall erlaubt es, hier einen neuen Kommentar zum GG vorstellen zu können. Auch wenn supranationales Recht, vor allem EG-Recht, aber auch internationale Abkommen immer mehr Bedeutung auch für unser nationales Recht gewinnen, ist das GG immer noch die wichtigste, oberste Rechtsnorm, die die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die Exekutive und Rechtsprechung an Gesetz und Recht bindet (Art. 20 Abs. 3 GG) und die in ihr garantierten Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gewährleistet (Art. 1 Abs. 3 GG). Eine Gruppe von Staatsrechtslehrern (unter den elf Autoren des ersten Bandes findet sich nur eine Frau) hat es unternommen, unsere Verfassung neu zu erläutern:
Horst Dreier (Hrsg.): GG Kommentar, Band 1: Art. 1-19, Mohr Siebeck, Tübingen 1996, XXVII, 1219 S., Leinen, Subskriptionspreis DM 248.; er gilt bis Erscheinen des letzten (3.) Bandes, das Werk wird nur geschlossen abgegeben.
Dem Werk liegt eine neuartige Konzeption zugrunde. Die Kommentierung eines jeden GG-Artikels (oft auch untergliedert in seine Absätze) hat vier Rubriken. Teil A „Herkunft, Entstehung, Entwicklung“ dient der Orientierung über die wesentlichen geistesgeschichtlichen Grundlagen und verfassungsgeschichtlichen Vorläufer der jeweiligen Norm. Dabei werden mitunter philosophische Wurzeln bloßgelegt, die heute nicht mehr allgemein bekannt sind, so etwa, wenn Dreier zu Art. 1 Abs. 1 GG anmerkt, daß die Garantie der Menschenwürde keineswegs – wie oft behauptet wird – im Christentum ihre Grundlage hat, sondern seit der mittleren Stoa (2. Jh. v.u.Z.) entwickelt wurde (der wir im übrigen auch den Begriff des Naturrechts verdanken), eine Idee, die im Humanismus, etwa bei Giovanni Pico della Mirandola (1486), und schließlich in der Neuzeit (seit Kant) wiederbelebt und neu begründet wurde.
In Teil B werden jeweils internationale, supranationale und rechtsvergleichende Bezüge hergestellt. Auch wenn das EG-Recht keinen Grundrechtskatalog enthält, so geht – wie gezeigt wird – der EuGH doch „von der Existenz einer aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gespeisten Grundrechtsordnung in Gestalt allgemeiner Rechtsgrundsätze für das EG-Recht aus“ (Dreier, Vorb. Rdnr. 23). Da unser nationales Recht in zunehmendem Maße durch die Umsetzung von EG-Richtlinien geprägt wird, sind diese Querverweise auch von erheblicher Bedeutung für die Praxis der Rechtsanwender.
In Teil C folgen dann die Erläuterungen des GG-Textes im einzelnen, in Teil D wird das Verhältnis der jeweiligen Norm zu anderen GG-Bestimmungen angesprochen. Jeder Kommentierung sind die zugehörigen „Leitentscheidungen“ des BVerfG vorangestellt, bei denen in Einzelfällen eine sachliche Untergliederung wünschenswert wäre, ferner eine Literaturauswahl, bei der erklärtermaßen im Zweifel neueren Darstellungen der Vorzug gegeben wird, über die auch älteres Schrifttum erschlossen werden kann. Dieses Prinzip ist verständlich, aber gleichwohl kritikwürdig, weil leider nicht stets „wegweisende“ Beiträge, wie versprochen, mitberücksichtigt werden und viele wichtige ältere Beiträge, die nicht überholt sein müssen, aus der Diskussion ausgeblendet werden.
Zu begrüßen ist, daß die Erläuterungen offenbar bewußt zukunftsorientiert sind, so daß zahlreiche hochaktuelle verfassungsrechtliche Fragen angesprochen werden, zu denen ältere Kommentare naturgemäß schweigen. Das macht das Werk für die praktische Arbeit besonders wertvoll. Der unvermeidbare Nachteil hierbei ist, daß im Hinblick auf die notwendige Produktionsdauer des Werks nicht stets der neueste Diskussionsstand wiedergegeben werden kann. Die folgenden, sich auf Stichproben beschränkenden Erörterungen ausgewählter Rechtsprobleme versuchen daher, ergänzende Hinweise auf Literatur zu geben, die fast ausschließlich erst nach Redaktionsschluß veröffentlicht wurde.
Zivil- wie strafrechtlich könnten uns in naher Zukunft Fragen der Gentechnologie, der Reproduktionsmedizin, der Organtransplantation und der Sterbehilfe in zunehmendem Maße beschäftigen. Die beiden erstgenannten Problemfelder erörtert Dreier zu Recht im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenwürde, doch gesteht er diesem Ansatz nur geringe verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Überzeugend fragt er in erster Linie nach dem etwaigen Grundrechtsträger, um festzustellen, daß nach ganz herrschender Auffassung weder der männlichen Samen noch der weiblichen Eizelle Menschenwürde zukommt, so daß auch die heterologe Insemination verfassungsrechtlich unproblematisch sei. Die Problematik der Embryonenforschung verweist er in den Zuständigkeitsbereich des einfachen Gesetzgebers. Es mag daher auch sein, daß die Straftatbestände des Embryonenschutzgesetzes nicht zwingend durch Art. 1 Abs. 1 GG gefordert sind (Rdnr. 62), gleichwohl ist vor Lockerungen zugunsten von Wissenschaft und Forschung zu warnen, auch dann, wenn bei extrakorporaler Existenz des Embryos ein Anspruch auf Unversehrtheit des Lebens nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mangels einer schutzwürdigen körperlichen Gestalt fehlen sollte (Schulze-Fielitz, Rdnr. 24 zu Art. 2 Abs. 2 GG). SchulzeFielitz (Rdnr. 16 aaO) weist zwar darauf hin, in der Diskussion um die Transplantationsmedizin werde überwiegend der Hirntod als Todeskriterium anerkannt; er führt dagegen jedoch (lediglich pauschal) „gewichtige verfassungsrechtliche Gründe“ an, ohne sie zu diskutieren und in der Sache selbst letztlich Stellung zu beziehen.[1] Das ist umso bedauerlicher, als sich derzeit ein Entwurf für ein Transplantationsgesetz im Gesetzgebungsverfahren befindet, das nach letztem Erkenntnisstand das Himtodkriterium als verbindlich vorschreiben soll. Allerdings wird der Gesetzgeber gezwungen sein, einen einheitlichen Todeszeitpunkt und einheitliche Kriterien hierfür zuzulassen, wenn nicht festzuschreiben, um nicht Konkurrenzen zu §§ 168, 216 StGB (Wegnahme von Leichenteilen; Tötung auf Verlangen) entstehen zu lassen.
Unter dem Aspekt des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit werden auch die Fragen der aktiven und passiven Sterbehilfe diskutiert. Schulze-Fielitz (Rdnr. 43 aaO) spricht sich dafür aus, daß bei freier, selbstverantwortlicher Entscheidungsfähigkeit des Menschen dessen Recht auf passive Sterbehilfe durch den Staat nicht beeinträchtigt werden dürfe, ein bemerkenswertes Plädoyer, das gegenteiligen aktuellen Tendenzen in den USA zuwiderläuft. Zu Recht wird auch dem Anspruch auf lebensverkürzenden Abbruch der Behandlung bei irreversiblem Bewußtseinsverlust des Patienten das Wort geredet, sofern eine entsprechende Einwilligung zu Zeiten vollen Bewußtseins erfolgt ist. Das kann durch Errichtung von Patiententestamenten und ähnlichen Verfügungen geschehen.
Schulze-Fielitz kommentiert auch das Recht auf freie Meinungsäußerung, Art. 5 Abs. 1 und 2 GG. In Rdnrn. 76ff. und 206ff. werden zwar ausführlich die Probleme der Rundfunkfreiheit erörtert, die weitgehend durch Rechtsprechung des BVerfG geprägt ist. Man vermißt jedoch eine Stellungnahme zu den seit längerem aktuellen Problemen der Kriterien für die Kabelbelegung in Kabelnetzen, in denen durchweg Frequenzmangel herrscht. Als letztes Beispiel sei die Kommen tierung zu Art. 14 GG (Eigentumsgarantie) durch Wieland erwähnt. Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, die vielschichtige Problematik ausführlich zu diskutieren. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, daß es sich angeboten hätte, bei der Erörterung des Schutzes des geistigen Eigentums (Rdnrn. 51, 52) darauf einzugehen, ob es nicht verfassungsrechtlich geboten ist, die Vergütungsansprüche für Urhebernutzungsrechte, die der einzelne Urheber aus praktischen Gründen nicht durchsetzen kann (Bibliothekstantieme, Reprografieabgabe, Kabelweiterleitungsrechte usw.) generell verwertungsgesellschaftenpflichtig auszugestalten.[2]
Abschließend läßt sich sagen: Der Kommentar verfügt über ein neuartiges überzeugendes Konzept. Die Erläuterungen sind praxisbezogen und zukunftsorientiert. Sie sind überwiegend auch liberal. Der Kommentar wird daher einen gewichtigen Platz neben den etablierten GG-Kommentaren einnehmen, die er sinnvoll ergänzt.
Der Grundrechtsteil des GG ist der für die Bürgerrechte wichtigste. Die Verletzung der Grundrechte und der ihnen in § 90 Abs. 1 BVerfGG gleichgestellten Rechte kann die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG eröffnen. Ein bereits totgeglaubter Kommentar wurde nun wiederbelebt:
Lechner/Zuck: Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), C.H. Beck, 4. Aufl. München 1996, 648 S., geb. DM 128.-
Die 3. Auflage ist 1973 erschienen. Der Fortführung in etwa doppeltem Umfang hat der Bearbeiter Rüdiger Zuck, ein ausgewiesener Kenner der Materie, ein einfühlsames Vorwort vorangestellt, in welchem er die eigenständige Leistung des Erstautors Hans Lechner pietätvoll würdigt. Das Werk ist ein Praktiker-Kommentar geblieben, das ein Arbeitsinstrument zur Verfügung stellen will. Streitfragen wurden daher weitgehend ausgespart. Zuck weist mit Recht darauf hin, daß das BVerfG kein großes Interesse an prozessualen Fragen hat. Das Gesetz gibt ihm weitgehend freie Hand, sein Verfahren selbst zu gestalten und sein hervorragendes Interesse ist auf Entlastung gerichtet.[3] Für jeden, der eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erheben will, ist es daher wichtig, die Rechtsprechung des BVerfG zu Verfahrensfragen zu kennen: zur Rechtswegerschöpfung,[4] zu den Fristen und zum Umfang der Begründungspflicht, zum Annahmeverfahren und den Kammerentscheidungen etwa. Der Schwerpunkt der Kommentierung ist daher praxisorientiert. Zuck gibt einen zuverlässigen Ariadnefaden an die Hand, wie man sich im Labyrinth des Prozeßrechts des BVerfG zurechtfinden und praktische Erfahrung auf diesem Gebiet erwerben kann.
Nach Art. 97 Abs. 1 GG sind die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Art. 102 WRV enthielt eine wortgleiche Bestimmung. In Art. 101 Abs. 1 GG werden Ausnahmegerichte für unzulässig erklärt und ist jedermann der Anspruch auf den gesetzlichen Richter garantiert. Gleiches bestimmte Art. 105 Satz 1 und 2 WRV. Die Weimarer Reichsverfassung wurde im NS-Staat nie formell aufgehoben, gleichwohl gab es Sondergerichte jeglicher Art, war niemandem der gesetzliche Richter gewiß. Unabhängige Richter gab es auch in dieser Zeit, wenn sie den Mut hatten, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren und es ihnen gelang, sich in eine Art innere Emigration zu begeben. Der zweite Präsident des BVerfG, Dr. Josef Wintrich, gehörte dazu. Viele Richter und Staatsanwälte freilich beugten sich willig der NS-Ideologie, stellten sich auch in der Hoffnung auf Karriere oder als überzeugte Anhänger der NS-Ideologie in den Dienst der Willkürjustiz. Einige prominente von ihnen, viele davon inzwischen in der Reichsjustizverwaltung tätig, wurden nach 1945 vor Gericht gestellt. Am 3. und 4.12.1947 verkündete der Militärgerichtshof III der USA das „Nürnberger Juristenurteil“, auf der Rechtsgrundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10.
Nach 50 Jahren ist der Urteilstext nun öffentlich zugänglich:
Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hrsg.): Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947. Historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge, Nomos Verlagsges. Baden-Baden 1996, 299 S., brosch. DM 39.-
Dem Urteilstext vorausgestellt ist eine Einführung von Klaus Bästlein zum Thema „Der Nürnberger Juristenprozeß und seine Rezeption in Deutschland“. Dort werden die Rechtsprobleme kurz angesprochen, die sich dem Gerichtshof stellten, es werden dessen Mitglieder charakterisiert, und es wird der Gang des Verfahrens dargestellt. Insbesondere aber wird auf die ablehnende Aufnahme des Urteils durch die deutsche Justiz und Rechtswissenschaft hingewiesen. Man empfand das Urteil -durchaus zu Unrecht – als Produkt einer Siegerjustiz. Insbesondere wurde der strafrechtliche Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als angeblicher Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot („nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege“) kritisiert, ungeachtet der Tatsache, daß – worauf Bästlein hinweist – Art. 4 WRV die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts als bindende Bestandteile des deutschen Rechts erklärt hatte.
In einem Nachwort, verfaßt von der Herausgeberin zusammen mit Anke Jenckel, werden aktuelle Bezüge des Nürnberger Juristenurteils hergestellt und danach gefragt, auf welchen Grundlagen die deutsche Justiz das Systemunrecht der DDR aufarbeiten könne. In diesem Zusammenhang wird die Rechtsprechung des BGH hierzu einer Kritik unterzogen und darauf hingewiesen, daß in den Mauerschützen-Urteilen, die in der Regel gegen junge Mitglieder der NVA ergangen sind, diesen rechtliche Abwägungen abverlangt wurden, die den Juristen in den Rechtsbeugungsprozessen in der Regel nicht zugemutet wurden, wobei die Autoren fairerweise darauf hinweisen, daß die Rechtsbeugungsproblematik eine wesentlich schwierigere ist und der Aufgabe der Quadratur des Kreises nahekommt. Denn der Straftatbestand der Rechtsbeugung solle einerseits die Rechtspflege schützen und andererseits die Unabhängigkeit der Richter nicht einengen, eine Unabhängigkeit, die DDR-Richter in der Regel nicht genossen.
Die Lektüre des nun vollständig veröffentlichten Urteilstextes wie auch die begleitende Einführung und das Nachwort können jedem an Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Zeitgeschichte Interessierten dringend emp fohlen werden. Es werden Probleme von grundsätzlicher rechtsstaatlicher Bedeutung erörtert, die – wie die Vereinigung Deutschlands zeigt – von fortdauernder Bedeutung sind und im internationalen Strafrecht weiterwirken werden.
1 Hierzu zuletzt Gallwas, JZ 1996, 851.
2 Hierzu zuletzt S. Ott ZRP 1996, 385.
3 Vgl. zuletzt: BVerfG (Kammer), NJW 1997, 46.
4 Zuletzt BVerfG (Kammer) (NJW 1997, 1228)