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Soziales in der Stadt des 21. Jahrhun­derts

Beschaffenheit und Perspektiven, aus vorgänge Nr. 145 (Heft 1/1999), S. 83-92

Elisabeth Wilson (1993) hat in ihrer Veröffentlichung mit dem Titel „Begegnung mit der Sphinx – Stadtleben, Chaos und Frauen” sehr anschaulich dargestellt, wie sich in amerikanischen und europäischen Großstädten des 19. und 20. Jahrhunderts eine produktive Unordnung ‚hinter dem Rücken‘ der mehr oder minder geplanten Ordnung der Moderne eingerichtet hat. Selbst aus unterschiedlichen Gründen und durch verschiedenartigste Mechanismen aus gesellschaftlichen und damit auch urbanen Machtsphären ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen (Frauen, Fremde, Arme, Kranke oder Alte) fanden und finden in unübersichtlichen Stadtstrukturen am ehesten Nischen für eine mehr oder minder selbstbestimmte Lebensgestaltung. Trotz vielfältiger Belastungen durch Lärm, Abgase, Menschenmassen, Fremdheiten oder Verunsicherungen macht Stadtluft immer noch relativ ,frei‘ – etwa von sozialen Kontrollpraktiken oder normativen und ökonomischen Zwängen, die in vormodern geprägten Lebensräumen eine tiefergehende Wirkmächtigkeit besitzen. Stadt ist immer noch ein vielschichtiger Entdeckungs-, Findungs- und Entwicklungsraum für Subjekte und Materialisierung der von ihnen geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen. Stadt bündelt auch am Ende des 20. Jahrhunderts ökonomische, politische und sozio-kulturelle Entwicklungsdynamiken der sie konstituierenden Gesellschaft auf jeweils komplexestem Niveau. Vor diesem Hintergrund bleibt sie auch künftig ein adäquates Feld der wissenschaftlichen wie alltäglichen Erforschung und Gestaltung sozialer Beziehungen, die in ihren Besonderheiten sowie Verknüpfungen und Wechselwirkungen bestimmte Qualitäten des Sozialen in urbanen Lebensräumen hervorbringen.
Erfahrungen mit und das Wissen um die „Ambivalenz der Moderne” (Baumann) haben die Suche nach einer universellen Ordnung für die Stadt des 21. Jahrhunderts nicht obsolet werden lassen; das urbane Chaos fordert den Ordnungswillen der Menschen offenbar stets neu heraus: Mittels sozialen, kulturellen, ökonomischen, politischen und ökologischen Indikatoren ,basteln‘ Fachleute und Laien an Konzepten ,nachhaltiger‘, ,zukunftsfähiger‘ ,überschaubarer‘, ,sicherer‘, ästhetischer Urbanität. Solche virtuellen, gedachten, beschriebenen und inszenierten Stadt-Bilder nehmen mancherorts – wie in der Disney-Stadt „Celebration” im US-amerikanischen Florida — kompakte Gestalt an oder werden — wie die jüngst von den sogenannten developern propagierten Urban Entertainment Center — in bestehende, zentrale oder periphere Stadtkontexte implantiert. Dabei entstehen „Räume, auf die sich nichts mehr reimt, schlecht verklebte Raumteile, und immer der Eindruck, es fehle ein Stück des Puzzles, damit all das — wieder — einen Sinn bekäme. Doch wer verlangt von ihnen (den Raumordnern — AdV) allem einen Sinn zu geben”, wenn zeitgenössische Stadträume immer umfangreicher dem Zweck unterliegen, möglichst schnell durchquert zu werden oder die Produktion und Zirkulation von Waren zu beschleunigen? (Maspero 1993: 35f)
Was geschieht unter diesen Voraussetzungen mit den vorhandenen Sinngehalten des geschichtlich gewachsenen städtischen Chaos? Wo liegen seine Grenzen und Potentiale? An welchen urbanen Orten können sich in Zukunft soziale Beziehungen zwischen Menschen und die sie begründenden Sinngebungen entfalten? Wer sind künftig die aktiven und passiven Gestalter sozialer Systeme und Lebenswelten in der (Sub-)Urbanität? Diese Fragen beschäftigen uns u.a. im Forschungsprojekt „Die soziale Stadt im 21. Jahrhundert”, das am Arbeitsbereich Stadt- und Regionalsoziologie der TU Hamburg-Harburg im Zeitraum 9/1996 bis 8/2000 bearbeitet wird. Erwartungen hinsichtlich einer universellen Definition des Sozialen in der Stadt müssen wir dabei enttäuschen. So wie die Komplexität der Stadt nicht im cartesianischen Sinne durch Definition und Messung adäquat erkennbar erscheint (vgl. Peters 1997), sind u.E. auch soziale Lebensverhältnisse im städtischen Raum nicht allein kategorial bestimm- und definierbar. Die in Zahlen abbildbaren Aspekte des Sozialen in der Stadt — wie z.B. Sozialhilfebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Ausländeranteile, Kriminalitätsziffern oder Krankheitsdaten — bedürfen einer materiellen, qualitativen, prozessualen (biografischen und gesellschaftsgeschichtlichen) sowie strukturellen Kontextualisierung, wenn sie etwas zum Verständnis des Gewordenseins und der Gestaltbarkeit sozialer Lebensverhältnisse in urbanen Räumen beitragen sollen. Erste Befunde aus unserer so konzipierten Forschung aufgreifend, entführt der folgende Text LeserInnen auf eine Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsreise, aus der hoffentlich viel Mut und Phantasie zu einer kollektiven Verwirklichung sozialer Utopien für die Stadt des 21. Jahrhunderts hervorgehen.

Wahrneh­mung: Soziale Bilder westeu­ro­pä­i­scher Großstädte Ende der 90er Jahre

Reisen wir — wie Kevin Lynch (1989) oder Lucius Burckhardt (1995: 150ff.) — mit unseren Sinnen — einschließlich des Verstandes als dem sechsten Sinn — durch großstädtische urbane Landschaften, entdecken wir ein mehr oder minder komplexes Kaleidoskop unterschiedlichster sozialer Phänomene:
Luxusschaufenster mit Bettlern davor — Lebensmittelläden mit bekannten und unbekannten Produkten — Autos, Kleidung, Gaststätten, Fahrräder, Wohnungen oder Büros in allen Preisklassen und ästhetischen Erscheinungsformen — eilige, verweilende, unklare oder unscheinbare menschliche Bewegungen — mehr oder weniger frequentierte öffentliche Orte — Nahkämpfe an Wühltischen in Ramschläden oder bei Sonderverkäufen — alte und neue, besser oder schlechter gestaltete gebaute Räume sowie Freiräume — öffentliche Verkehrsmittel mit je besonderer sozialer Nutzung — sprechende, schweigende oder lärmende Menschen — offene und versteckte, zuversichtliche und skeptische Blicke — verschiedene Sprachen und Gerüche — bestimmte Lichtverhältnisse und Farben — vorhandene und fehlende Begrünung — Menschen mit Tieren: von Ratten im Hemd über Pintscher auf dem Schoß bis zu Vierbeinern unterschiedlicher Größe als Begleiter oder Nutztieren — Sauberkeit und Müll — Aufmerksamkeit, Distanz, Flegma, Provokation — Graffities, Plakate, Werbetafeln, Informationen — Temperaturschwankungen — differenzierte Klangwelten — unterschiedlichste Körperbilder und Körpersprachen-Konformität und Protest gegenüber bürgerlichen Normen und Werten — Zeichen von Veränderung (Baustellen, neue Plakate, Umzugswagen) etc.
Solche Wahrnehmungen in großstädtischen Räumen, deren Spektrum sich unschwer erweitern ließe, beziehen sich auf Spuren sozialer Phänomene oder deren Ausdruck und sind jeweils ,gefärbt‘ durch die besonderen Kontextualisierungen der an ihnen mittelbar oder unmittelbar beteiligten Menschen. Die Deutung solcher Wahrnehmungen erfolgt zunächst subjektiv durch ihre jeweiligen ProduzentInnen und BeobachterInnen. Dabei greifen sie bewußt oder unbewußt auf soziale Erfahrungen und Wissensbestände zurück, ohne deren Verwendung offenzulegen. Nach Bourdieu (1985: 17) „(impliziert) Wahrnehmung von sozialer Welt einen Konstruktionsakt (…)”, der „keineswegs eine intellektualistische Theorie der Erkenntnis unterstellt. Die Erfahrung von sozialer Welt und die darin steckende Konstruktionsarbeit vollziehen sich wesentlich in der Praxis, jenseits expliziter Vorstellung und verbalem Ausdruck. (…) Die Wahrnehmungskategorien resultieren wesentlich aus der Inkorporierung der objektiven Strukturen des sozialen Raums.” Verständigung über die soziale Sinndeutung wahrgenommener sozialer Phänomene im urbanen Raum setzt Kommunikation darüber unter Offenlegung und Begründung der jeweils angewandten Deutungsmuster voraus. Erst wenn Wahrnehmungen des Sozialen im Stadtraum schriftlich, mündlich oder bildlich ,zur Sprache kommen‘ ist ihre intersubjektive Reflexion in einem Prozeß der Überprüfung ihrer Wirklichkeitsgehalte möglich. Dabei stellt sich dann meist sehr schnell heraus, inwieweit und in welcher Weise die Wahrnehmung des Sozialen in der Stadt durch Vorerfahrungen und deren jeweilige Rahmenbedingungen vorstrukturiert bzw. selegiert war und damit nur einen Ausschnitt des Gegenstandes erfassen konnte und auf der Basis unterschiedlicher Erfahrungen und Wissenstypen gedeutet wird.
Gesellschaftspolitisch relevant werden solche Wahrnehmungen des Sozialen in urbanen Räumen erst, wenn darüber öffentlich kommuniziert wird. Entstandene Deutungsmuster des Sozialen in der Stadt lassen sich in einem solchen öffentlichen Diskurs an der Wirklichkeit analytisch hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit, Genese und Relevanz für die aktuelle und zukünftige Gestaltung der Stadt überprüfen. Daraus praktische Konsequenzen zu ziehen bleibt Aufgabe politischen Handelns aller zivilgesellschaftlichen, privatwirtschaftlichen und staatlichen Akteure, die bereit sind als Bürger und Fachleute Verantwortung für Städte im 21. Jahrhundert zu übernehmen.
Wahrnehmungsreisen zu unterschiedlichen Facetten des Sozialen in der Stadt sind wichtig, weil sie uns einen Zugang zu unseren jeweiligen subjektiven Werturteilsmustern und -praktiken eröffnen, die in jede noch so objektiv konzipierte Analyse des Gegenstandes einfließen. Sie machen den normativen Gehalt unserer Beziehungen zum Gegenstand des Sozialen in der Stadt einer Reflexion zugänglich, die im Vorfeld jeder Strukturanalyse im Prozeß deren Konzeption erfolgen sollte. Dies ist umso wichtiger, weil wir es beim Gegenstand des Sozialen mit einem Problemfeld zu tun haben, in dem jeder Mensch (hoffentlich) über Erfahrungen verfügt. Da diese aber unterschiedlich kontextualisiert und im Bewußtsein und Gefühlshaushalt sedimentiert werden, bieten sie umfangreiche Gelegenheiten zur Täuschung aufgrund inadäquater Verallgemeinerung eines möglicherweise zu kleinen Erfahrungsschatzes oder aus Scham vor Veröffentlichung des sozialen Erfahrungshintergrundes. Solche selbstgewissen Selbst- oder Fremdtäuschungen in den Formen des ,sich selbst in die Tasche Lügens‘ oder der ,Vorspiegelung falscher sozialer Tatsachen‘ münden in der Regel in emotionale und moralisch-normativ bewertende Diskurse über soziale Phänomene in der Stadt. Deren Instrumentalisierung erfolgt vorwiegend im Interesse asozialer ökonomischer oder politischer Machthaber in populistischer Politik und skandalisierender, Emotionen schüren der medialer Berichterstattung. Solch unreflektierter Umgang mit sozialen Wahrnehmungen in urbanen Lebensräumen verstellt Spielräume für die unverzichtbare theoriegeleitete Strukturanalyse dessen, wozu uns die Wahrnehmung einen Zugang eröffnet und worauf sie uns neugierig gemacht hat. Denn der erforderliche Denk-Raum bleibt durch Emotionen und normative Konstrukte besetzt und kann seine analytischen Kapazitäten für die Erklärung der wahrgenommenen Gleichzeitigkeit von Ungleichheiten und Widersprüchen sowie der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung ähnlicher sozialer Phänomene in unterschiedlichen städtischen Teilräumen nicht entfalten.

Stadt­-­Ge­dan­ken: Denkfiguren und Erklärungen des Sozialen in der Stadt

Richard Sennett (1996: 127) beendet seine Gedanken über zeitgenössische Veränderungen der Bedeutung städtischer Orte mit einer Rückbesinnung auf Baudelaire’s „Definition der Moderne als Erfahrung des Fließenden und Fragmentierten”. Deshalb stehen Gemeinwesen auch heute noch vor der Aufgabe, „auf einem Fundament breit gestreuter, dichter, unpersönlicher menschlicher Kontakte (…) einen Weg (zu — AdV) finden, um diese Kontakte dauerhaft zu gestalten” (ebd.). Erwachsene sind nach Sennett dazu fähig, „das Leben in seinen unzusammenhängenden Fragmenten zu akzeptieren (…); aber diese Fragmente müssen (…) ineinander passen und sich irgendwo einfügen, an einem Ort, an dem sie überdauern können” (ebd.).
Ulrich Beck eröffnete — angeregt durch Wassily Kandinsky — einen Vortrag über die „offene Stadt” vor ArchitektInnen mit der Gegenüberstellung der „Stadt des Entweder — Oder” im 19. Jahrhundert und der Suche nach einer „Stadt des Und” im 20. Jahrhundert: „Dort Trennung, Ab- und Eingrenzung, das Verlangen nach Eindeutigkeit, Beherrschbarkeit, Sicherheit und Kontrolle; hier Vielfalt, Differenz, unabschließbare Globalität, die Bejahung von Ambivalenz, Ironie. Die Frage nach der Stadt des Und ist die Frage nach der Stadt in der unabschließbar gewordenen Welt“ (Beck 1994).
Theodor W. Adorno (1980: 188) bestimmte soziale Qualität in kapitalistischen Industriegesellschaften in seinen „Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute” im Spannungsfeld sozialer Integration und Desintegration: Letztere beinhaltet als „die Kehrseite sozialer Integration” den „Zerfall in zentrifugale Partikeln”. „Je rücksichtsloser sie (die soziale Integration – AdV) das Verschiedene unter sich begräbt, desto mehr zersetzt unterirdisch sich das soziale Gefüge”. Zur Entdeckung, Erklärung und Bewältigung sozialer Desintegration empfiehlt Adorno (1980: 193f) einen präzisen Blick auf soziale Konflikte: „Der Intention auf eine bessere Gesamtverfassung geben soziale Konflikte mehr noch an ihren Narben, dem Ausdruck der Beschädigten, sich zu erkennen, als an ihren Äußerungen. Verlangt man darum strenge soziologische Definition dessen, was nun sozialer Konflikt sei, so blockiert man den Zugang zu diesem. Soll Erfahrung wieder gewinnen, was sie vielleicht einmal vermochte und wessen die verwaltete Welt sie enteignet: theoretisch ins Unerfaßte zu dringen, so müßte sie Umgangsgespräche, Haltungen, Gesten und Physiognomien bis ins verschwindend Geringfügige hinein entziffern, das Erstarrte und Verstummte zum Sprechen bringen, dessen Nuancen ebenso Spuren von Gewalt sind wie Kassiber möglicher Befreiung”.
Diese Annäherung an Erklärungen sozialer Wahrnehmungen in westeuropäischen Großstädten am Ende des 20. Jahrhunderts führt uns zu Denk-Figuren, deren Genese und Entwicklungsperspektive weiter hinterfragt werden müssen. Es geht offenbar um Ordnungsstrukturen, Trennungen, Fragmentierungen, Polarisierungen sowie Chancen ihrer Verknüpfung, um die Ablösung dichotomischer durch mehrdimensionale, gleich-zeitig wirksame Erklärungen, um Verzicht auf Universalität zugunsten von Vielfalt und um soziale Konflikte als Indikatoren des Scheiterns wie des neu Entdeckens von Freiheitspotentialen in gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Vor diesem Hintergrund bleiben in jeder Strukturanalyse des Sozialen in zeitgenössischen urbanen Lebensräumen folgende weiterführende Fragen zu beantworten.
Welche sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ordnungsmuster behindern in großstädtischen Lebensräumen in wessen Interesse und unter wessen Regie die Entfaltung von sozialen Beziehungen zwischen den sich mehr und mehr differenzierenden Nutzergruppen urbaner Räume?
Welche sozialen Fragmente finden wir in unserer urbanen Gegenwart in welchen Erscheinungsformen und in welchen Vernetzungen vor? Wie genau beobachten wir sie zum Zweck einer theoretisch begründeten Erklärung und welche Gestaltungsalternativen  lassen sich aus verfügbaren bzw. ergänzungsbedürftigen Wissens- und Erfahrungsbeständen    ableiten?
Welche Orte bieten sich in modernen Stadtregionen zur Pflege dauerhafter sozialer Beziehungen und damit wenigstens zur Erhaltung fragmentierter Erfahrungsbestände an?
Welche Filter und Verstärker beinhaltet Stadtentwicklung für je besondere soziale Konflikte?
Wie lernen wir das Fragmentarische und Widersprüchliche als Konstituens der europäischen Stadt ertragen und die Potentiale dieser Unordnung für die Gestaltung einer lebendigen Urbanität im 21. Jahrhundert nutzen?
Welche Gestaltungschancen nehmen unterschiedliche Akteure in Stadtregionen im Interesse des Ganzen dieser Lebensräume wahr – jenseits einer simplen, an egoistischen Einzelninteressen orientierten Verkittung von Einzelteilen an brüchig gewordenen Stellen?

Da unsere Forschung noch nicht abgeschlossen ist, können wir auf diese grundlegenden Fragen noch keine Antworten geben. Die Suche nach manifesten und potentiellen Bestandteilen des Sozialen in zwei von vier untersuchten Hamburger Lebensräumen entlang sie chrakterisierender sozialer Konfliktfelder zeigte uns jedoch, daß unser Gegenstand durch komplexe Wirkgefüge geprägt ist. Er ist mehr als ,Armut` und ,Reichtum`, mehr als ,sozialer Brennpunkt‘ oder ,soziales Problem‘ und auch mehr als ,Segregation‘ oder ,ökonomisches Krisengebiet‘. Die vorliegenden Befunde zu unseren Untersuchungsräumen sperren sich gegenüber einer dichotomischen Kategorisierung: Tiefgreifende soziale Probleme wie z.B. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnöte, Gewalt oder Betriebsschließungen treten an Orten auf, an denen wir auch dynamische Entwicklungspotentiale des Sozialen z.B. in Form von öffentlicher Kommunikation, Solidarität, Wohngemeinschaften oder lebendigen Quartiersnetzwerken entdecken konnten. Sie werden teilweise zur Problemlösung eingesetzt, entfalten sich aber auch abgeschottet davon in Glasglocken bestimmter Quartierstreffpunkte, Subkulturen oder Gründerzentren, deren Existenz ihrerseits die soziale Entwicklungsdynamik konstruktiv befruchtet. Diese ,Glasglocken‘ geben u.a. Anlaß zur Regulierung sozialer Probleme durch staatliche und privatwirtschaftliche Akteure und stellen z.T. sogar Ressourcen bereit. Soziale Beziehungen existieren in problematisch wie in unproblematisch bewerteten Handlungsfeldern. Sie entstehen u.a. auch aus Konflikten und werden gleichermaßen durch sie zerstört. Sie fehlten in unseren Untersuchungsräumen nie gänzlich, sondern allenfalls zeitweise und stellten sich in vielfältigsten Qualitäten dar. Die empirische Forschung bestätigte uns in der Annahme, dass das Soziale auch in der Stadt am Übergang zum 21. Jahrhundert nicht alternativ als existent oder fehlend gefaßt werden kann; es handelt sich vielmehr um etwas stets Vorhandenes, solange Stadträume wenigstens zeitweise von Menschen bevölkert werden. Interessant für die Zukunft des sozialen Lebens in urbanen Räumen ist u.E. die Qualität der sozialen Beziehungen, die Menschen in unterschiedlichsten Begegnungen miteinander aufnehmen und entwickeln. Ob bzw. in welcher Qualität solche sozialen Beziehungen entstehen, ist abhängig von den handelnden Subjekten selbst sowie von der materiell-physischen Beschaffenheit, den institutionellen und normativen Regulationen und ästhetisch-symbolischen Repräsentationen in den Räumen, in denen sie ihren Alltag vollziehen (vgl. Läpple 1993, Sturm 1999). Um das Soziale in der Stadt des 21. Jahrhunderts zu beeinflussen, benötigen wir folglich quantitative und qualitative Kenntnisse über die Auswirkungen räumlicher Rahmenbedingungen und gesellschaftlicher Strukturen auf individuelles und kollektives Handeln in städtischen Lebensräumen sowie über urbane Praktiken unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und deren latente oder manifeste Konfliktpotentiale.
Dort, wo Menschen in unterschiedlichen Funktionen und mit verschiedensten Ressourcen mit ihrem Dasein urbane Teilräume aktiv oder passiv gestalten, erhalten sie Chancen, Verantwortung für diese Lebensräume und deren Kontexte zu übernehmen, weil letztere für ihren Alltag relevant sind. Sie tun dies als Nachbarn, Quartiersbewohner, Unternehmer, Polizeibeamte, Sozialarbeiter, Kneipenbesucher usw. ohne sich dessen zwangsläufig bewußt zu sein. Ihre urbanen Praktiken erfolgen geplant oder ritualisiert nach der „Logik der Praxis” (Bourdieu 1993: 147ff.), die sich der Logik der aufgeklärten Wissenschaft so häufig entzieht. Unsere Neugierde für diesen Teil urbaner Wirklichkeit wird immer wieder belohnt mit der Erkenntnis, daß überall dort, wo sich in städtischen Lebensräumen noch Menschen als Wohnende, Arbeitende oder Reisende aufhalten, wo sie sich wenigstens zeitweise durch Nutzung verorten und sich dabei die genutzten Räume sogar mehr oder weniger aneignen, Soziales in der Stadt lebendig, sichtbar und erforschbar ist. Erklären läßt sich so feststellbare soziale Qualität der Stadt aus den Relevanzstrukturen der Räume im Alltagshandeln der sie nutzenden Subjekte. Erosionen des Sozialen treten vor diesem Hintergrund potentiell in solchen städtischen Räumen auf, deren Benutzbarkeit für unterschiedliche Gruppen von Menschen eingeschränkt ist: Wohnungen mit festgelegten Belegungskriterien, Straßen und Plätze mit zeitlichen, materiellen, normativen oder institutionellen Nutzungsbarrieren, starre Öffnungs- und Betriebszeiten, monofunktionale Grundrisse, Gebäudetypen und Freiflächen, Preisbarrieren beim Zugang zu Wohnungen, Produkten und/oder Freizeitstätten, ökonomische Monostrukturen mit einseitigen Qualifikationserfordernissen und Entwicklungsperspektiven, kurzfristige und unflexible Renditeerwartungen, Mobilitätszwänge oder eindimensionale Bildungs- und Kulturlandschaften reduzieren u.a. die soziale Vielfalt potentieller Nutzung von Stadträumen und verringern somit die Potentialität sozialer Beziehungen in ihnen.
Schwerwiegende und längerfristig kostenträchtige soziale Problemfelder finden wir in Städten immer an Orten, deren Benutzbarkeit durch eine oder mehrere der erwähnten Strukturbedingungen eingeschränkt ist. In Fällen der Persistenz solcher sozialen Problemfelder erfolgt in der Regel eine Stigmatisierung dieser Stadträume als Krisengebiete. Sie heißen dann ,sozialer Brennpunkt‘, ,Armutsbekämpfungs-, Revitalisierungs – oder Sanierungsgebiet‘, ,City in der Krise‘, ,Drogenzentrum`, ,Neubaughetto` oder ,ethnische Enklave‘ und werden durch diverse Strategien zu verändern versucht. Interessant dabei ist, daß die Interventionen ob mittels Geld, ordnungspolitischen Zwängen oder neu-en Nutzungskonzepten oft in ihrer praktischen Umsetzung eindimensional bleiben. Aus Beschränkungen erwachsene soziale Probleme werden dann mit beschränkten Lösungsstrategien bearbeitet. Letztere erweisen sich kaum als strukturell wirksam, oftmals sogar als problemkonservierend oder -verschärfend, weil die sozialen Ursachen unangetastet fortbestehen. Die Erscheinungsformen der sozialen Probleme werden meist nur kurzfristig beseitigt oder aus dem je spezifischen Blickwinkel der Problembearbeitung vor Ort in andere Stadtgebiete verdrängt. Strukturell und prozessual unangemessene Problembearbeitung erzeugt ihrerseits wieder neue soziale Probleme, wenn sie das ,bearbeitete` Quartier einseitig stigmatisiert und kaum Anreize für komplexere Nutzungen zu erzeugen vermag. So werden persistente urbane ,Problemkumulationsgebiete` erkennbar, wie dies in Holland heißt. Und so wird auch verstehbar, warum sich nach langjährigen jeweils einseitigen Interventionen nichts an der Grundstruktur solcher städtischer Gebiete ändert. Denn Verzweiflung allein erzeugt weder Kreativität noch Mut zu angemessenen, wenn auch riskanten Lösungen, sondern — gepaart mit schwindenden finanziellen Interventionsspielräumen — allenfalls Legitimation für gewaltförmige Befreiungsversuche, wie sie in jüngster Vergangenheit in mehreren europäischen Ländern praktiziert wurden. Die „Frankfurter Rundschau” veröffentlichte 1994 ein Bild mit durch die Luft fliegenden Wohnblocks mit folgendem Untertext: „Gesprengte Demokratie — 86.000 Tonnen Schutt blieben von der einstmals für ihre Fortschrittlichkeit gelobten Wohnsiedlung ,La Democratie‘ in Lyon zurück. Mit einer Tonne Dynamit wurden jetzt zehn jeweils 15 Stockwerke hohe Mietshäuser mit rund 650 Wohnungen zerstört. Beim Bau in den 60er Jahren noch als Musterbeispiel für Komfort und Fortschrittlichkeit gefeiert, war ,La Democratie‘ als ein Hort der Kriminalität in Verruf geraten. Außer einem Fußballfeld gab es keinerlei Sport- und Freizeiteinrichtungen in der riesigen Wohnanlage. Mit der Langeweile stieg die Kriminalität vieler jugendlicher Bewohner. In den 80er Jahren kam es, wie in anderen französischen Städten auch, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Sprengung fand aber nicht ungeteilten Beifall. Unbekannte hatten auf eine Mauer in der Nähe der Siedlung gesprüht: ,Wer einen Briefkasten zerstört, gilt als Randalierer. Wenn jemend aber 650 Wohnungen zerstört, wird er zum Bürgermeister und Abgeordneten gemacht.” Im Manchester Stadtteil Hulme wurden schon zweimal, in den 60er und 80er Jahren soziale Probleme zu sprengen versucht — die Zinsen der Kosten sind immer noch nicht bezahlt und ob der etwas komplexere Erneuerungsansatz der 90er Jahre die notwendige strukturelle Breitenwirkung entfaltet, wird abzuwarten sein (vgl. Dettmer/Kreutz 1999). Was lernen wir aus solchen Beispielen für die Hamburger Quartiere Steilshoop, Mümmelmannsberg, Kirchdorf-Süd, Allermöhe, Billwerder-Ost oder für die neuen suburbanen Stadterweiterungen um Berlin?

Handlungsperspektiven

Debatten über die Verarmung von Institutionen und immer breiteren Bevölkerungsgruppen, Kriminalität und Unsicherheit, Verlust von Zukunftsperspektiven und Fremdenfeindlichkeit bündeln Erscheinungsformen sozialer Desintegration, ohne daß detailverliebten Fliegenbeinzählern auffällt, daß entsprechende Phänomene weder isoliert voneinander auftreten noch als soziale Fragmente der Gegenwart erklärbar sind. Es handelt sich um ein komplexes Erscheinungsbündel sozialer Desintegration und Integration in Stadtregionen, das eingebettet ist in einen Wandel von Wertvorstellungen, politischen Institutionen und sozialen Netzwerken, gemeinschaftsorientierter Verantwortlichkeit, Kommunikations- und Kooperationsstrukturen sowie in Unsicherheiten gegenüber individueller und kollektiver Handlungskompetenz. Dieses viel-schichtige soziale Erscheinungsbild in urbanen Räumen erfordert integrierte Strategien der Ursachenanalyse auf strukturellen und prozessualen Ebenen, die den räumlich je besonderen Verflechtungen dieser Phänomene Rechnung tragen.
In der Fachliteratur wird dies übereinstimmend als Ergebnis des zeitgenössischen Wandels kapitalistischer Industriegesellschaften angesehen. Bereits die Frage, ob dieser Wandel als Modernisierung gelten kann, und was gegebenenfalls deren zentraler, Veränderungen bewirkender Gegenstand ist, erzeugt in der Wissenschaft häufig Streit. Während die einen ganz global den neuen Typus einer postmodernen Gesellschaft entstehen sehen, wenden andere ihre Aufmerksamkeit Detailphänomenen wie Wertewandel, Risiko, Erlebnis oder Information zu und sehen darin den jeweils dominanten Entwicklungsimpuls zeitgenössischer Veränderungen (vgl. Honneth 1994: 7f). Ich teile mit Honneth (1994: 10) die Skepsis gegenüber solchen „theoretisch desintegrierten soziologischen Zeitdiagnosen”, die ein Reflex auf die gesellschaftliche Entkopplung ihres Untersuchungsobjekts sind. Honneth selbst löst dieses Problem mit einer „bruchstückhaften kritischen Überprüfung soziologischer Literatur”, die seiner Auffassung zufolge „einen Einblick in zentrale Transformationsprozesse unserer Gesellschaft zu gewähren” vermag (ebd.). Seine wissenschaftliche Analyse von Desintegration konzentriert sich auf die „Diagnose der Postmoderne”, „Aspekte der Individualisierung”, „Ästhetisierung der Lebenswelt”, „Wurzeln des Hedonismus”, „Entbürokratisierung des Systems”, „Disziplinierung des Körpers”, „Formen der Gesellschaftskritik”, „Fragen der Zivilgesellschaft”, „Strukturwandel der Familie” und „Wiederkehr der Armut”. Die Bedeutung solcher Denkansätze für die Erklärung sozialer Strukturen in räumlichen Transformationsprozessen auf quartierlicher, städtischer, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene bleibt bei Honneth weitgehend undiskutiert, obwohl die unübersehbaren räumlichen Auswirkungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels sowohl die ihn gestalten-den als auch die ihn erleidenden Menschen zum Handeln herausfordern. Dabei wird klar, daß es nicht allein um ideelle Aspekte des sozialen Lebens geht, sondern vor allem um soziale urbane Praktiken, in denen sich soziale Gedanken, Normen und Wertvorstellungen materialisieren. Die Stadt insgesamt kann dabei nicht Subjekt und damit auch nicht Adressat wissenschaftlicher Bemühungen sein. Sie ist vielmehr der Gegenstand des an Menschen gebundenen wissenschaftlichen und praktischen Handelns, der durch letzteres geformt wird.
Nach unseren bisherigen Forschungserfahrungen ist ein neuer wissenschaftlicher und alltagspraktischer „Denkstil” des Sozialen in der Stadt in neuen „Denkkollektiven” (Fleck) erforderlich (vgl. Breckner 1999). Es sind nicht mehr allein die sozialwissenschaftliche Armutsforschung, Stadtethnologie, Gesundheits- oder raumbezogene Frauenforschung für die Analyse des Gegenstandes zuständig, die Sozialarbeit, Theologie, Polizei und Justiz für seine praktische Bearbeitung sowie sozio-kulturelle oder statistische Ressorts im politisch-administrativen System und in den Medien für seine mehr oder minder adäquate Inszenierung. Der komplexe Gegenstand des Sozialen im Raum erfordert neue wissenschaftliche Kooperationen und paradigmatische Kurskorrekturen.
Er verlangt ebenso nach einem Abbau der Berührungsängste von WissenschaftlerInnen gegenüber unbequemen urbanen Praktiken wie gleichzeitig einer Aufgeschlossenheit der professionellen und bürgerschaftlichen sozialen Praxis in der Stadt gegenüber
strukturellen Erklärungen ihrer Handlungsfelder und deren Bereitschaft zu konsequenten Handlungsstrategien nach dem jeweiligen Stand des Wissens über das Soziale in der Stadt. In Politik, Verwaltung und Medien wäre ein Verantwortlichkeitsgefühl
gegen über dem Gegenstand zwingend, das nicht an Legislaturperioden, klientelistischen Verpflichtungen und Auflagenstärken oder Zuschauerzahlen seine Grenzen findet. Das
Soziale in Städten ist mehr als Skandal, moralische Klagemauer oder Chance zur politischen Inszenierung. Es ist auch ein Lebenselixier für alle Städter und all jene, die Urbanität nur situativ bei Einkäufen, Kulturveranstaltungen oder ihren Fluchten über Bahnhöfe und Flughäfen in ferne Traumländer goutieren. Allein gesamtgesellschaftliche bürgerschaftliche Verantwortlichkeit für Soziales in urbanen und ländlichen Lebensräumen
(vgl. Schmals/Heinelt 1997) wird uns in die Lage versetzen, einen den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angemessenen demokratischen Konsens über die Gestaltung auch
konfliktträchtiger sozialer Lebensbedingungen zu finden, der uns von den wenig konstruktiven nostalgischen Rückblicken auf die europäische Urbanität des 19. Jahrhunderts befreit.

Literatur

Adorno, Theodor W(1968/1980): Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute …; in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8; Frankfurt/M:      177-195
Baumann, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit; Hamburg Beck, Ulrich (1994): Die offene Stadt.; in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3.7.1994
Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und „Klassen”. Frankfurt/Main
Ders. (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M
Burckhardt, Lucius (1995): Design = unsichtbar. Ostfildern
Breckner, Ingrid (1999): Handlungsforschung für eine soziale Stadt: Animositäten und Verflechtungen zwischen ,Wissenschaft` und ,Praxis` in urbanen Gestaltungskontexten; in: Mirbach, Thomas (Hrsg.): Entwürfe für eine soziale Stadt. Amsterdam: 75-84
Dettmer, Julia/Kreutz, Stefan (1999) ,… making it happen …‘ — Stadterneuerung in Manchester Ende der 90er Jahre. Diplomarbeit an der TU Hamburg-Harburg/Fachbereich Stadtplanung.       Dortmund (im Erscheinen)
Fleck, Ludwik (1935/1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt/M
Honneth, Axel (1994): Desintegration. Frankfurt/M
Läpple, Dieter (1993): Thesen zu einem Konzept gesellschaftlicher Räume; in: Mayer, Jörg (Hrsg.): Die aufgeräumte Welt. Loccumer Protokolle 74/92. Loccum: 29-52
Lynch, Kevin (1965/1989): Das Bild der Stadt, Braunschweig/Wiebaden
Maspero, Francois (1993): Roissy Express. Reise in die Pariser Vorstädte. Freiburg
Peters, Katharina (1997): Die gerech(ne)te Stadt. WZB-paper FSII 97-501. Berlin
Schmals, Klaus/Heinelt, Hubert (Hrsg.) (1997): Zivile Gesellschaft. Opladen
Sennet, Richard (1996): Etwas ist faul in der Stadt; in: Die Alte Stadt, 23.Jg./Heft 2:118-127 Sturm, Gabriele (1999): Wege zum Raum. Opladen (im Erscheinen)
Wilson, Elisabeth (1993): Begegnung mit der Sphinx — Stadtleben, Chaos und Frauen, Basel/Berlin/ Boston

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