Publikationen / vorgänge / vorgänge 3/1999

Zur Vorstellung des Grund­rech­te-Re­ports 1999

Mir wurde die Aufgabe übertragen, Ihnen, meine Damen und Herren, in der Rolle des „ersten Lesers” den Grundrechte-Report 1999 vorzustellen – eine Dokumentation, in deren Vorwort die Herausgeber betonen, daß auch im Jahr 50 nach Inkrafttreten unserer Magna Charta die Bezeichnung Grundgesetz noch immer darauf verweise, daß wir zwar ein durch den Verweis auf unverzichtbare, jedem undemokratischen Zugriff nicht zugängliche Werte ausgezeichnetes Grund-Gesetz, aber keine von den Bürgern (utriusque generis) in Ost und West am Ende eines langen und freien Diskurses entworfene Gemein-Ordnung haben keine Verfassung, die, anders als jetzt, allen Rechts-Subjekten das Gefühl von „nostra res agitur” gäbe und ein Ende mache mit der verräterischen, auf Bevormundung und Abqualifikation verweisende Vokabel „Der Bürger draußen im Land”: Wenn’s Bonn nicht war, hat es Berlin künftig zu sein: keine feudale Metropole im Innern, sondern eine offene, jederman in gleicher Weise zugängliche Hauptstadt, die Liberalität, Toleranz und, dies vor allem, Gleichberechtigung zwischen Bürgern realisiert, die nicht länger willens sind, sich in Klassen zerteilen zu lassen.
Ein Stück Aufklärung ist nachzuholen, dessen Regeln nicht erst im achtzehnten Jahrhundert, sondern – im Europa von heute nachdrücklich zu betonen – viel früher, schon in altgriechischer Zeit, formuliert worden sind. Der von Goethe vielfach geehrte und von Nietzsche mit demokratiefieindlichem Ingrimm auf die Anklagebank versetzte Euripides war es, der in seinen Dramen darauf behairte, daß von Humanität in praxi erst dann gesprochen werden könne, wenn drei gesellschaftlich mächtige Prämissen außer Kraft gesetzt wurden: Zum ersten die Behauptung, daß der Einheimische eine höhere Würde beanspruchen dürfe als der Zu-gereiste – der Asylant, der Schutzsuchende, der
Waffenlose. Zum zweiten die These, daß Männer den Frauen im Staatswesen vorangestellt seien. Zum dritten das Axiom, daß von Natur aus die Freien den Abhängigen gebieten dürften, weil sonst in der Polis das Chaos herrsche.
Sehr fern scheint der Kampf eines einzelnen, couragierten und zudem wenig erfolgreichen Schriftstellers aus der Perspektive von heute zu sein, aber die Grundrecht-Reporte zeigen, daß die Auseinandersetzung mit den drei Zentralsätzen der Gegenaufklärung auch heute noch auf der Tagesordnung steht. Und deshalb mag es um der Beförderung von politischer Einsicht willen nützlich sein, über das Hier und Heute hinauszusehen, um sich derart des Beistands von Bürger= rechtlern zu versichern, die dank ihres beharrlichen Gegen-den- Strom-Schwimmens verdeutlichen, daß die Anwälte der Menschenrechte tat-sächlich auf Vordenker rekurrieren können, die allesamt nicht vergessen werden dürfen.
Gerade das Unbotmäßige will bewahrt, das im Zeichen einer Geschichtsschreibung der Sieger Abgetane und für obsolet Erklärte neu ins Blickfeld gerückt sein: Tot-Erklärungen sind zu revidieren, Sieger-Hochmut ist, mit Hilfe von gelassener Widersetzlichkeit, in seine Schranken zu verweisen. Wer zum Beispiel heute behauptet, der Sozialismus sei tot, lese Otto Wels‘ Rede gegen das Ermächtigungsgesetz, in der, im Namen der Menschlichkeit und des Sozialismus, dem Reichskanzler die Gefolgschaft versagt wird; wer erklärt, in der DDR seien, bis zu ihrem Ende hin, niemals wahrhaft demokratische Gegenentwürfe formuliert worden, mache sich mit dem Verfassungs-Entwurf des Runden Tisches bekannt, der heute nicht nur dank seiner von Christa Wolf formulierten Präambel aktueller denn je ist.
Kurzum, die Bürger-Komitees, die alljährlich ihren Grundrechte-Report publizieren, tun gut
daran, sich bei der Darstellung aktueller Probleme des Beistands von Vorläufern gerade dann zu versichern, wenn diese Anwälte einer allgemeinen gesellschaftlichen Demokratisierung mehr und mehr abgetan werden. Zu Unrecht. Schließlich kann man Geschichte auch einmal aus ungewohnter Perspektive betrachten, der Sichtweise von unten, wie sie — ein drittes und letztes historisches Beispiel — Georg Lukäcs die bei ihm Studierenden lehrte, als er sie aufforderte, ein Eisenbahnunglück aus konservativer Weltsicht heraus zu beschreiben: „Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen … wir beugen uns vor seinem Ratschluß, auch wenn wir ihn nicht verstehen; ein tragisches Geschick … ein unerforschliches Unglück …” „Und nun”, so Lukäcs, „analysieren Sie das Ganze noch einmal, aber jetzt aus der Sicht derer, die — der herrschenden Ideologie Paroli bietend — nach den profanen Ursachen fragen: dem Zustand der Schienen und der Übermüdung des ausgebeuteten Personals. Analysieren Sie die Höhe des Profits der durch Einsparungen erwirtschaftet wurde, und rücken Sie diejenigen ins Zentrum, die die Zeche bezahlen mußten.”
Drei Beispiele: Euripides, Europas erster Aufklärer, erzählt Geschichten, in denen sich das Verhältnis von Herr und Knecht, von Mann und Frau, von Text und Fußnote umkehrt; der runde Tisch formuliert einen Entwurf, der, das Heute mit dem Gestern konfrontierend, von deutscher Schuld und Schande und, daraus resultierend, von deutscher Verantwortung handelt, und Georg Lukäcs interpretiert, ebenso präzise wie witzig,
ein exercium materiale.
Drei Beispiele, die dem „ersten Leser” eingefallen sind, als er versuchte, jene Texte des Reports zu „historisieren”, die allesamt das eine gemeinsam haben: Sie schildern Vorkommnisse aus der Perspektive der Opfer und nicht der Täter, bleiben aber dabei nicht stehen, sondern verweisen in einem zweiten Zugriff auf Alternativen, zeigen Gegen-Modelle und rücken, gelegentlich mit Hilfe von Witz und List, immer aber im Bund mit aufrechten Gefährten, das „anders wär’s besser” ins Licht.
Im Hinblick auf Mißstände, deren Schilderung gerade wegen des unspektakulären Duktus dem Leser nicht selten den Atem stocken läßt,
wird Zivilcourage angemahnt. Dabei erinnert sich der gleiche Leser daran, daß es Bismarck war, der
den Begriff geprägt hat; in Friedrichsruhe ging es bisweilen eben auch aufklärerisch zu: auf der Straße bewähre sich Mut, nicht nur in der Schlacht.
Kurzum, wer den Report aufmerksam liest, befindet sich — darauf möchte ich in meiner knappen Präsentation mit Nachdruck verweisen — in interessanter Gesellschaft. Er hört den Achtundvierziger Theodor Fontane, wenn er den Satz bedenkt, daß Grundrechte nicht gewährt werden können (genauso hat der preußische Dichter gegenüber seiner Regierung argumentiert: Demokratische Rechte seien vom Volk zu erobern und ihm nicht huldreich zuzugestehen). Er sieht, wenn er von den Privilegien der Besitzenden und der Abhängigkeit der Besitzlosen liest, den großen Rudolf Virchow vor sich, der im Kaiserreiche die These vertrat, die lebendige Arbeit dürfe dem toten Kapital gegenüber nicht länger zweitrangig sein, eher ihm an Bedeutung voraus — und denkt er zugleich, Beispiel für Beispiel des Reports analysierend, an den Satz des großen sozial-demokratischen Rechtsgelehrten und Volkspädagogen Hermann Heller: „Entweder wird der liberale Rechtsstaat in den sozialen überführt, oder
man verzichtet eines Tages um der Erhaltung ökonomisch mächtiger Gruppen willen auf Rechtsstaat und Demokratie.” Und schon — wir sind bei einem schier unglaublichen Vorgang, den der Report berichtet, dem Fall des von Polizisten (die nachher freigesprochen wurden) nach Folterart geprügelten Journalisten Oliver Neß — schon betritt Kurt Tucholsky die Bühne, um die unheilige Allianz zwischen Polizei-Kameraderie und Justiz-Beistand anzuprangern.
Ich sag’s offen heraus: Die ständig mitbedachten Verweise auf die Meister von gestern waren für mich nicht nur hilfreich, sondern unabdingbar, um die nötige Distanz gegenüber den Beschreibungen von Tatbeständen zu wahren, die in ihrer Häufung zeigen, wieweit wir, im Detail, von einem Gemeinwesen entfernt sind, in dem Menschen- und Bürgerrechte sich mit schöner Selbstverständlichkeit in alltäglicher Praxis realisiert sehen. Wie groß ist, hüben, die Staats- und Wirtschaftsmacht, wie bescheiden, drüben, der Minderheitenschutz. Seite für Seite berichtet der Report, wie — der Bundesverteidigungsminister möge genau lesen! — Kriegsflüchtlinge aus dem Kosovo und jugoslawische Deserteure im Sozial-
amt so gut wie im Bannkreis der Justiz für Un-Personen erklärt werden … Menschen, denen — schon in der Aera der grün-roten Koalition! — an-gekündigt wird, die Versorgung mit Lebensmitteln, mit Obdach, mit Taschengeld und medizinischen Leistungen werde künftig eingestellt.
Der Leser hat zur Kenntnis zu nehmen, wie die Uberwachungstechniken ständig perfektioniert, die Spielräume humaner Privatheit geringer, die Rechte für Andersgläubige im aller-christlichen Staat immer mehr begrenzt („nimm gefälligst Dein Kopftuch ab, Lehrerin, du bist in Württemberg und nicht in Kurdistan!“), und die Nachstellungen von Jahr zu Jahr bedrohlicher werden: Taxifahrer werden inhaftiert, weil sie, ohne nach dem Woher und Wohin zu fragen, ausländisch wirkende Personen als Fahrgäste beförderten.
Ist das, fragt sich der Leser, wirklich ein durch und durch ziviles Land, dieses größere Deutschland, dessen Sachwalter Bürgerrechtler, aufmüpfige, fröhliche Leute (absonderlich gekleidet bisweilen, warum auch nicht?) argwöhnisch bis in die Intimsphäre verfolgen? Dieses ständige Mißtrauen von Seiten der Ämter, diese Gier nach Prävention um jeden Preis, diese Klas-
sifizierung der Sicherheit als eines vermeintli-
chen Grundrecht — und das in einem Augenblick, da die Alkohol- und Tabak-Lobby millionenfach gegen das Grundgesetz verstößt — entspricht das dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes? Sind das Praktiken eines Rechtstaates? Nein, vom Schutz sogenannter Minderheiten ist dort gewiß nicht zu reden, wo nicht nur die angeblich Randständigen, sondern auch Frauen — und das nicht nur in Bayern — eines solchen Schutzes bedürfen.
Verläßliche Rechtssicherheit aber kann es nur dort geben, wo Macht kontrolliert wird, wo Organisationen wie der BND ihre Karten offen auf den Tisch legen müssen, in die Schranken verwiesen vom Parlament; wo Ich und Du unsere Akten in Pullach so selbstverständlich einsehen können wie in der Gauck-Behörde; wo endlich die Anti-Terror-Gesetze und das Sonderrechtssystem im Umkreis des § 129 ad acta gelegt wird und wo — ein Beispiel am Ende, das für zigtausende steht — ein Mann, um dessen Einbürgerung bei Belassung seines russischen Passes, wir seit Jahren kämpfen — endlich sein Menschen-Recht erhält: Juri Elperin, Jude, Russe und Berliner, dreimal von Hitler vertrieben: aus Deutschland, aus Paris und aus Moskau; ein Publizist von Rang und als Übersetzer Vermittler zwischen den Völkern, von dem gnadenlose Behörden heute verlangen, er müsse sich um Entlassung aus der russischen Staatsbürgerschaft bemühen, eher könne er hier nicht als Gleichberechtigter leben. Doch eben jene Forderung kann Elperin nicht erfüllen: der Zwang, im Rußland des Jahres 1999 nur als Ausländer leben zu dürfen, mit allen Erschwernissen im Zugang zu Archiven und Bibliotheken, würde das Ende seiner Erwerbstätigkeit bedeuten. Als Deutscher müßte er der Sozialversicherung zur Last fallen.
Und damit wären wir dann — mit dem Bürgerrechtler Euripides beginnend — am Ende, dem Zentrum langsam näherrückend, angekommen bei einem Mann, der versucht, sein Menschen-Recht in einem Land zu erlangen, das stolz dar-auf ist, daß es — nach Überwindung der Barbarei, eben diese Rechte großherzig, liberal und tolerant beschützt. Warum, wird Juri Elperin fragen, handelt er in meinem Fall gegen seine Prinzipien? Bin ich etwa nicht der einzige, dem gegenüber diese auf dem Papier so eindrucksvollen Prinzipien in der Realität außer Kraft gesetzt werden?
Juri Elperin — der eine Gerechte zumindest — sollte sehr bald von seiner Furcht befreit werden. Es ist nicht mehr viel Zeit — nicht für ihn, und auch für viele andere nicht, deren Verbannung in ein Dunkel ohne Recht und Humanität der Report, den vorzustellen ich die Ehre hatte, nüchtern, resignativ (wie wenig hat sich geändert in der Frage der Menschenrechte, die doch auch den Asylanten während ihrer Abschiebehaft von Kanther bis Schily!), aber gleichwohl, wie sich’s gebührt, couragiert und von Verläßlichkeit be-
stimmt: Wir sind auch noch da, auf uns kann man
zählen, gerade in düsteren Tagen, wir verzagen
nicht, heißt die Grundmaxime dieses Reports.
Trotz alledem und alledem.

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