1984 schon 1975?
oder: Die Praktiken des Verfassungsschutzes, 2. Teil: Verhöre
aus vorgänge Nr. 20 (Heft 2/1976), S. 23-29
Berufsverbote fallen nicht vom Himmel, sie werden vorbereitet und zwar von langer Hand. Dies besorgen die Ämter für Verfassungsschutz (ÄfV). Was diese in Millionen von Dossiers auf elektronischen Datenbanken über Jahrzehnte hinweg speichern, bekommen die Bespitzelten normalerweise nie zu Gesicht. Eine Ausnahme stellen die seit Jahren durchgeführten Verhöre dar – vornehm Anhörungen genannt -, in denen Bewerber für den öffentlichen Dienst einer politischen Gesinnungsüberprüfung unterzogen werden. Die dort gestellten Fragen stammen aus der Feder des Verfassungsschutzes (VS). Sie enthüllen das Ausmaß der Bespitzelung. Sie zeigen zugleich, was alles dem VS als Indiz der Verfassungsfeindlichkeit gilt. Denn wenn die jeweilige Einzelheit nicht zur Beurteilung der Frage, ob jemand ein Verfassungsfeind ist oder nicht, beitrüge, brauchte sie nicht in Dossiers gesammelt und in Verhören abgefragt zu werden.
Untersucht man die bei den Verhören gestellten Fragen, erkennt man folgende Struktur:
Die Praxis der Anhörungen, sprich: Verhöre
1.
Nach der Ideologie der Verfassungsschützer ist ein potentieller Verfassungsfeind, wer progressiven Organisationen angehört oder angehört hat.
Verhörfragen: „Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zur DKP erläutern? Sie haben einmal bei Konventswahlen auf einer Liste Spartakus/SFG kandidiert“(1)(Hessen).
„Sind Sie Mitglied der GEW?“(2)
„Waren Sie Mitglied der Falken?“(3)
„Sind Sie Mitglied der DKP?“(4)
„Professor Narr wurde mitgeteilt, daß eine anläßlich seiner geplanten Beschäftigung innerhalb einer Studiengruppe für den Planungsstab des Bundeskanzleramtes durchgeführte Überprüfung folgende Tatsachenfeststellungen ergaben: Daß er Mitglied und Funktionär des Landeskuratoriums „Notstand der Demokratie“ in Baden-Württemberg war, ferner Verbindung zur DFU und zur Ostermarschbewegung unterhielt, die SDS-Studentenzeitung Marginalien-Neu und die ab Mai 1969 erscheinende Zeitung links mit herausgab.“(5)
Das FDP-Mitglied Renner wurde in Rheinland-Pfalz zu einer Anhörung zitiert, weil er als Mitglied des Liberalen Hochschulverbandes für die Basisgruppe Jura kandidiert hatte(6), ein Lehramtskandidat in Bayern, weil er unter anderem Mitglied im Verband der Kriegsdienstverweigerer war(7).
In Hessen wurde sogar der Einstellung der Rechtskandidatin Sabine Wendt in den juristischen Vorbereitungsdienst widersprochen, weil sie Mitglied im MSB Spartakus und in der international renommierten Vereinigung demokratischer Juristen gewesen sei(8). In Hamburg wurde der Vizepräsident der Hochschule für bildende Künste, Professor J. Hiltmann entlassen, da er in dem angeblich KPD-nahen „Initiativkomitee für die Stärkung des Filmwesens in der demokratischen Republik Vietnam“ und in einer „Initiative zum Aufbau einer Vereinigung sozialistischer Kulturschaffender“ tätig war(9).
„Dem SPD-Mitglied Theo Schlautmann wird beim ,Verhör‘ als Grund für die Verzögerung seiner Einstellung die Mitarbeit im ,Initiativkreis gegen Berufsverbote‘ in Münster sowie Zusammenarbeit mit Kommunisten an der Hochschule zur Last gelegt“(10).
Demgegenüber steht im Grundgesetz, Artikel 33, Absatz 2: „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt.“ Und in Absatz 3: „Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemand darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“ GG, Artikel 21, Absatz 2: „Über die Frage der Verfassungswidrigkeit (von Parteien) entscheidet das Bundesverfassungsgericht“, also nicht die Bundesregierung oder gar der jeweilige Sachbearbeiter des Verfassungsschutzes.
2.
Dem Verdacht, ein Verfassungsfeind zu sein, setzt sich aus, wer in bestimmten Punkten die gleiche Meinung vertritt wie vom Verfassungsschutz verdächtigte progressive Organisationen.
Verhörfragen: „Halten Sie die Ziele des MSB Spartakus für unterstützenswert?“(11)
„Bejahen Sie den Marxismus-Leninismus? Wären Sie für ein Verbot der NPD? Erkennen Sie den DDR-Sozialismus an?“(12)
In Stade wurde „eine Lehramtsbewerberin, Mitglied der GEW, ausdrücklich im Zusammenhang mit der Frage nach ihrer Verfassungstreue aufgefordert…, sich zu einem kürzlich im niedersächsischen GEW-Organ veröffentlichten bildungspolitischen Beschluß zu äußern.“(13)
R. Offergeld erhielt in Bayern Berufsverbot als Lehrer offensichtlich aufgrund seines gewerkschaftlichen Engagements(14).
Demgegenüber steht im Grundgesetz, Artikel 5, Absatz 1: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten . . .“
3.
Als potentiell verfassungsfeindlich gilt bereits jeder Kontakt zu Mitgliedern einer progressiven Organisation.
Verhörfragen: „Haben Sie 1969 an einer DKP-Weihnachtsfeier teilgenommen? … Wie erklären Sie sich, daß Ihre Adresse im Verteiler des Verlags ,Roter Stern‘ vorhanden ist?“(15) (Frankfurt).
„Wissen Sie, ob die Leute, die in Ihrer Wohnung wohnen, in einer politischen Gruppe arbeiten? Führen Sie politische Gespräche mit diesen Leuten?“(16) (Berlin).
„Haben Sie am … Ihr Auto vor dem Haus … geparkt, in dem sich eine Wohngemeinschaft befindet, in der ein DKP-Sympathisant wohnt?“ (sinngemäß, Hessen).
In Gießen wurde eine Religionsstudentin vor Antritt ihres Referendariats überprüft, weil aktenkundig geworden war, daß sie acht Tage (zur Zimmersuche) bei einer Bekannten gewohnt hatte, die im Verdacht stand, DKP-Mitglied zu sein. Eine andere wurde verhört, weil sie einen kirchlichen Mädchenkreis geleitet hatte, den auch SDAJ-Mitglieder besuchten (Hessen)(17).
„Einer Lehrerin, SPD-Mitglied, wurde vorgeworfen, ihr Vater sei Mitglied mehrerer kommunistischen Vereinigungen gewesen… Ein Hochschullehrer wurde nicht berufen, weil er in der Schweiz in einer kommunistischen Stammkneipe ver-
kehre.. .“(18)
Eine wissenschaftliche Hilfskraft in Frankfurt mußte sich verhören lassen, weil sie „im Zuge ihrer Vorbereitungen auf die erste juristische Staatsprüfung mit einem Kommilitonen häufig zusammengearbeitet (hatte), der in Verdacht steht“, Mitglied der KPD zu sein(19).
In Nordrhein-Westfalen wurde das SPD-Mitglied Wolf überprüft, weil er im Frühjahr 1974 in Essen zweimal an Veranstaltungen der Marxistischen Arbeiterbildung über polytechnische Erziehung teilgenommen habe(20).
Von einem Kontaktverbot gegenüber progressiven Individuen oder Gruppen oder der Notwendigkeit eines politischen „Ariernachweises“ steht nichts im Grundgesetz.
4.
Schließlich kann jede politisch oppositionelle Aktivität oder Gesinnung als verfassungsfeindlich bewertet werden, wobei die Bestimmung dessen, was oppositionell ist, je nach Standpunkt der jeweiligen Bundes- oder Landesregierung oder auch des jeweiligen Geheimdienst-Sachbearbeiters schwankt.
Verhörfragen: „Haben Sie während des Studiums an politischen Veranstaltungen teilgenommen?“(21)
„Haben Sie ein Flugblatt unterschrieben, in dem die Ratifizierung des Vertrages zwischen der BRD und der Sowjetunion gefordert wird? Haben Sie ein Flugblatt unterzeichnet, in dem zur Solidarität mit den Völkern Indochinas aufgefordert wird? Haben Sie an einer Veranstaltung teilgenommen, die anläßlich des 22. Juni (Überfall auf die Sowjetunion) durchgeführt wurde?“(22)
„Wie stehen Sie zur Notstandsverfassung?“(23) (Hessen).
Ein hessischer Lehrer wurde zum Anhörungsverfahren geladen, weil seine Autonummer als Bildbeweis vorliege – vom Verfassungsschutz fotografiert in der Umgegend einer „kommunistisch gesteuerten“ Vietnam-Demonstration, die 1971 in Dortmund stattfand(24).
Ein Bewerber mußte sich wegen der Teilnahme an einer von der GEW unterstützten Demonstration am 20.12.1973 gegen die neue Schulordnung in Bayern rechtfertigen25. K. Schaper wurde nach eigenen Aussagen in Hessen vorgeworfen, er sei im Jahre 1971 an der Vorbereitung und Durchführung einer Anti-NPD-Demonstration anläßlich des NPD-Parteitages in Holzminden maßgeblich beteiligt gewesen(25). In Bayern wurde der Universitätsassistent Karl nicht eingestellt, da er 1968 an der „antiautoritären Studentenbewegung“ beteiligt, seit eineinhalb Jahren MSB-Mitglied und verantwortlich für verschiedene Publikationen des MSB und der Fachschaft gewesen sei(26). R. Huhle wurde aus dem bayerischen Staatsdienst entlassen. Gründe: Teilnahme an einer APO-Demonstration gegen eine Wahlkundgebung der Jungen Union 1969, Teilnahme am teach-in über das SDS-Verbot in Heidelberg 1970, Teilnahme an einer Vietnam-Demonstration 1972…(27). Dem Lehrer V. Veeser wurde zum Vorwurf gemacht, daß er an einer Gerichtsverhandlung gegen einen linken Angeklagten habe teilnehmen wollen(27). Der Oberlokführer R. Röder wurde in sechs Verhören außer nach seiner DKP-Zugehörigkeit auch nach Verwandtenbesuchen in der DDR gefragt(27) .
„In Ablehnungsbescheiden wurde Bewerbern entgegengehalten, sie hätten die DKP-Tageszeitung UZ bezogen oder dafür gespendet, sie hätten sich mit von dem Berufsverbot Betroffenen solidarisch erklärt (der Verfassungsschutz registriert jeden Unterzeichner einer derartigen Solidaritätserklärung, wie die Verfasser wissen), sie hätten die Öffentlichkeit über die Bespitzelung durch
den Verfassungsschutz aufgeklärt, sie hätten in Berufsverbotsfällen die Öffentlichkeit mobilisiert usw“(28).
Sogar die SPD als Gesamtpartei ist bereits manchen Geheimdienstlern verdächtig. Erst im März 1971, zwei Jahre nach Bildung der SPD/FDP-Koalition wurde eine BND-Außenstelle aufgelöst, die noch Material gegen die SPD sammelte(29).
Demgegenüber steht im Grundgesetz, Artikel 4, Absatz 1: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Die Verwirkung solcher Grundrechte kann nach Grundgesetz, Artikel 18, Absatz 1 allein durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden.
5.
Auch durch wissenschaftliche Betätigung kann man sich als „Verfassungsfeind“ ausweisen.
So wurde dem vom Marburger Fachbereich Gesellschaftswissenschaften einstimmig zum Professor vorgeschlagenen R. Rilling mitgeteilt, „daß beim Landesamt für Verfassungsschutz (Lt V) ‚karteimäßig‘ folgende ‚Erkenntnisse‘ über ihn vorlägen: Rilling habe in Heft 4 1968 der Zeitschrift Marxistische Blätter einen Artikel geschrieben, der ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem Staat erkennen ließe (es handelt sich um eine Untersuchung von Teilaspekten der Notstandsgesetzgebung)“(30). Außerdem hatte der Verfassungsschutz das Protokoll des Kongresses Mitbestimmung in Wissenschaft und Ausbildung für Demokratie und sozialen Fortschritt karteimäßig ausgewertet, der vom Verband Deutscher Studentenschaften, der Bundesassistentenkonferenz und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft veranstaltet worden war und darin Rilling als ,Mitglied des Spartakus‘ Marburg bezeichnet gefunden, was dieser für unzutreffend erklärte(31).
In Gießen wurde H. Roth gefragt (laut eigenem Protokoll): „Sie haben in einem Vortrag am… in Biedenkopf von ,Systemen organisierter Friedlosigkeit` gesprochen, in denen wir angeblich leben (zitiert aus einem Artikel, den ich nicht kenne, in einem Biedenköpfer Lokalblatt, über einen mindestens drei Jahre alten Vortrag). Wie verträgt sich das mit der Friedfertigkeit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung, für die Sie als Beamter ja doch einzutreten haben?“(32)
In Nordrhein-Westfalen wurde der Hamburger Fachhochschullehrer T. Neumann nicht berufen. Die Zweifel an seiner Verfassungstreue „stützen sich vor allem auf einen Aufsatz in der Zeitschrift Kommunist. In diesem Artikel hatte Neumann die Bundesrepublik als imperialistischen Staat beschrieben. Das genügte(33). Im Fall des Hannoveraner Professors Peter Brückner hatte sich dieser zu einer von Beamten des Kultusministeriums angefertigten Analyse von 21 seiner Veröffentlichungen zu äußern. Eine Dauerüberwachung seiner wissenschaftlichen Äußerungen wurde angekündigt(34).
Der Junglehrer G. Pieper wurde „nicht in das Beamtenverhältnis übernommen, weil er sich in seiner Zulassungsarbeit kritisch mit den Einflüssen der Großkonzerne auf die Bildungsarbeit im Lande Baden-Württemberg… auseinandergesetzt hatte. Professoren hatten seine Arbeit übereinstimmend mit der Note 1 bewertet“(35).
Ein anderer Lehramtskandidat wurde abgelehnt, weil er in seiner Examensarbeit Unterrichtsmodelle zu den Sozialisierungsartikeln 14 und 15 des Grundgesetzes entwickelt hatte(36).
Demgegenüber steht im Grundgesetz, Artikel 5, Absatz 3: „Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“
Systematische Gesinnungsschnüffelei – traditionsgemäß gegen Linke
Diese knappe Darstellung ist nur ein winziger Ausschnitt aus der Fülle der Fälle(37). Immerhin sind in den letzten Jahren selbst nach offiziellen Angaben über eine halbe Million Bewerber für den öffentlichen Dienst vom Verfassungsschutz überprüft worden. Allein in Hessen waren es weit über 35 000 und im Laufe von nur einem Jahr wurden nach der Aussage des SPD-Fraktionsvorsitzenden Clauss 190 Anhörungen durchgeführt und rund 60 Ablehnungen ausgesprochen(38). Innenminister Hirsch zufolge wurden in Nordrhein-Westfalen allein im ersten Halbjahr 28705 Personen überprüft. Bei 203 Bewerbern lagen belastende ,Erkenntnisse` vor, 21 wurden abgelehnt(38). In Niedersachsen wurden nach Angaben von Ministerpräsident Kubel in den ersten 9 Monaten des Jahres 1975 34 928 Personen überprüft. In 306 Fällen lagen ,Erkenntnisse` vor. 20 Bewerber wurden abgelehnt, 24 sollen ihre Bewerbungen angeblich selbst zurückgezogen haben. 100 Fälle seien noch offen(38). In Westberlin wurden seit Herbst 1974 dem Bundesinnenministerium zufolge ca 24 000 Bewerber überprüft. Über mehr als 1800 lagen ,Erkenntnisse` vor. ..
Verfolgung wegen politischer Gesinnung, nicht etwa aufgrund strafrechtlich relevanter Tatbestände, ist kein Einzelfall mehr, sondern wird zum
System. Traditionsgemäß richtet sie sich vorwiegend gegen Linke. So teilte etwa der niedersächsische Innenminister Rötger Groß mit, daß das LfV „ausschließlich gegen linke Bewerber für den öffentlichen Dienst Bedenken geltend gemacht“(39) habe und die Frankfurter Rundschau stellte nach einer bundesweiten Umfrage fest: „Die Abgelehnten sind fast ausschließlich Linke… unter den 101 zurückgewiesenen Bewerbern waren nur vier rechte“(40), obwohl man im VS-Bericht 1973 nachlesen kann, daß etwa gleich viele sogenannte Links- bzw Rechtsradikale im öffentlichen Dienst beschäftigt sind(40) . Und naturgemäß war die Abteilung Linksradikalismus im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit 140 Bediensteten bereits im März 1973 fast doppelt so stark besetzt wie die Abteilung Rechtsradikalismus(40) . Und während der baden-württembergische Kultusminister Hahn dem renomierten Hochschullehrer Klaus von Beyme, SPD, zunächst die Berufung verweigerte, da seine „Gegnerschaft zur CDU-Landesregierung“ bekannt sei(41), wurde der hohe NPD-Funktionär Koseck an der Fachhochschule Nürtingen eingestellt(42). Während das Bremer Verwaltungsgericht die Nichtberufung von Professor Holzer, DKP, für rechtens erklärte, bestätigte der Richterdienstsenat beim Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg das NPD-Mitglied Stäglich in seinem Richteramt(43) und der Disziplinarhof beim Verwaltungsgericht in Mannheim den Bundesvorsitzenden der Jungen Nationaldemokraten, G. Deckert in seinem Lehreramt(44).
Und während der Lehrerin Senger wegen früherer MSB-Zugehörigkeit in Schleswig-Holstein die Anstellung verweigert wurde(45), blieb der stell-vertretende NPD-Landesvorsitzende, O. Führer, dort als Lehrer unbehelligt(46). So entschied auch das Bundesverwaltungsgericht im Falle des NPD-Obersten Witt am 14.3.1973: „Vor dem Verbot einer Partei kann sich niemand zum Nachteil eines Angehörigen des öffentlichen Dienstes darauf berufen, die noch nicht verbotene Partei sei verfassungswidrig, oder setze sich jedenfalls nicht ,für die bestehende demokratische Staatsauffassung‘ ein“. Es schützte Witt damit vor der Entlassung. Das gleiche Gericht entschied zwei Jahre später im Fall des DKP-Mitgliedes A. Lenhart genau entgegengesetzt, daß das Bekenntnis eines Bewerbers für den öffentlichen Dienst zu den Zielen einer „extremistischen politischen Partei“ Zweifel an der Eignung für das Lehramt begründen können und bestätigte damit ihre Nichteinstellung(47).
Die Atmosphäre der Verdächtigungen breitet sich epidemisch aus
Die Atmosphäre, die inzwischen durch Gesinnungsschnüffelei und Berufsverbote geschaffen wurde, erinnert an die große Kommunistenjagd der 50iger Jahre in der BRD und den McCarthyismus in den USA. Dafür ist nicht nur das bisher Dokumentierte charakteristisch. Die Atmosphäre der Verdächtigung weitet sich vielmehr auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus:
Schon zog der Staatssekretär des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen, Stakemeier die Verfassungstreue der Gewerkschaft der Polizei in Zweifel, weil diese das Streikrecht für Polizeibeamte gefordert hatte(48).
Und der Bayernkurier schreibt zu der Zurückweisung des Vorwurfs durch Willy Brandt, er sei Kommunist gewesen: „Legt man den Begriff ,Kommunist` in dem engen Sinne aus, daß damit nur ein Mitglied einer kommunistischen Partei bezeichnet werden darf, dann hat Brandt in der Tat recht. Das kann man ihm nicht nachweisen. Andererseits dürfte es ihm aber schwerfallen, nachzuweisen, daß er kein Helfer des Kommunismus war“(48) .
Schon faßte der Zentralvorstand des Kolpingwerkes einen Unvereinbarkeitsbeschluß zwischen diesem Verband und den Jungsozialisten, und der Kartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen die Unvereinbarkeit mit einer SHB-Mitgliedschaft(49). Das katholische Bischöfliche Ordinariat in Berlin kündigte einem gewerkschaftlich organisierten Junglehrer, zugleich Landesvorsitzender des BDKJ, „mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die politische Zielsetzung der GEW“(50).. Und Bundesinnenminister Maihofer schließlich wies alle Behörden darauf hin, „vor Einberufung von Tagungen in gastronomischen Unternehmungen die VS-Behörden der Länder und des Bundes“ einzuschalten, um zuvor insbesondere die dort möglicherweise beschäftigten ausländischen Arbeiter überprüfen zu lassen(51). In Berlin werden derweil Überlegungen angestellt, offiziell Polizisten in Zivil zur Überwachung der Studenten in der Universität einzustellen(52). Der CDU genügt die gegenwärtige Repression noch nicht. Ihr hessischer Landesgeschäftsführer Kanther kündigte vor der Landtagswahl an: „In den ersten vierzehn Tagen einer CDU-Regierung in Hessen fliegt eine Menge Lehrer aus dem Schuldienst“(53), natürlich die linken. Und der hessische CDU-Landtagsabgeordnete Weber setzt sich dafür ein, auch den Lehramtsanwärtern, die in einer Kommune leben und „in Gegenwart von anderen Menschen Intimverkehr haben“, die Einstellung in den Schuldienst zu versagen(54). Neu ist auch dieser Vorschlag nicht. Jedenfalls wurde im SPD-regierten Berlin bei einer Gesinnungsüberprüfung eine Bewerberin auch nach ihrer Meinung zu Wohngemeinschaften gefragt(55).
Die baden-württembergischen CDU-Politiker Filbinger und Schieß forderten eine Verschärfung der Polizeigesetze, um ohne großes Federlesen und rechtsstaatliche Hindernisse Personenwagen und Wohnungen durchsuchen zu können(56). Der Kultusminister des gleichen Bundeslandes bereitet zudem Richtlinien vor, die auch die Schülervertreter und die Bildungsreferenten der Jugendverbände der VS-Schnüffelei unterwerfen sollen(56).
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Martin Draht sieht nicht nur aufgrund dieser Vorgänge die Gefahr der „Zersetzung“ der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch „die Staatsschützer selbst“(57). Und auch der Landesvorstand der FDP/DVP von Baden-Württemberg sieht in den dortigen Überprüfungen kein rechtsstaatliches Verfahren, sondern eine „politisch motivierte Jagd auf Andersdenkende“. FDP-Landtagsabgeordnete beobachteten, daß aus Angst um den Arbeitsplatz mittlerweile „selbst skandalöse Vorfälle, die inzwischen häufig seien, einfach hingenommen“ würden(58). Diese Einschüchterung ist jedoch gerade Absicht der Berufsverbotspraxis. Erfreut stellte dazu der ehemalige Frankfurter Universitätspräsident Kantzenbach fest: „Im übrigen erwarte er durchaus positive Auswirkungen durch die Überprüfung. Es habe lange Zeit als ,schick` gegolten, links zu sein. Hier könne man künftig Mäßigung erwarten, wenn den Betroffenen bewußt werde, daß bestimmte Verhaltensweisen mit Risiken verbunden sind“(59).
Daß dies bereits voll gelungen ist, dokumentiert beispielsweise folgender Erfahrungsbericht einer Lehrerin aus Nordbaden: „Die Prüfungsthemen für die erste Prüfung müssen gut ausgewählt werden, da ein Thema wie zB politische Dichtung verdächtig machen könnte, weil der Student sich dadurch als politisch interessiert zeigt… Besuche und eventuelle Reden auf Veranstaltungen, Teilnahme an Demonstrationen, Unterschriften unter Resolutionen senken bei der Bewerbung für den Schuldienst die Chancen für eine Einstellung… Ist man endlich an einer Schule, steht man unter der wachsamen Aufsicht der Kollegen, die Angst vor Neuerungen haben… Durch Spitzeleien zeichnen
sich besonders der Mentor, der Schulleiter und der Seminarleiter aus, die zudem über Sanktionsmittel wie Beurteilung und Benotung verfügen… Neue Unterrichtskonzeptionen werden oft als radikale Wühlerei angesehen. . . „(60)
Insofern überrascht es nicht, daß auch amnesty international klagt „in zunehmendem Maße würden sich Bürger ,unseres Staates scheuen‘ an Unterschriftenaktionen der Organisation teilzunehmen. Das sei selbst dann der Fall, wenn es lediglich um die Forderung nach Abschaffung der Folter in aller Welt gehe. ,Als Begründung wird uns entgegengehalten, man sei im Staatsdienst tätig und beabsichtige, sich um eine Stelle im öffentlichen Dienst zu bewerben und müsse befürchten, daß einem die Mitunterzeichnung dieser Petition nachteilig ausgelegt werde“(61). Ausgerechnet amnesty international wurde vom niedersächsischen Verfassungsschutz „staatsabträgliche“ Tätigkeit unterstellt.
Einschüchterung ist offenbar der Zweck der Berufsverbote und Überprüfungen
Neben der direkten Repression, dem Berufsverbot, ist diese Einschüchterung die zentrale politische Funktion der Berufsverbote und Anhörungsverfahren. Es geht um die Wiederherstellung des Duckmäusertums. Damit sich potentielle Demokraten am besten jeder oppositionellen Aktivität enthalten, werden die Verhöre nicht auf die nach rechtsstaatlichen Kriterien zulässigen Fragen – zB nach Straftaten oder der Mitgliedschaft in vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Organisationen – beschränkt, sondern auf alle nur denkbaren linken Gesinnungen und Handlungen ausgedehnt.
Deshalb gilt auch bereits jeder Kontakt mit linken Individuen („führen Sie mit ihnen Gespräche?“) oder Organisationen (Weihnachtsfeier besucht?) als Indiz für Verfassungsfeindlichkeit. Beabsichtigt scheint ein – neuerliches – Kontaktverbot, nur daß man auf gelbe Sterne noch verzichtet. Eine linke Gesinnung ist fast eine kriminelle Handlung, so wird suggeriert. Ein Prozeß der Stigmatisierung vollzieht sich: Mit Linken sollte man am liebsten nicht verkehren. Das zahlt sich nicht aus. Deshalb auch die Unbestimmtheit der möglichen verdächtigen Tatbestandsmerkmale. Professor Denninger: „Ein Student, der heute irgend einem politischen Grüppchen beitritt, – wie kann er wissen oder feststellen, ob er damit nicht in drei, vier, fünf Jahren seine berufliche Laufbahn ruiniert hat, weil man ihn als Verfassungsfeind behandelt. Wie verträgt sich das alles mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz, daß Eingriffe oder Belastungen durch die Verwaltung ,meßbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar‘ sein müssen (BVerfG-Entscheid 8/325)?“(62).
Natürlich verträgt sich das nicht. Aber darin liegt gerade das System umfassender Einschüchterung; und das Kalkül mag stimmen – je unbestimmter und unvorhersehbarer es ist, was jemandem den Berufswunsch zunichte machen, ihn zumindest in den Ruf des Staatsfeindes bringen kann, desto mehr wird er unterlassen. An den Universitäten versuchen auch bereits viele Studenten, möglicherweise politisch brisanten Themen auszuweichen, ist doch nicht sicher, ob der VS-Sammler eine wissenschaftliche Arbeit, in der die Grundrechte allzu vehement verteidigt oder die Notstandsgesetze kritisiert werden, mit zu den Akten nimmt.
Darf man eigentlich noch ein Anti-NPD-Flugblatt unterschreiben, wo dies doch mehrfach als bemerkenswerte verfassungsfeindliche Betätigung vom Verfassungsschutz aktenkundig gemacht wurde? Unterzeichnet man hingegen ein Anti-DKP-Flugblatt, kann man des Wohlwollens des Verfassungsschutzes gewiß sein. Darf man überhaupt noch kritische Resolutionen unterschreiben – möglicherweise unterschreibt diese auch ein DKP-Mitglied und das könnte dann als Zusammenarbeit mit Kommunisten ausgelegt werden? So erging es den Unterzeichnern der Erklärung „Verteidigt die verfassungsmäßigen Rechte“ in Hessen, als sich später herausstellte, daß nicht nur Dutzende von SPD-Mitgliedern, sondern auch zwei Kommunisten unterschrieben hatten. Ist es ratsam, sich mit einem Angehörigen einer linken Gruppe auf das Examen vorzubereiten, seit man weiß, daß man deshalb verhört werden kann? Ist es wirklich so nötig, an auch noch so friedlichen Demonstrationen oder Bürgerversammlungen teilzunehmen, seit man weiß, daß dort von Verfassungsschutz und politischer Polizei gefilmt und fotografiert wird? Kann man eigentlich noch außerhalb seines engsten Freundeskreises politische Diskussionen führen, seit man weiß, daß VS-Spitzel oft dabei sind? Soll man sich angesichts des Falles Offergeld noch gewerkschaftlich engagieren? Ist es noch möglich, angesichts zahlreicher entsprechender Nachfragen bei Verhören, auch zB mit einer DGB-Delegation in die DDR zu fahren, oder gar einfach mal so? Darf man noch linke Zeitungen lesen oder gar darin schreiben, wenn doch dem Verfassungsschutz dies als verdächtig gilt? Wie distanziert man sich glaubhaft von einem linken Familienmitglied, wenn doch ein kommunistischer Vater als belastend angesehen wird? Sicher wäre es auch besser gewesen, diesen Artikel hier nicht zu schreiben.
Solche Fragen und Verhaltensweisen hervorzurufen, ist offensichtlich Absicht der Berufsverbots- und Verfassungsschutzpraxis, auf jeden Fall ihre Folge. Auch der politisch inaktive Bürger beruhige sich nicht mit dem Hinweis, über ihn seien keine „Erkenntnisse“ zu sammeln oder eventuelle „Mißverständnisse“, die in die VS-Dossiers geraten seien, könne er bei Befragung leicht aufklären und letztlich könne man noch klagen. Die nach offiziellen Angaben auf über eine Million zu schätzende Menge der Dossiers sollte auch ihm zu denken geben. Des weiteren sind sogar die Verhöre noch Ausnahmen. Wie wir aus Dutzenden von Fällen wissen, werden die Dossiers vor allem auch ohne Anhörung der Betroffenen herumgereicht, und wer garantiert etwa, daß bei einem Überangebot von Stellen (etwa bei Lehrerarbeitslosigkeit) als Ablehnungsgründe die tatsächlichen angegeben werden? Bereits sind entsprechende Vertuschungsmanöver einzelner Behörden bekannt geworden. Und ein Geschäftsmann, der aufgrund von unzutreffenden VS-Denunziationen geschädigt wurde, bekam vom Gericht gesagt, daß der Verfassungsschutz befugt sei, auch ungeprüfte Materialien weiterzugeben(63).
Nach den oben genannten Fakten kann man keine der hier gestellten Fragen mehr als absurd bezeichnen. Das ist das Absurde daran. Wer auf dieses Spiel der Staatsschützer allerdings eingeht, hat bereits verloren. Noch ist Widerstand gegen den Abbau der grundgesetzlich garantierten Rechte möglich. Gerade die deutsche Geschichte mahnt uns, damit nicht allzulange zu warten.
Verweise
1 Berufsverbote in Hessen, Hrg: AStA der Universität Gießen,
1975, S 15.
2 Frankfurter Rundschau (FR) 16. 5.1975.
3 Stein/Düx: Berufsverbot, Frankfurt 1974, S 13 ff.
4 Informationen des AStA Frankfurt, 1975, S 34.
5 Kritische Justiz 2/1975, S 152.
6 FR7.3.1974.
7 betrifft: erziehung 7/ 1975, S 24.
8 FR 28. 5.1975.
9 FR 4.9.1975.
10 Berufsverbote und kein Ende, Hrg: Initiativkreis gegen Berufsverbote, S 2.
11 Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1974, S 1273; im folgenden zitiert als Blätter.
12 GEW Kreisverband Göttingen: Einstellungsverzögerungen von Lehramtsbewerbern 1975, S 13.
13 FR 24.5.1975.
14 Frank von Auer: Der Fall Offergeld, Frankfurt 1974.
15 AStA Frankfurt, a a 0, S 34 f.
16 FR 26.1.1974; das gesamte Verhör ist abgedruckt in Blätter 12/74, S 1239-1241.
17 FR 3.5.1975.
18 FR 14.11.1974.
19 AStA Frankfurt, S 37 f.
20 FR 9.10.1974.
21 FR 16.5.1974.
22 Berufsverbote und kein Ende, a a 0, S 2.
23 AStA Gießen, S 17.
24 betrifft: erziehung 3/1975, S 10.
25 betrifft: erziehung 7/1975, S 24.
25 a Auseinandersetzung 7-8/1974, S 22.
26 FR 8.11.1973.
27 Süddeutsche Zeitung, 26.2.1975.
27 a betrifft: erziehung 3/1975,S 18.
27 b FR 4.11.1975.
28 P. Becker und T. Schiller in: FR 14.11.1974.
29 Vergleiche dazu D. Damm: Die Praktiken des BND, in: Kritische Justiz 1/ 1975, S 51.
30 AStA Gießen, S 71.
31 ebenda, S 72 f.
32 ebenda, S 15.
33 FR 2.5.1974.
34 Vergleiche Kritische Justiz 4/1973, S 444 ff.
35 FR 19.4.1975.
36 Blätter 5/1975,S 495.
37 Eine sich nur auf einen geringen Prozentsatz aller Fälle beziehende Dokumentation in den Blättern 12/1974, S 1226-1230 weist detailliert 52 Berufsverbote gegen Kommunisten und 21 gegen SPD- bzw FDP-Mitglieder nach.
38 FR 27.6.1975.
38 a FR 25.10.1975.
38 b FR 23.10.1975.
38 c FR 15.10.1975.
39 FR 14.1.1974.
40 FR 6.9.1974.
40 a Bundesminister des Innern, betrifft: VS 1973, Bonn 1974, S 15 und 42. Daß bei solchen Berichten mitunter die Zahlen der Rechtsradikalen nach unten manipuliert sind, habe ich nachgewiesen in: Das Argument 86, S 514-517.
40 b FR 9. 3.1973.
41 Blätter 12/1974, S 1229.
42 Erziehung und Wissenschaft 2/1973, S 2.
43 ebenda.
44 FR 5.9.1975.
45 Blätter 12/1974, S 1226.
46 FR 22.8.1975.
47 Blätter 5/1975, S. 491 f.; vergleiche dazu auch den Artikel von G. Mauz über die Juristen als Garanten jeglicher Ordnung, in: Der Spiegel 32/ 1975, S 32 ff.
48 FR 29.11.1973.
48 a Bayern Kurier 17.5.1975.
49 FR 14.5.1975.
50 FR 23.5.1975.
51 FR 23.9.1975.
52 Der Spiegel 37/1975,S 26 ff.
53 AStA Gießen, S 61.
54 FR 18.6.1975.
55 Blätter 12/1974, S 1241.
56 FR 15.5.1975.
56 a FR 30.10.1975.
57 FR 27.6.1975.
58 FR 19.4.1975.
59 Aus dem Protokoll einer Geheimkonferenz des Kultusministeriums mit den Präsidenten aller Landesuniversitäten, AStA Frankfurt, S 31.
60 So zitiert von Hanfried Scherer: Drei Jahre Radikalenerlaß, in: Vorgänge 14, S 75.
61 FR 16.10.1975.
62 Erhard Denninger: Parteienprivileg und Beamtentreue, in: Vorgänge 16,S 11.
63 BGHE, Aktenzeichen III ZR 72/65 FR 11.4.1968.