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Strafjustiz in Zeiten der Pandemie

In: vorgänge Nr. 234 (2/2021), S.21 – 30

Wenn Fritz Bauers Satz stimmt, dass sich die Humanität der Rechtsordnung gerade im Umgang einer Gesellschaft mit ihren Gefangenen zeigt, so gilt dies nicht nur für normale Zeiten, sondern umso mehr noch für Ausnahmesituationen, in denen die bestehenden Regeln neu ausgehandelt werden. Der folgende Beitrag schildert aus der Perspektive einer Berliner Strafverteidigerin, welche Spuren die Corona-Pandemie in der Strafverfolgung, den gerichtlichen Abläufen und dem Strafvollzug hinterlassen hat. Der Autorin geht es dabei keineswegs nur um kritische Anmerkungen, sie zeigt auch Gewinne und Ambivalenzen des justiziellen Umgangs mit der Pandemie auf.

1. Einleitung

Wenn man die verschiedenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf einen Nenner bringen sollte, wäre das sicher unter der Überschrift „Kontaktbeschränkungen“. Es gehört dagegen zur Natur der Strafjustiz, dass sie solche Kontaktbeschränkungen in Gänze nicht zulässt. Die Strafjustiz hatte und hat also in den zurückliegenden Monaten eine Aufgabe zu stemmen, die ihrer Aufgabe widerspricht: nämlich Kontakte zu unterlassen dort, wo beispielsweise im Zusammenhang mit Festnahmen nicht nur körperliche Kontakte zugelassen, sondern in geringem Maße sogar Gewalt gerechtfertigt sein soll; und dort, wo als absolute ultima ratio Freiheit nicht nur beschränkt, sondern Menschen nahezu isoliert werden durften und werden.

Die Strafjustiz ist nie frei von Widersprüchen, erst recht nicht in diesen Zeiten. Entsprechend wurden „pandemiebedingt“ in allen Bereichen der Strafjustiz Gesetze generiert und Entscheidungen begründet, die sich mit dem existentiellen Widerspruch zwischen Gesundheitsschutz einerseits und den ordnungsgemäßen Erfordernissen der Strafjustiz andererseits beschäftigen.

Spiegelbildlich ist die Strafverteidigung aktuell nur unter sehr verschärften Bedingungen möglich. Nicht wenige Strafverteidiger*Innen sind existentiell betroffen, indem sie ihren Beruf nur noch sehr eingeschränkt ausüben können, weil sie die Betreuung und Bildung ihrer Kinder zu übernehmen haben. Doch selbst dort, wo der Beruf weiterhin ausgeübt werden kann, ist diese Ausübung ebenfalls von existentiellen Fragen belastet – beispielsweise der, wie viel Kontakt man im eigenen Büro, in Gefängnissen oder auch im Gerichtssaal möglich machen muss und wie viel man im Hinblick auf gesundheitlich stärker gefährdete Angehörige möglich machen möchte. Der gesamte (Berufs)Alltag ist auf den Kopf gestellt. Auch wenn es derzeit vielen Menschen so ergeht, so darf nicht unterschätzt werden, wie notwendig eine ordnungsgemäße Strafverteidigung für das Bestehen des Rechtsstaats ist und wie schnell dieser durch eine insgesamt nicht gut funktionierende Strafrechtspflege gefährdet ist.

Die folgenden Ausführungen beschränken sich zumeist auf meine in Berlin als Strafverteidigerin gemachten Beobachtungen und Erfahrungen. Interessanterweise ist festzustellen, dass – wie oft in der Strafjustiz – trotz identischer oder nahezu gleichlautender Regelungen eine sehr unterschiedliche Handhabung dieser Regelungen, also eine unterschiedliche Praxis in verschiedenen Bundesländern zu beobachten ist.

In diesem Zusammenhang ist weiter interessant, dass sich die Praxis im Lauf der zurückliegenden 22 Pandemie-Monate erheblich verändert hat, trotz teilweise gleichbleibender oder gar steigender Infektionsraten. Die Reaktionen der Strafjustiz auf die Pandemie und ihre Entwicklung ist ebenso wenig faktenbasiert, wie wir teilweise die Handlungen und Vorgaben der Politik erleben. Vielmehr scheint sich die Praxis eher an einer zunächst tiefgreifenden Verunsicherung, einer stetigen Gewöhnung und schließlich aktuell an einer häufiger zu beobachtenden Gleichgültigkeit zu orientieren, als daran, was wissensbasiert empfohlen wird.

2. Straf­ver­fol­gung

Der Beginn der Pandemie im März 2020 zeichnete sich hierzulande in den ersten Monaten dadurch aus, dass die Strafverfolgung nahezu gegen Null tendierte: die Schließung der Grenzen ließ (zumindest in der Statistik) die Kriminalitätsraten drastisch sinken, beispielsweise im grenzüberschreitenden Drogenhandel, der auf eine stark nachlassende Nachfrage infolge der Schließung der Gastronomie und Partylocations zurückzuführen war. Das währte allerdings nur solange, bis die Temperaturen sich verbesserten und die User im darauffolgenden Winter fantasiereich illegale Partykonzepte entwickelten.

Nicht nur die Verfolgung dieser Drogendelikte wurde durch ins homeschooling verbannte Einsatzkräfte und eine bundesweit überwiegend mangelhafte Digitalisierung der Strafverfolgungsbehörden massiv reduziert, auch beispielsweise die Strafverfolgung im Wirtschaftsstrafrechtsbereich, unter anderem von Steuerhinterziehungen, wurde durch das Aussetzen von Betriebsprüfungen und ähnlichen Kontrollmaßnahmen für mehrere Monate nahezu eingestellt.

Besonders interessant war im letzten Frühjahr in Berlin zu beobachten, dass sehr viel weniger Freiheitsentziehungen erfolgten oder fortdauerten. Die Polizei sprach sich viel seltener für die Anordnung von Untersuchungshaft aus. „Erwischte“ ein Verteidiger einmal einen kürzlich Festgenommenen, so erfuhr er nicht selten an entsprechender Stelle, dass dieser – an einem gewöhnlichen Mittwochnachmittag in Berlin – der einzige sei, der sich aktuell im Gewahrsam am Tempelhofer Damm befinde! Ebenso erfuhren Verteidiger von der ohne ihre Einbindung erfolgten „Sekundenentlassung“ ihrer Mandanten aus der Untersuchungshaft, weil die Richter nach monatelanger Annahme einer Fluchtgefahr diese auf einmal nicht mehr sahen – noch vor Beginn der Hauptverhandlung. Entgegen allen früheren Befürchtungen wird in diesem Zusammenhang gerade nicht davon berichtet, dass diese Beschuldigten sich dann im weiteren Verlauf ihren Verfahren durch Flucht entzogen! Die Strafjustiz sollte beim Thema Freiheitsentziehungen/Untersuchungshaft an diese Erfahrungen mit der Pandemie anknüpfen.

Die Pandemie hat zudem deutlich gemacht, dass für eine funktionierende Strafverfolgung ein ausreichendes Maß an personeller Ausstattung erforderlich ist, ebenso wie dessen digitale Ausstattung für eine funktionierende Strafverfolgung zwingend notwendig ist. Selbst da, wo man Datenschutz einhalten wollte, war dies angesichts fehlender VPN-Tunnel oder nichtexistierender E-Mail-Accounts nicht möglich. Doch nicht nur aus Berlin wird von zahlreichen Umstellungsproblemen berichtet: So sollen Rostocker Staatsanwälte angewiesen worden sein, in zwei Schichten beginnend ab 6 Uhr morgens „inhouse“ zu arbeiten. Dagegen führte die vom Berliner Senat für Justiz und Verbraucherschutz ausgerufene 80:20-Regelung, wonach 20% der Mitarbeiter in Staatsanwaltschaften und Gerichten vor Ort arbeiten sollten, der Rest – bitte – von Zuhause aus, mangels entsprechender Digitalisierung dazu, dass dort die Aktenberge der zu bearbeitenden Fälle anwuchsen. Dagegen beschwerten sich in anderen Bundesländern Amtsrichter über die stark gestiegene Anzahl von Anklagen, weil die dortigen Staatsanwälte – befreit von den Sitzungsdiensten in den nicht stattfindenden Hauptverhandlungen – die Zeit nutzten, auch länger Liegengebliebenes aufzuarbeiten.

Nach über einem Jahr Pandemie sind Verbesserungen eingetreten. Zwischenzeitlich wurden auch in Berlin VPN-Tunnel eingerichtet, und jedenfalls für einen Teil der Strafrichter beim Landgericht Berlin sollen inzwischen datenschutzkonforme Laptops bereitstehen, die sich dem Vernehmen nach aber mehrere Richter teilen müssen.

Nachdem – anders als in den Prozessordnungen anderer Länder – in der deutschen Strafprozessordnung vieles inhaltlich, nahezu aber nichts in zeitlicher Hinsicht geregelt ist, gibt es – soweit ersichtlich – keine pandemiebezogenen Regelungen für den Ablauf der Strafverfolgung. Die Strafjustiz ist mal aus guten, mal aus schlechten Gründen daran gewöhnt, lange zurückliegende Sachverhalte aufzuklären. Für die Strafverteidigung gilt der Satz, wonach es sich mit einem Strafverfahren oft wie mit einem guten Rotwein verhält: Was lange liegt, wird gut!

3. Straf­pro­zesse

Für die Strafjustiz im engeren Sinne, also in Bezug auf die Durchführung von Gerichtsprozessen (Hauptverhandlungen), hat sich die Praxis im Guten wie im Schlechten stark verändert:
„Beschleunigung“

Die an dieser Stelle untechnisch gemeinte Beschleunigung von Strafprozessen (nicht von Untersuchungshaftsachen) ist überall dort zu beobachten, wo Verzögerungen allein den fehlenden Ressourcen – oder auch dem fehlenden Willen der Beteiligten – geschuldet waren, nicht aber dysfunktionalen Regelungen.

Wie schon erwähnt, ist stellenweise eine Beschleunigung der Anklageerhebungen dadurch zu beobachten, dass die Staatsanwälte freigewordene Zeit dafür nutzten, offene Fälle abzuarbeiten und anzuklagen. Häufiger als zuvor wurde auch von der Möglichkeit des in §§ 407 ff. StPO vorgehaltenen Instruments des Strafbefehlsverfahrens Gebrauch gemacht. Dieses ist ein schriftliches „Verurteilungs-Angebot“ an den Beschuldigten, das dieser annimmt, sofern er nicht rechtzeitig Einspruch einlegt. Das Instrument erspart die Durchführung einer Hauptverhandlung mit grundsätzlich mindestens vier zwingend zu beteiligenden Personen (Angeklagter, Staatsanwalt, Strafrichter und Protokollführer). Zeugen sind in dieser Konstellation ebenso wenig präsent wie ein öffentliches Verfahren.

Das Strafbefehlsverfahren ist in seinen Rechtsfolgemöglichkeiten beschränkt, also grundsätzlich für Fälle kleinerer und mittlerer Kriminalität vorgesehen. Zulässig sind allein die Verhängung einer Geldstrafe, die Verwarnung mit Strafvorbehalt oder „kleinerer Nebenfolgen“ wie ein Fahrverbot, allerdings auch die Entziehung der Fahrerlaubnis und Ähnliches sowie die Verhängung einer Freiheitsstrafe – zwingend ausgesetzt zur Bewährung und nur unter der Bedingung, dass der Angeschuldigte einen Verteidiger hat.
Da statistisch gesehen die Mehrzahl der Strafverfahren Vorwürfe kleinerer und mittlerer Kriminalität beinhalten, ist die gesteigerte Anwendung dieser Erledigungs-/ Verurteilungsmöglichkeit grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die Wahrnehmungen und Einschätzungen aus Verteidigersicht dazu gehen aber auseinander: Dem Vernehmen nach sind Strafverteidiger aus dem Süden des Landes erfreut bis verwundert über die massiv gehäuften Verurteilungs-Angebote ihrer Kollegen aus der Staatsanwaltschaft. Erzählungen zu diesem Punkt enden oft mit der Bemerkung, dass es „vorher“ dafür zwei Jahre gegeben hätte.

Aus Berliner Strafverteidiger-Sicht sorgt diese Praxis dagegen eher, als sie beruhigt. Die Erfahrungen mit den in ihren sprachlichen Fähigkeiten und intellektuellem Vermögen eingeschränkten Mandanten zeigen zu oft, dass sie die Konsequenzen dieses schriftlichen Verurteilungs-Angebots ebenso wenig erfasst haben, wie sie im Stande waren, eine Einspruchsfrist einzuhalten, obwohl sie gute Verteidigungsansätze gehabt hätten – und sei es auch nur zur Höhe der „angebotenen“ Geldstrafe.

In der Strafverfolgung „höherer Ordnung“ (bei höherem Strafrahmen) ist bundesweit eine pandemiebedingte „Entspannung“ dahingehend zu beobachten, dass die im Verfahren gegenüberstehenden Antagonisten – Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Richterschaft – zu einer schnellen Erledigung bereit sind, schneller als sonst „Angebote“ gemacht und auch angenommen werden, um längere Hauptverhandlungen zu verhindern.

Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Angebote nicht zu einer milderen Aburteilung als sonst führen, sondern vielmehr die ohnehin im Lauf einer Beweisaufnahme zu erwartende Relativierung eigenen Vorstellungen schneller einsetzt. Im Übrigen bezieht sich die beschriebene Annäherung auch mehr auf „Annexfolgen“, wie beispielsweise die mit einer Verurteilung einhergehende Haftverschonung; diese wird pandemiebedingt zum gemeinsamen Ziel, weil sowohl der inhaftierte Angeklagte ein Interesse an der Wiedererlangung seiner Freiheit hat, ebenso wie der Verteidiger den damit verbundenen Erfolg für sich verbuchen will, und Staatsanwälte sowie Gerichte die Strafanstalten entlasten wollen.

Die medienwirksame Einstellung des sogenannten Loveparade-Verfahrens durch das Landegericht Duisburg war sicherlich auch weniger der Pandemie geschuldet als der bereits zuvor langen Bearbeitungszeit. Straftaten verjähren nicht überraschend und keine der im Sommer 2020 etablierten pandemiebedingten Regelungen hat die Fortführung von Strafprozessen per se untersagt.
„Entschleunigung“

Dort, wo die zuvor beschriebene Beschleunigung der Strafprozesse nicht gelungen ist, trat oft spiegelbildlich eine pandemiebedingte Entschleunigung ein. Diese ist maßgeblich gesetzesbedingt, weil mit dem Infektionsschutzgesetz und sämtlichen damit verbundenen neuen Regelungen für den Strafprozess (vermeintliche) Hürden aufgestellt wurden, die es revisionssicher zu nehmen gilt.
Diese Hürden bedeuten Einschränkungen, wie für die übrige Gesellschaft auch, und sie stellen Versuche dar, das Spannungsverhältnis aufzulösen, das zwischen originären verfassungsrechtlich verbürgten Rechten besteht. Auf den Punkt gebracht geht es stets um das Freiheitsrecht des Einzelnen und dessen Ausflüsse einerseits und dem Recht auf Gesundheitsschutz andererseits.
Die „alte Oma“ Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877 und ihre bisherigen Entwicklungen befasste sich noch nie mit dem Gesundheitsschutz im Allgemeinen, und erst recht nicht orientierten sich ihre Regelungen an diesem Zweck.
Eingangs wurde die oftmals mit der Strafverfolgung zwingend verbundene körperliche Nähe beschrieben, die beispielsweise mit der Entnahme von Speichelproben, mit Sachverständigenuntersuchungen und Ähnlichem verbunden ist. Diese Nähe ist unter pandemischen Gesichtspunkten äußerst bedenklich, aber dem Strafprozess dem Wesen nach genauso immanent wie die grundsätzliche Vielzahl von Beteiligten.

Der Strafprozess wird beispielsweise durch die Anordnung von Untersuchungshaft gesichert. Das bedeutet, dass der inhaftierte Angeklagte von vielen Justizbediensteten „begleitet“ bzw. zu sichern ist, die deshalb eine bestimmte Nähe zu diesem haben müssen und deren Gesundheit ebenso zu schützen ist wie von allen anderen. Der inhaftierte Angeklagte ist in den Saal zu führen, dort ist die Verteidigung sicherzustellen. Letzteres bedeutet grundsätzlich ebenfalls eine räumliche Nähe zum Angeklagten, denn der Strafverteidiger muss und will sich mit diesem vertraulich besprechen (können), Unterlagen sind gemeinsam zu sichten usw.

Der Strafprozess kennt nur vier Beweismittel zur Wahrheitserforschung: den Augenschein, den Sachverständigen, die Urkunden und die Zeugen. Die Handhabung jedes dieser Beweismittel zwingt grundsätzlich zu einer körperlichen Nähe. Insbesondere die Urkunden und der Augenschein, also die Sichtung von Gegenständen, ist jahrzehntelang in der Art vollzogen worden, dass die Prozessbeteiligten sich am Richtertisch zusammenfanden, also nur mit wenigen Zentimetern Abstand zu einander standen.

Dies ist nicht mehr möglich bzw. wird derzeit – ohne dass es hierzu geänderte Regelungen in der Strafprozessordnung gäbe – nicht mehr so gelebt. Vielmehr bemühen alle Beteiligten sich um Abstand; meistens ist man durch Plexiglasscheiben getrennt. Als Strafverteidiger überlegt man sich jeden Gang zum Richtertisch gut und begnügt sich zumeist damit, die im Laptop oder in der Akte vorhandene Urkunde selbst einzusehen und sie im Anschluss dem Mandanten zugänglich zu machen.

Mit dieser Verfahrensweise ist möglicherweise weniger ein Qualitätsverlust verbunden, als atmosphärisch die Ernsthaftigkeit verloren geht, mit der ein Strafprozess verbunden ist: Wenn es mehr darum geht, die Übertragung von Viren zu verhindern, als die Wahrheit durch eine dezidierte Auseinandersetzung mit Beweismitteln vorzunehmen, verliert der Strafprozess und damit der Rechtsstaat an Glaubwürdigkeit.
Aus gutem Grund hat daher in meinen Verfahren noch kein Richter darauf bestanden, dass derjenige, der in der Hauptverhandlung gerade spricht, seine Maske aufbehält; und erst recht nicht habe ich erlebt, dass ein Zeuge seine Maske aufbehalten dürfte. Der vernehmungspsychologisch ohnehin fragwürdige Zeugenbeweis verlöre endgültig an Seriosität, wenn die Gesichter von Zeugen während ihrer Einvernahme zu dreiviertel bedeckt wären.

Einige Richter meinen im Übrigen mit Verweis auf das Gerichtsverfassungsgesetz, dass Maskierungen im Gerichtssaal ohnehin verboten seien. Wie auch außerhalb der Gerichte gibt es auch unter den Prozessbeteiligten pandemiebedingt verschiedene Brüche: Vorsitzende mussten unter der Androhung, sich anderenfalls aus dem Gerichtssaal zu entfernen, von Staatsanwälten ebenso wie von Verteidigern davon abgehalten werden, ganztägige Hauptverhandlungen durchzuführen; Berufungsrichter beim Landgericht Berlin scheitern mit der Terminierung von Hauptverhandlungen in Nichthaftsachen daran, einen Staatsanwalt als Sitzungsvertreter zu finden, weil große Teile der Staatsanwaltschaft wegen Vorerkrankungen vom Sitzungsdienst befreit ist. In manchen Konstellationen fragt man sich als Verteidiger, warum eine Nichthaftsache mit einer Vielzahl von Zeugen im Januar 2021 ad hoc terminiert und durchgeführt werden muss; andere Verteidiger drängen dagegen auf die Durchführung von Hauptverhandlungen, weil sie auf die Vergütungen angewiesen sind.

Die Unabhängigkeit der Richter wird hochgehalten. Im Ergebnis führt das dazu, dass Hauptverhandlungen weniger aus Pandemiegründen unterbleiben, sondern die Terminierungen allein von dem Interesse des jeweiligen Richters abhängig ist, ein „sauberes Dezernat“ zu haben.
Selbst die direkt pandemiebedingten Auswirkungen auf den Strafprozess, wie etwa die seit dem 27. März 2020 geltende Regelung zur Hemmung der Unterbrechungsfristen (§ 229 Abs. 3 StPO, § 10 EGStPO) führt nicht zu einer durchgängig geänderten Praxis. Nach meiner Erfahrung wird hiervon eher interessengeleitet Gebrauch gemacht, als der Zweck verfolgt wird, Kontakte tatsächlich zu beschränken.
Insgesamt lässt sich eine Tendenz beobachten, die Hauptverhandlung – abgesehen von einigen Regeln zu deren Ausgestaltung (Maske, Plexiglas usw.) – ungeachtet der Pandemie nicht weiter einzuschränken. Dies dürfte insbesondere dem Ansinnen der beteiligten Richter geschuldet sein, ihre Verfahren und Verurteilungen revisionssicher zu handhaben. Deshalb hat man sich im zurückliegenden Jahr auch zu Themen wie der Öffentlichkeit des Verfahrens oder der Beschleunigung von Hauptverhandlungen „ausgetobt“. Die hierbei herausgebildete höchstrichterliche Rechtsprechung hat Fallgruppen zur sogenannten abstrakten, potenziellen und konkreten Infektionsgefahr entwickelt (beispielsweise OLG Karlsruhe, NSTZ 2020, 375), die stets mit dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung abgewogen wird. Soweit ersichtlich wurde dabei durchgehend zugunsten des staatlichen Interesses entschieden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20). Demnach verletzt beispielsweise die pandemiebedingte Reduzierung von Zuschauerplätzen weder die Öffentlichkeit des Verfahrens, noch dürfte eine Corona-Regelung zur Ausgangssperre bzw. dem Verlassen der häuslichen Unterkunft Bestand haben, die die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung als Zuschauer untersagen würde. Ebenso wenig kann eine Verurteilung wegen Verletzung des in § 169 Abs. 1 GVG niedergelegten Grundsatzes der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung angefochten werden (BGH, Beschluss vom 17.11.2020 – 4 StR 390/20).

Selbst der sensibelste Bereich des Strafprozesses, nämlich die Frage nach pandemiebedingten Verzögerungen von Gerichtsverfahren und den damit verbundenen Verlängerungen von Untersuchungshaft, wurde insoweit zulasten der Inhaftierten beantwortet, als die Verzögerungen zum Beginn oder der Fortführung einer Hauptverhandlung als „anderer wichtiger Grund“ nach § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über die Sechsmonatsgrenze hinaus bewertet wird (vgl. OLG Karlsruhe a. a. O.).

4. Straf­voll­stre­ckung

Die Ambivalenz in der Handhabung von Verfahren setzt sich auch in der Strafvollstreckung fort: Zum einen gab es Erleichterungen für jene Verurteilten, die sich auf freiem Fuß befanden, als in den meisten Bundesländern im Frühjahr 2020 ein irgendwie gearteter Aufnahmestopp für Strafantritte in Kraft trat. Teilweise wurden Verurteilte mit einer Verurteilung bis zu drei Jahren (ausgenommen bestimmte Delikte) nicht zum Strafantritt geladen, entsprechende Vollstreckungshaftbefehle nicht vollzogen, teilweise betrafen diese Regelungen nur Verurteilte mit einer geringeren (Rest)Strafe.

Der Senator für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Berlin traf eine sehr beachtliche und weitreichende Regelung, wonach im letzten Frühjahr zunächst Inhaftierte, die eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe wegen fehlender Begleichung von Geldstrafen verbüßten, freigelassen und neue Ersatzfreiheitsstrafen nicht vollstreckt wurden; auf die weitere Beitreibung dieser Geldstrafen, also letztlich die Fortsetzung der Vollziehung der Ersatzfreiheitsstrafen wurde ebenfalls verzichtet. In dieses – schon länger stark kritisierte – Institut ist also pandemiebedingt Bewegung geraten, ohne dass der Rechtsstaat hierdurch ins Wanken geraten wäre.
Auch der seit dem Frühjahr 2020 zu beobachtende zurückhaltende Gebrauch von Untersuchungshaft führte nicht dazu, dass die hiervon betroffenen Personen sich der Vollstreckung entzogen hätten. Sie folgten ebenso „brav“ der später erfolgten Ladung zum Strafantritt wie zuvor auch. Auch das ist eine Beobachtung, die die oftmals angeordnete Fortdauer von Untersuchungshaft nach Verurteilungen sehr infrage stellt.

Weniger Gutes lässt sich nach meinen Beobachtungen über die Beendigung von Strafvollstreckungen berichten: Zwar haben sich die befürwortenden Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalten zur Frage einer möglichen Haftentlassung zum Halbstrafenzeitpunkt oder später signifikant erhöht. Allerdings stiegt die Zahl der tatsächlich erfolgten Aussetzungsentscheidungen zur Bewährung nicht im gleichen Maße wie die Zahl der befürwortenden Stellungnahmen. Vielmehr waren die entsprechenden Verfahren im letzten Jahr oft dadurch gestört, dass Richter sich nicht in der Lage sahen, die zwingend durchzuführende persönliche Anhörung des Inhaftierten aus Infektionsschutzgründen durchzuführen. Sie mussten erst höchstrichterlich hierzu eines Besseren belehrt werden (KG, Beschluss vom 12.06.2020, 5 Ws 92/20). In diesem Zusammenhang wurde erwogen, die persönliche Anhörung durch eine Videoschalte zu ersetzen, was vielerorts aber an den fehlenden technischen Vorrichtungen scheitert. Nachdem an diesen Anhörungen grundsätzlich nur zwei Personen teilnehmen, ein Richter und der Inhaftierte, gegebenenfalls noch ein Verteidiger oder auch Sachverständiger, und jedenfalls in Berlin ausreichend große Säle zur Verfügung stehen, ging dieser Bereich soweit ersichtlich wieder in den „Normalbetrieb“ über.
Die vorzeitige Entlassung leidet daher weniger an pandemiebedingten Einschränkungen hinsichtlich der Durchführungsmöglichkeiten, als an pandemiebedingt fehlenden Möglichkeiten der Inhaftierten, vollzuglich derart voranzukommen, dass ein Strafvollstreckungsrichter ihre vorzeitige Entlassung zur Bewährung entscheiden dürfte. Zum Beispiel wurden die meisten Behandlungsangebote eingestellt, die von Externen durchgeführt werden (Drogengruppen, Antigewaltgruppen usw.).

5. Straf­vollzug

Die bislang beschriebene Ambivalenz der pandemiebedingt geänderten Praxis in der Strafjustiz spitz sich im Bereich des Strafvollzugs zu:
Quantitativ betrachtet haben einige wenige Inhaftierte insofern enorme Vorteile erlangt, als sie noch umfangreichere sogenannte Lockerungen erhielten als zum Beginn der Pandemie bereits gewährt. Das gilt jedenfalls in Berlin für diejenigen Inhaftierten, die im März 2020 bereits im Offenen Vollzug des Landes Berlin untergebracht und dort umfangreich gelockert waren; sie hatten also bereits die Möglichkeit, nahezu täglich die Justizvollzugsanstalt zu verlassen, arbeiten zu gehen und Ähnliches. Diese Inhaftierten wurden seither – teilweise ununterbrochen –aus dem Offenen Vollzug „entfernt“ – sie durften aus Infektionsschutzgründen rund um die Uhr „draußen“ sein, trotzdem diese Zeit auf die Haft angerechnet wird. Was so manchem Richter als „paradiesisch“ anmutet, ist tatsächlich mit strengen Auflagen, Vorgaben und auch einer Vielzahl von Kontrollen verbunden. Beispielsweise war und ist es vielen dieser Inhaftierten abgesehen von ihrer Arbeit nur gestattet, die eigene Wohnung am Wochenende lediglich für die Dauer von zwei Stunden täglich zu verlassen. Die Verantwortlichen des Offenen Vollzuges nehmen ihre Aufsichts- und Behandlungsverpflichtungen weiterhin sehr ernst, sodass aus meiner Sicht das Konzept des Offenen Vollzuges vollgültig gelebt wird.

Diese Erleichterung gilt allerdings nur für wenige „Glückliche“. Für die weitaus größere Zahl der im geschlossenen Strafvollzug untergebrachten Inhaftierten sind die pandemiebedingten Konsequenzen im Strafvollzug existentiell einschneidender:
Im zurückliegenden Jahr stellten beispielsweise viele externe Träger ihre dringend nötigen Behandlungsangebote in den geschlossenen Vollzugsanstalten ein. So finden weder Drogenberatungen durch externe Drogenberater statt noch können die sonst üblichen Gruppenangebote durchgeführt werden. Die menschliche Fluktuation in den Strafvollzugsanstalten ist auf ein Minimum reduziert. Schon Teilanstalten (innerhalb derselben Strafvollzugsanstalt) haben untereinander die sonst üblichen Bewegungen stark eingeschränkt, sei es in Bezug auf Arbeitsbetriebe oder auch Verlegungen, um in einer anderen Teilanstalt bessere Behandlungen durchführen zu können.
Ganz besonders sind aber die Inhaftierten während der Pandemie dadurch beschränkt, dass der Besuch von Angehörigen im Jahr 2020 über mehrere Monate untersagt war bzw. in den zurückliegenden Monaten quantitativ und qualitativ nur sehr eingeschränkt stattfinden konnte, beispielsweise nur mit trennender Glasscheibe, ohne Berührungen und vielerorts ist der Besuch von Kleinkindern weiterhin untersagt. Nicht wenige inhaftierte Väter haben ihre Kinder noch gar nicht oder sehr lange nicht sehen dürfen. Dieses Maß an Freiheitsbeschränkungen ist verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Auch wenn sie zugunsten des Gesundheitsschutzes erfolgen, sollte das nicht davon ablenken, dass dies einer Isolationshaft gleichkommt.

Die massiven Konsequenzen der Pandemie werden im Berliner Strafvollzug und anderswo zwar durch die ohnehin bereits beschlossene Digitalisierung etwas abgefedert, als den Inhaftierten Möglichkeiten eingeräumt werden, ihre Angehörigen mittels Videotelefonie zu sehen; insgesamt wurden die medialen Kommunikationsmöglichkeiten sehr verbessert. Es ist aber nicht bekannt, dass eine besondere Priorisierung von Inhaftierten und Vollzugsbediensteten im Hinblick auf Impfungen, häufiges Testen oder Ähnliches vorgenommen worden wäre.
Für die Inhaftierten gilt unter Corona-Bedingungen einmal mehr, dass sie leider über keine einflussreiche Lobby verfügen. Umso wichtiger ist es, aus den Lehren der Pandemie die richtigen Schlüsse zu ziehen, das heißt, die Pandemie als Chance dafür zu begreifen, die Freiheitsentziehungen an sich zu überdenken ebenso wie deren Ausgestaltung. Haftanstalten mit mehreren Hundert Inhaftierten sind ebenso wenig zeitgemäß, wie sie einer heutigen Gesellschaft würdig sein können. Die „Wiederbelegung“ der im Zuge der Terroristenprozesse in den siebziger Jahren etablierten Trennschreiben kann und darf das Nachdenken über einen humaneren Strafvollzug nicht ersetzen.

 

Ria Halbritter ist seit 2001 Rechtsanwältin und seit 2004 als Fachanwältin im Strafrecht tätig mit u.a. Spezialisierungen im Strafvollzugs- und Strafvollstreckungsrecht sowie als zertifizierte Beraterin für Steuerstrafrecht. Sie engagiert sich seit über zehn Jahren rechtspolitisch im Vorstand der Vereinigung Berliner Strafverteidiger und als Referentin zu verschiedenen strafrechtlichen Themen; u.a. wurde die Fortbildungsreihe „Berliner Gefangenentage“ von ihr initiiert und organisiert.

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