Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 234: Strafvollzug in der Pandemie

Straf­ver­schär­fungen sind oft die falsche Antwort

vorgänge12/2021Seite 57 - 60

Entkri­mi­na­li­sie­rungs­an­sätze zum Schwa­rz­fahren und dem Kleinhandel mit Betäu­bungs­mit­teln

In: vorgänge Nr. 234 (2/2021), S. 57 – 60

Im Strafvollzug sind zahlreiche Menschen anzutreffen, die dort wegen „Schwarzfahrens“ (Erschleichung von Leistungen, § 265a StGB) oder wegen Straßenhandels mit illegalen Drogen ihre Freiheitsstrafen verbüßen. Solche Fälle wären durch eine Beschränkung des Strafrechts auf das ultima-ratio-Prinzip bzw. eine Entkriminalisierung leicht zu vermeiden, wie der folgende Beitrag zeigt. Der Autor, früherer Justizsenator in Hamburg, stellt die Entkriminalisierung hier als Teil eines alternativen Problemlösungsansatzes vor, der weit über das Strafrechtssystem hinausreicht. Zugleich ordnet er die Entkriminalisierungsdiskussion in den Kontext der gegenläufigen Tendenz ein, bei der Strafverschärfungen das gängige politische Reaktionsmuster darstellen.

Bei vielen gesellschaftlichen Problemen ist ganz schnell der Ruf nach härteren Strafen da. Genaue Analyse der Ursachen des Problems, der Aufbau von wirksamen Präventionsmaßnahmen, die Evaluation von Best-practice-Modellen – das alles dauert in unserer politischen Debatte mit nur kurzer Aufmerksamkeitsspanne viel zu lang. Es ist so schön einfach, neue Straftatbestände und härtere Strafen zu fordern. Dass eine härtere Strafandrohung abschreckende Wirkung zeigt, wird gerne geglaubt. Und so war das Strafgesetzbuch stets gefüllt mit Straftatbeständen, die überholte und teilweise diskriminierende gesellschaftspolitische Vorstellungen aufrecht erhielten, wie z.B. im Falle des § 175 StGB (Verbot homosexueller Handlungen unter Männern). Sie haben gemeinsam, dass sie kaum geeignet sind, ein bestimmtes gesellschaftliches Verhalten zu erzwingen. Weder konnte die Strafbarkeit der Gotteslästerung den Respekt vor Religionen sicherstellen, noch konnte die Normierung der Heterosexualität den Befreiungskampf von Lesben und Schwulen aufhalten. Ein aktuelleres Beispiel ist die Strafbarkeit von Doping im Sport: Hier soll das Strafrecht richten, was durch strukturelle Fehler im System des Leistungssports verursacht wird.

Mit dem in der Strafrechtswissenschaft hoch gehaltenen ultima-ratio-Prinzip hat das wenig gemeinsam. Nimmt man es ernst, dürfte das Strafrecht nur in den Fällen zum Einsatz kommen, wo das gesellschaftliche Leben elementar gestört wird. Aber auch aus praktischer Perspektive stellt sich die Frage: Worauf sollen die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden gerichtet werden? Dank des Legalitätsprinzips müssen sie sämtlichen Straftaten nachgehen. Eine freie Prioritätensetzung scheidet aus. Da aber dennoch die Ressourcen nicht endlos sind, können nicht alle Straftaten zu Ende verfolgt werden. Auf der Strecke bleiben dann oft Verfahren, die besonders aufwändiger Ermittlungen bedürfen, wie etwa im Bereich der Wirtschaftsstrafverfahren. Gerade auf diese Verfahren kann aber nicht verzichtet werden, da die entsprechenden Straftaten sehr großen gesellschaftlichen Schaden anrichten.

In meiner Zeit als Justizsenator von Hamburg von 2008-2010 und von 2015-2020 habe ich viele Justizministerkonferenzen erlebt. Neben dem Dauerbrenner der Fußfessel (die sich im Praxiseinsatz als weitgehend untauglich gezeigt hat) hatten die Kolleg*innen der CDU/CSU auf fast jeder Tagung einen Vorschlag für neue Straftatbestände, neue Qualifikationen oder Strafschärfungen im Gepäck. Als grüne Justizminister*innen wollten wir dem nicht nur abwehrend gegenübertreten, sondern haben eine Vielzahl von Vorstößen gemacht, das ultima-ratio-Prinzip stärker in den Mittelpunkt zu rücken. So haben wir uns eingesetzt für eine Entrümpelung des Strafgesetzbuchs, weil es eine Menge von Straftatbeständen gibt, die bei genauerer Betrachtung sehr fragwürdig wirken (beispielsweise die Doppelehe § 172 StGB). Warum es besondere Strafvorschriften zum Verbrennen ausländischer Flaggen (§ 104 StGB) gibt war deswegen ein längerer Diskussionspunkt. Die allermeisten dieser Entrümpelungsvorschläge haben allerdings nur geringe praktische Relevanz, so dass die Diskussion meist auch nur den Effekt hat, das Prinzip zu betonen und so indirekt dem Wildwuchs im Strafrecht entgegen zu treten. Es gab jedoch eine berühmte Ausnahme: Die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter war Gegenstand im Strafverfahren gegen Jan Böhmermann. Die Prominenz des Beschuldigten trug dazu bei, dass eine Bundesratsinitiative erfolgreich war, diese zuvor kaum praxisrelevante Vorschrift abzuschaffen.

Größere praktische Relevanz hat die Debatte um Entkriminalisierung beim Schwarzfahren und dem Handel mit Betäubungsmitteln, insbesondere Cannabis. Beide Felder haben gemeinsam, dass die Strafverfolgung offenkundig wenig sinnvoll ist, die Entkriminalisierung aber eingebettet sein muss in ein ganzes Feld von Maßnahmen außerhalb des Strafrechts.

Die Straftat des Erschleichens von Leistungen, insbesondere im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs (§ 265a StGB) hat Relevanz durch die Praxis der Verkehrsunternehmen, ihre Fahrgäste meistens nicht bei Einstieg, sondern nur stichprobenartig zu kontrollieren. In aller Regel kommt es gar nicht sofort zu einer Strafanzeige. Beim ersten und zweiten Mal bleibt es beim erhöhten Beförderungsentgelt, erst nach dem dritten Erwischtwerden kommt es zu einer Strafanzeige. Die daraufhin verhängte Geldbuße ist also eine weitere Eskalationsstufe. Bei Gesprächen mit Verkehrsunternehmen zeigt sich, dass es zwei Gruppen von Schwarzfahrer*innen gibt: Die wirtschaftlich Denkenden und jene, die durch Regeln auch sonst nicht erreicht werden. Die wirtschaftlich Denkenden kaufen keine Fahrkarte, weil sie tatsächlich sehr häufig fahren können, ohne kontrolliert zu werden und das erhöhte Beförderungsentgelt die gesparten Fahrpreise nicht übersteigt. Sie richten ihr Verhalten so aus, dass es zu einer Anzeige oder gar einer wiederholten Anzeige nicht kommt, weil das dann teurer käme. Daneben steht die andere Gruppe, die eingehende Post nicht aufmacht oder gar nicht postalisch zu erreichen ist. Tatsächlich dürfte es sich hier im großen Umfang um obdachlose Menschen handeln. Die verhängte Geldbuße wird nicht gezahlt, Angebote zur Abarbeitung der Geldbuße werden nicht angenommen, es kommt zur Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe. Vollstreckt wird die dann irgendwann, wenn die Person zufällig in eine Polizeikontrolle gerät. In den Gefängnissen zeigt sich dann vielfach, dass diese Menschen umfangreiche Probleme haben, seien es Suchtprobleme oder psychische Erkrankungen. Während der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 30 oder 60 Tagen ist es nicht möglich, irgendwas davon sinnvoll anzugehen. In der Zeit klappt in der Regel nicht einmal ein Entzug. Stellt sich schon generell die Frage, ob Gefängnisse die Menschen bessern, wird die Sinnlosigkeit von Vollzug in diesen Fällen auf die Spitze getrieben. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie wird deutlich, dass die Aussetzung von Ersatzfreiheitsstrafen, wie etwa in Hamburg, nicht zum Untergang des Rechtsstaates führt. Es ist vielmehr die Konsequenz aus einer wohlüberlegten Abwägung zwischen staatlichem Strafanspruch und sozialen Gesichtspunkten.

Was wir stattdessen brauchen: Hilfen für Menschen, die obdachlos sind und effektive Maßnahmen innerhalb des Systems ÖPNV. Denkbar wäre etwa die Staffelung des erhöhten Beförderungsentgelts, so dass Schwarzfahren einfach unwirtschaftlich wird.
Bei der Verfolgung von Drogenhandel zeigt sich fortgesetzt die Erfolglosigkeit des bisherigen Ansatzes. Es gelingt überhaupt nicht, den Konsum von Cannabis oder Kokain einzudämmen. Selbst größere Ermittlungserfolge haben keinerlei Einfluss auf den Preis der Drogen. Getroffen werden meistens nur die Straßendealer, die nur einen kleinen Teil der Gewinnspanne einstreichen dürften. Sie nehmen aber im großen Umfang Haftplatzkapazitäten in Anspruch, weil bei Zweifeln am Wohnsitz sehr schnell Untersuchungshaft verhängt wird. Die Fokussierung auf den Straßenhandel lässt auch weite Teile des Drogenhandels unbehelligt, der über Lieferdienste und Postversand funktioniert. Statt am letzten Ende der Kette gilt es an den Ursachen anzusetzen. Wir brauchen jedenfalls für Cannabis eine kontrollierte Abgabe. Das würde nicht nur dazu führen, dass die kriminellen Strukturen hinter dem Drogenhandel deutlich weniger Umsatz hätten, sondern böte auch die Chance, viel mehr zu tun für die Gesundheitsprävention, weil nur so Qualitätskontrolle und Aufklärung Raum haben können. Das geht also nur mit einem sehr guten begleitenden gesundheitspolitischen Konzept. So muss es aber auch sein: Die Strafverfolgung ist ungeeignet, die Schwächen der Gesundheitsprävention aufzufangen.

Es geht bei den Beispielen oft nicht darum, die Probleme zu negieren, deren Lösung der Strafverfolgung zugeschoben werden. Es geht um die Frage, wie wir Ressourcen sinnvoll einsetzen: Ist es nicht besser, mehr für Obdachlose und Drogenabhängige präventiv zu tun, statt teure Strukturen von Strafverfolgung und Justizvollzug auf sie zu verwenden? Ist es nicht sinnvoller, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte stärker dort einzusetzen, wo es um wirklich große gesellschaftliche Schäden durch systematische Wirtschaftskriminalität geht, statt sich mit den allerkleinsten Fischen zu beschäftigen? Grüne Rechtspolitik verfolgt hier einen integrierten Ansatz, der Fragen der Prävention einen mindestens so großen Stellenwert gibt wie der Repression.

 

Dr. Till Steffen Jahrgang 1973, studierte Jura an den Universitäten Mainz, Hamburg sowie Aberdeen und promovierte 2004 im Bereich des europäischen Naturschutzrechts. Seitdem arbeitet er als Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Verwaltungsrecht zuerst in der Kanzlei von Harten und seit 2008 als Partner bei der Sozietät elblaw Rechtsanwälte. Er war von 2008 bis 2010 und von 2015 bis 2020 Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg unter der Leitung von Ole von Beust, Christoph Ahlhaus, Olaf Scholz und Peter Tschentscher.

 

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