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Grund­satz­pro­gramm der HSU

vorgängevorgänge 2/196803/2011Seite 69-70

Vorgänge 2/1968, S. 69-70

(vg) Die 4. ordentliche Delegiertenversammlung der Humanistischen Studentenunion fand am 9. und 10. Dezember 1967 in Marburg statt. Als neuer Bundesvorstand wurde gewählt: Klaus Kreppel, Frankfurt (1. Vorsitzender), Michael Rieth, Frankfurt (stellv. Vors. und Geschäftsführer; Adresse: 6 Frankfurt 1, Bleichstraße 16), Edgar Felix Müller, Marburg (Schatzmeister), Andreas Wiesand, Berlin (stellv. Vors.), Hanns Friedrich v. Bosse, Würzburg (stellv. Vors.).
Außerdem verabschiedete die Versammlung, wie alljährlich, ein neues Gesamtprogramm der HSU. In dem Bestreben, ein neues Selbstverständnis angesichts des Zugs der Studentengruppen nach links zu finden, enthält es eine Reihe neutönerische Formulierungen, nicht allein was den derzeit gängigen studentischen Jargon, sondern auch was inhaltliche Aussagen betrifft. Sie sollten diskutiert werden. Man vergleiche dazu die Resolution, die die Mitgliederversammlung der Humanistischen Union faßte und in der diese sich ausdrücklich erneut „zum pluralistischen und evolutionären Staats- und Gesellschaftsbild des Grundgesetzes“ bekennt (s. Vorgänge 12/67, S. 445). Klaus Kreppel, der neue HSU-Vorsitzende, hat für den Abdruck des „Programms“ in den vg eine Vorbemerkung geschrieben, in der er HU-Mitglieder und vg-Leser ausdrücklich zu Stellungnahmen auffordert:

„Die Humanistische Studenten-Union verabschiedete auf der Marburger DV ein Gesamtprogramm mit gezielten gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die z. T. den liberalen Grundsätzen, die die HSU bisher vertreten hat, scheinbar widersprechen.

Neu ist die Infragestellung eines wertneutralen Pluralismus-Konzeptes, das bestehende Herrschaftsstrukturen und deren Manipulationsmechanismen übersieht. Die Mehrheit der Delegierten war der Meinung, daß Ideologiekritik undenkbar ist ohne Gesellschaftskritik, die die Basis für physische und psychische Unterdrückung bestimmter Bevölkerungsgruppen untersucht.
Das Gesamtprogramm kann keine wissenschaftlichperfekte Gesellschaftsanalyse sein. Es ist als Diskussionsgrundlage für die einzelnen Hochschulgruppen gedacht, um das Selbstverständnis der HSU innerhalb der linken Studentengruppen zu reflektieren. Es ist daher notwendig, daß die Gruppen den Bundesvorstand über den jeweiligen Stand der Diskussion unterrichten. Auch HU-Mitglieder und „Vorgänge““-Leser sollten dem Bundesvorstand der HSU ihre Kommentare zusenden.“

Das neue Gesamt­pro­gramm der Humanis­ti­schen Studen­ten­u­nion

„Humanismus“ kann sich nicht darauf beschränken, begrenzte Freiheitsspielräume für den einzelnen zu schaffen, in die er sich vor dem Druck der Gesellschaft zurückziehen kann. Freiheit bedeutet gesellschaftliche Freiheit. Die Ermittlung der dazu erforderlichen Bedingungen ist weniger durch Kundgabe individueller Meinungen zu leisten als vielmehr durch rationale gesellschaftliche Analyse. Pluralistische Konzeptionen stehen dem entgegen. Sie räumen allen Meinungen und Entscheidungen einzelner Individuen oder Gruppen gleiches Gewicht ein, ohne deren gesellschaftliche Bedingtheit zu reflektieren. Wird an. pluralistischen Konzeptionen festgehalten, verstärken sie das bestehende Herrschaftsgefälle, anstatt der Repression dienende Mechanismen abzubauen. Begreift man Humanisinus als Durchsetzung gesellschaftlicher Freiheit, dann ist damit „Pluralismus“ unvereinbar.

1. Die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft verhindert die Entwicklung der Demokratie. Der Integration immer größerer Bevölkerungsteile in den entfremdenden Produktionsprozeß entspricht eine gleichläufige Ausweitung der Konsumtions-
sphäre, welche das Begreifen der Abhängigkeit im Produktionsprozess durch den Schein der Konsumfreiheit verhindert. Unter diesen Umständen ist der Parlamentarismus ein liberalistisch kaschiertes Ritual zur Verschleierung der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse. – Wir treten ein für die Enteignung der gesellschaftlich determinierenden Produktionsmittel gemäß Art. 14 GG, weil der Widerspruch zwischen gesellschaftlich notwendiger Produktion und privater Aneignung sich für das Wohl der Allgemeinheit als schädlich erwiesen hat. Nur auf diesem Wege kann Demokratie entstehen.

2. Die innere Gesetzlichkeit unserer hochindustrialisierten Gesellschaft führt zwangsläufig zur Expansion und dadurch zur Unterdrückung der unterentwickelten Länder. Damit hat sich der innergesellschaftliche Konflikt auf das Verhältnis zwischen den Völkern übertragen. Befreiungsbewegungen, die aus dieser Konfrontation entstehen, werden mit wirtschaftlicher, politischer und militärischer Macht niedergeschlagen. – Wir wenden uns gegen die rücksichtslose Durchsetzung der Interessen internationaler Wirtschaftskonzerne und die Außenwirtschafts- und Militärpolitik industrieller Großmächte, soweit sie dazu dienen, Klassenstrukturen zu stützen, die eine wirtschaftliche Entwicklung und politische Selbstständigkeit der Länder der dritten Welt verhindern.

3. Der Absicherung der bestehenden Machtverhältnisse dient die Manipulation des Bewußtseins. Kritische Öffentlichkeit kann nicht entstehen, wo die Voraussetzungen für eine objektive Information fehlen. Vermittlung findet nicht statt. Meinungen entwickeln sich nicht in rationaler Diskussion, sondern werden vorgeprägt und über einseitig durchlässige „Kommunikationswege“ auf den einzelnen übertragen. – Wir verurteilen jede Art der Konzentration von Kommunikationsmitteln und fordern die Entflechtung und öffentliche Kontrolle der Pressekonzerne.

4. In der BRD haben sich die Tendenzen zur Absicherung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in der Notstandsgesetzgebung verdichtet. Die Formierung der Gesellschaft soll mit allen repressiven Maßnahmen vorangetrieben werden. Unter dem tarnenden Vokabular von Schutz und Vorsorge verbirgt sich das Arsenal für die Zerstörung demokratischer Ansätze. – Wir wenden uns entschieden gegen jede Einschränkung der Grundrechte. Vielmehr setzen wir uns ein für die Verwirklichung der im Grundgesetz von 1949 formal garantierten Rechte in einer nicht repressiven Gesellschaft.

5. Das Recht erweist sich als willfähriges Instrument der allgemeinen Durchsetzung privatwirtschaftlich orientierter und insofern öffentlicher Kontrolle entzogener Verfügungsgewalt. Ideologisch bleibt es liberalistischen Konzepten von Staat und Gesellschaft verhaftet, praktisch hat es sich der Tendenz profitorientierter Produktion gefügt und beseitigt, was dem Akkumulationsprozeß des Kapitals abträglich erscheint. Deutlicher Ausdruck dieser Tendenz ist die Entwicklung der Strafjustiz.
– Wir setzen uns dafür ein, das gesamte Strafrecht abzuschaffen und ein Maßnahmerecht zu entwickeln. Orientiert am objektiven Schaden für die Gesellschaft, soll es nur dem Schutz der Gesellschaft und der Resozialisierung dienen. Tatbestände — insbesondere des heutigen eigentumspolitischen und Sexualstrafrechts — sind neu zu definieren. Eine intensive Erforschung der gesellschaftlichen Bedingungen individuellen und kollektiven Fehlverhaltens ist erforderlich, um wirksamer Prophylaxe den Vorrang vor der Anwendung von Maßnahmen geben zu können.

6. In der bestehenden Gesellschaft dient die Unterdrückung der
Sexualität als Herrschaftsmittel. Auf Partialtriebe zurückgeworfene Individuen sind leichter manipulierbar als jene, die sich zum Primat der Genitalität über die Partialtriebe haben entwickeln können. Gerade dies versuchen direkter Zwang und Indoktrination repressiver Normen zu verhindern. – Wir fordern, nur solchen sexuellen Handlungen mit staatlichen Maßnahmen zu begegnen, die durch Gewalt, Drohung oder Täuschung, durch Ausnutzung Minderjähriger, Abhängiger oder Geistesschwacher zustandegekommen sind, und zwar nur insoweit sie dadurch zustande gekommen sind. Wir setzen uns dafür ein, durch Aufklärung jeder Diskriminierung der Sexualität entgegenzuwirken.

7. Die offiziell angestrebte Reform des Bildungswesens in der BRD ist daran ausgerichtet, wirtschaftlich verwertbares Verfügungswissen bereitzustellen, nicht aber, kritische Reflexion der bestehenden Verhältnisse zu verstärken. Dem kommen die tradierten Bildungsmethoden entgegen, die Disziplin und Anpassung fordern und passiv-rezeptives Lernen voraussetzen. Der Grad der Bewährung an diesem Prinzip ist das Kriterium für Auslese und weitergehende Förderung. Autoritäre Erziehungsmethoden schaffen so erneut autoritäres Potential, das innerhalb des Bildungssystems überfällige Traditionsbestände in einer die herrschende repressive Ideologie stützenden Weise weitergibt. An den Hochschulen wird der anonym ausgeübte Anpassungszwang augenfällig: das Recht auf Bildung wird umgeformt zur gestrafften Ausbildung von Fachkräften für spezialisierte Berufe durch isolierte Einzelwissenschaften, die den gesellschaftlichen Konnex nicht suchen und nach ihren Methoden auch nicht finden können. So erfolgt die Integration. der Hochschulen in eine autoritäre Leistungsgesellschaft einerseits durch Festhalten an einem erstarrten partikularen Wissenschaftsbegriff, andererseits durch die Annäherung der Universitätsorganisation an die der industriellen Produktion. So wird der Anpassungsdruck der Arbeitswelt vorweggenommen, was eine rasche Überleitung der Studenten ins Berufsleben bewirkt. – Wir setzen uns deswegen für alle Reformen des Bildungswesens ein, welche daran ausgerichtet sind, mit technischem Verfügungswissen kritische Einsicht zu vermitteln, die humanistische, d. h. an Durchsetzung gesellschaftlicher Freiheit orientierte, Anwendung dieses Verfügungswissens gestattet.

Gegen polizei­liche Bespit­ze­lung von Studenten und Schülern

(vg) Der HSU-Vorstand gab eine Erklärung zu dem Vorgehen der Polizei gegen Schülerorganisationen und Studentengruppen ab:
„Die HSU verurteilt schärfstens die bundesweite Jagd auf Mitglieder der progressiven Schülervereinigungen USSG und AUSS.
Unter dem Vorwand, kommunistisch unterwandert zu sein, soll nun nach den Studenten eine weitere unbequeme Minderheit ausgeschaltet werden. Es entsteht der begründete Verdacht, daß diese Disziplinierungsversuche in einem kausalen Zusammenhang mit den Formierungsplänen der CDU stehen, die jede oppositionelle Regung in unserer Bevölkerung mundtot machen will. Die Vorfälle der letzten Zeit, besonders die Versuche, Studenten bespitzeln zu lassen, geben einen Vorgeschmack davon, wie Exekutivorgane nach Verabschiedung der Notstandsgesetze vorgehen können.“

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