Publikationen / vorgänge / vorgänge 2/2002

Die Legiti­mie­rung der NS-Justiz in der Nachkriegs­zeit

Ein Aufsatz von Joachim Perels

Als die US-Regierung gegen Kriegsende Pläne schmiedete, wie die Funktionseliten des NS-Regimes nach dem Krieg entmachtet und an weiterer Einflussnahme im Nachkriegsdeutschland gehindert werden könnten, vertraute sie zum Teil auf den Rat exilierter deutscher Juristen wie Franz Neumann und Otto Kirchheimer. Deren Ziel war es, dem NS-Unrechtssystem den Schein der Legitimität zu nehmen und die Funktionsträger dieses Apparates in Staat und Wirtschaft zur Verantwortung zu ziehen. Was mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher seinen hoffnungsvollen Auftakt nahm, versickerte jedoch alsbald im Sande, begünstigt durch das Aufkommen des Kalten Krieges, der einen funktionsfähigen westdeutschen Staat erforderte, der sich wiederum auf den Großteil der alten NS-Eliten angewiesen wähnte. Ein besonders trauriges Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte ist dabei, wie es die aus dem NS-Regime übernommene Justizelite schaffte, nicht nur sich selbst zu Re etablieren und sich der strafrechtlichen Verantwortung für die Mitwirkung an den nationalsozialistischen Unrechtsakten zu entziehen, sondern es gewissermaßen im Windschatten auch noch bewerkstelligte, dem NS-Staat juristisch Legitimität zu bescheinigen. Joachim Perels, Jurist und Politikprofessor, gehört zu denjenigen, die sich seit langem intensiv mit diesem Phänomen wissenschaftlich befasst haben. Eine Reihe seiner jüngeren Beiträge zum Thema, vorwiegend aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre, hat er in einem leicht lesbaren und daher weiten Leserkreisen zugänglichen Sammelband veröffentlicht:

Joachim Perels: Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“. Beschädigungen der demokratischen Rechtsordnung

(Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 7, Frankfurt/Main;

New York: Campus Verlag) 1999, 228 S., 39 Mark

Die Hauptthese dieses Buches ist, dass die Fortexistenz von NS-Prinzipien in der Strukturbildung der Bundesrepublik nicht ausreichend erkannt und allenfalls moralisch, nicht aber rechtsstaatlich analysiert worden ist. Perels widerspricht dabei auch der – nicht nur von konservativen Wissenschaftlern vorgebrachten – Behauptung, dass es für die Stabilität der frühen Bundesrepublik und für die relativ reibungslose Integration nationalsozialistisch belasteter Funktionsträger von Nutzen war, deren Verstrickung in das NS-System nicht zu thematisieren. Für den Autor ist es vor allem deshalb verfehlt, von einer reibungslosen und willigen (Sontheimer) Integration ehemaliger NS-Eliten zu sprechen, weil diese Sichtweise ignoriert, dass bei dieser angeblichen Integration entscheidende Teile des nationalsozialistischen Unrechtssystems in die Rechtsordnung der Bundesrepublik hinübergerettet wurden. In der Tat ist es etwas problematisch, von Integration in einen demokratischen Rechtsstaat zu sprechen, wenn die so Integrierten wesentliche rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien, auf denen das neue Staatswesen basieren sollte, beiseite schoben. Perels Hauptvorwurf richtet sich dabei auf den Umstand, dass es die alten Eliten in der Justiz verstanden, sich selbst, gewissermaßen als Richter in eigener Sache, zu exkulpieren, indem sie dem NS-„Rechtssystem“ Legitimität bescheinigten.

Die Amerikaner beabsichtigten zunächst einen vollständigen Bruch der Bundesrepublik mit Nazi-Deutschland und postulierten den vollständigen Untergang des deutschen Reichs. Dies stieß jedoch auf heftige und letztlich erfolgreiche Gegenwehr derjenigen, die um ihre Ämter fürchteten. Nach und nach wurden fast sämtliche Juristen, die dem NS-Regime gedient hatten und zum großen Teil in die Aufrechterhaltung des Terrorregimes verstrickt waren, in die Justiz der Bundesrepublik übernommen. Ob dies zur Stützung der Funktionsfähigkeit der Nachkriegsjustiz notwendig war oder ob es nicht auch möglich gewesen wäre, mit einem gewissen Engpass einige Jahre vorlieb zu nehmen, bis eine neue, weniger belastete Juristengeneration nachgewachsen war, ist eine auch heute noch kaum gestellte Frage. Für Perels wäre jedenfalls zumindest eine bessere Differenzierung zwischen nationalsozialistischen Eliten (etwa 220.000) und bloßen Mitläufern angebracht gewesen. Das Nachkriegsbild war ein anderes; die Eliten schafften es, allen die gleiche Schuld (oder Unschuld) einzureden und so sich selbst im Sattel zu halten.

Ein juristisches Hilfsmittel, mit dem die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Juristen immer wieder aus den Angeln gehoben wurde, war das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Absatz 2 des Grundgesetzes. Danach kann eine Tat nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Immer wieder wurde nun von Juristen darauf Bezug genommen, dass das „NS-Recht“ bestimmte Handlungen als nicht strafbar ansah oder sie gar anordnete. Folglich, so die Argumentation, konnten solche Taten nicht bestraft werden, weil dies eine retroaktive Strafbarkeit bedeuten würde. Was bei dieser Argumentation aber immer implizit behauptet wurde, war, dass die „NS-Ordnung“ eine Rechtsordnung war. Hätte man ihr oder zumindest einer Reihe von Unrechtsnormen dieses Attribut von vornherein verwehrt (Radbruch), wie dies die ursprünglichen alliierten Pläne vorsahen, hätte man nicht durch das Argumentieren mit den Vorschriften des Systems deren Unrechtsordnung konstant legitimiert. Dass dem nationalsozialistischen Regime die Eigenschaft einer Rechtsordnung zuerkannt wurde, – so mag man Perels Auswirkungen ergänzen – hatte auch damit zu tun, dass eine Meinungselite es schaffte, die auf Terror gegründete Machtergreifung nach dem Krieg als legale Machterlangung hinzustellen, obwohl sie in ihrer Substanz ein Coup war, der sein Gesicht unter einem gewissen Maß an juristischer Förmlichkeit verbarg. Das Heranziehen des Rückwirkungsverbotes führte jedenfalls zu dem grotesken Ergebnis, dass etwa die Polenstrafrechtsverordnung, die selbst mit retroaktiver Wirkung erlassen worden war und somit gegen das Prinzip des Rückwirkungsverbots verstieß, als gültiger Rechtsmaßstab dienen durfte. Auf diese Weise wurde das Rückwirkungsverbot, dessen Aufgabe es vornehmlich ist, den einzelnen vor einem unkontrollierbaren Staat zu schützen, in eine Vorschrift umfunktioniert, die die willigen Werkzeuge eines Unrechtsstaats davor schützte, wegen ihrer Mitwirkung an staatlichem Unrecht gegenüber Individuen zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Adenauer-Regierung verfestigte diese Pervertierung des individual-schützenden Rückwirkungsgedankens noch dadurch, dass sie einen deutschen Vorbehalt gegen eine Bestimmung der Europäischen Menschenrechtskonvention anbrachte, nach der Verbrechen gegen die Menschlichkeit unabhängig von der Existenz einer entsprechenden staatlichen Strafrechtsvorschrift bestraft werden können. Neben dem Rückwirkungsverbot war es die Charakterisierung von Tätern als bloße Gehilfen (eines anonym bleibenden Systems), die eine Bestrafung selbst von Mördern verhinderte und die dazu führte, dass mit dem Auslaufen der Verjährung für Beihilfehandlungen kein einziger Richter für die etwa 40.000 Todesurteile der NS-Justiz zur Verantwortung gezogen wurde. Selbst dort, wo der Charakter des Prozesses offensichtlich einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren Hohn sprach, wie bei den Verfahren vor dem Volksgerichtshof oder im Falle des Standgerichtsverfahrens gegen Dietrich Bonhoeffer, Admiral Canaris und Hans von Dohnanyi, fand die deutsche Nachkriegsjustiz Wege, die mitwirkenden „Richter“ straffrei ausgehen zu lassen und die angewendeten NS-Vorschriften als gültige Rechtsnormen zu werten.

Mittlerweile hat der Bundesgerichtshof (in einem Urteil von 1985) seine eigenen Fehler beim fehlenden Zur-Verantwortung-Ziehen der NS-Juristen eingestanden. Es bleibt aber die Frage zu stellen, ob die Behandlung der NS-Justizvergangenheit in der Nachkriegszeit (bis mindestens 1968) irgendwelche Fortwirkungen für die heutige Rechts- und Staatsordnung hat. Perels würde dies bejahen, denn über deren eigene Exkulpierung hinaus macht er die an der Macht verbliebenen NS-Eliten auch dafür verantwortlich, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung, auf der das NS-Regime seiner Meinung nach basierte, nach dem Krieg unangetastet blieb. Dies ist sicherlich insoweit richtig, als die demokratisch-sozialistische Gegenelite, die von den Nazis eliminiert wurde, nach dem Krieg von der sich an den Schalthebeln der Macht haltenden NS-Elite nicht in entscheidende Positionen hineingelassen wurde. Allerdings wird die Frage, ob sich eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung durch die (teilweise) Unterstützung des Nazi-Staates für die Zukunft delegitimiert hat, vom Autor etwas zu unterschwellig und zu vorschnell bejaht. Es scheint mir in Perels Bewertung auch eine Faschismustheorie mitzuschwingen, die nicht jedermann zu unterstützen braucht, der es wie der Autor bedauert, dass ein offener Systemwettbewerb zwischen bürgerlich-liberalen und demokratisch-sozialistischen Vorstellungen nach dem Krieg aufgrund der Intervention der moralisch delegitimierten NS-Herrschaftselite und aufgrund des Kalten Krieges unterblieb. Wenngleich der Autor hier eher moralische Kategorien heranzuziehen scheint, um über die Richtigkeit gesellschaftspolitischer Modelle zu befinden, ist sein Buch insgesamt eine ausgesprochen plausible und entlarvende Strukturanalyse der Nachkriegsjustiz und -politik. Inwieweit die demokratische Rechtsordnung über die Nachkriegszeit hinaus, also bis zur Gegenwart, durch die Erblast des Dritten Reiches beschädigt sein könnte, scheint dagegen eine Frage zu sein, die noch weitergehender Untersuchung bedarf.

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