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Jugend­schutz durch Tabui­sie­rung

vorgängevorgänge 4-196401/1970Seite 153 - 154

Aus: vorgänge Heft 4/1964, S. 153 – 154

In „Jugendschutz“ Nr. 5/63, dem Organ der „Aktion Jugendschutz“ stellt Dr. jur. Arthur Neupert aus Uetersen/Holst., der bereits als Autor einer vom Volkswartbund herausgegebenen Broschüre bekannt ist, neue Verbotsforderungen, u. a.: Verbot von Aufsätzen und Anzeigen, welche die Darstellung oder Empfehlung von empfängnisverhütenden Mitteln oder Methoden zum Gegenstand haben, in nicht fachwissenschaftlichen Zeitungen und Zeitschriften; Verbot der ärztlichen Verordnung von Anti-Baby-Mitteln an Unverheiratete; Verbot aller Präservativ-Automaten; Bestrafung einer Verächtlichmachung von Ehe, Familie und Elternschaft in der Öffentlichkeit.

Diese Forderungen begründet Dr. Neupert im wesentlichen damit, das Thema „Geburtenregelung“ sei in der neuesten Zeit in einer außerordentlich verzweigten Publikation, vor allem auch in Illustrierten, mit sensationeller Aufmachung in einer Weise erörtert worden, welche geeignet sei, die öffentliche Meinung irrezuführen, da wir nicht an einer Übervölkerung leiden, sondern an Mangel an Nachwuchskräften in allen Berufen. Selbst wenn Geburtenregelung für uns ein akutes Problem wäre, gebe es zahlreiche andere Möglichkeiten, Mittel zur Empfängnisverhütung zu erlangen, durch den Kauf im Laden oder bei einem Versandhaus oder durch Beschreitung des Weges zum Arzt. Durch die Erleichterung der Beschaffung von empfängnisverhütenden Mitteln werde der unzüchtige Verkehr auf das stärkste gefördert. Die Jugendverführung durch Schutzmittelautomaten sei umso verwerflicher, weil sich hierauf ein Erwerb gründet; der Automat sei der große gewerbsmäßige Mittler der Kuppelei.

Der Aufsatz von Dr. Neupert erwähnt als Hauptgrund der Geburtenregelung bevölkerungspolitische Erwägungen. Diese spielen jedoch nur eine untergeordnete Rolle neben der im Vordergrund stehenden Tatsache, daß die Zahl der Abtreibungen in der Bundesrepublik auf jährlich ein bis zwei Millionen geschätzt werden. Der Hamburger Arzt Dr. Suhr hat allein 200 Abtreibungen binnen vier Jahre zugegeben. Da sich hinter diesen Zahlen ein unermeßliches menschliches, gesundheitliches und soziales Elend verbirgt und eine unvorstellbare seelische Not und Gefährdung entsprechend vieler Ehen dahintersteht, ist Aufklärung über Methoden der Geburtenregelung und die Zugänglichmachung ihrer Mittel in möglichst wirksamer Weise ein dringendes Gebot der Vernunft. Sie ist darüberhinaus nach einmütiger Ansicht der Fachwissenschaft der wirksamste Weg zur Bekämpfung der Abtreibung. Zu dieser Notwendigkeit der Geburtenregelung steht der Nachteil der Gefährdung Jugendlicher durch die Besitzerlangung von Schutzmitteln in einzelnen Fällen in keinem Verhältnis.

Die sexuelle Neugier Jugendlicher kann nach einmütiger Auffassung der heutigen Sexualpädagogik in keiner Weise durch das Verschweigen geschlechtlicher Dinge bekämpft werden, sie muß vielmehr durch eine sachgerechte Aufklärung befriedigt werden. Es ist daher falsch und irreführend, wenn Dr. Neupert meint, es sei Erziehungspflicht der Eltern, ihre Kinder von der Kenntnis geschlechtsbezogener Dinge zu bewahren und es bliebe ihnen vorbehalten, ob sie zur Zeit der Adoleszenz hierüber aufklärend sprechen wollen. Eine solche Aufklärung kommt in jedem Falle zu spät und das Schweigen der Eltern verursacht lediglich, daß sich das Kind seine Aufklärung auf der Straße in einer meist obszönen Art selbst besorgt. Nach Auffassung aller namhaften Sexualpädagogen ist jedes Kind für die Beantwortung einer Frage dann reif, wenn es diese Frage stellt und es ist das einzig richtige, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. Das gilt auch in Bezug auf Mittel der Geburtenregelung (vgl. hierzu z. B. Seelmann „Kind, Sexualität und Erziehung“ oder Ockel „Sag es Deinem Kinde“). Es ist bekannt, daß viele Eltern bei dieser Erziehungsaufgabe aus falscher Scham oder Prüderie versagen und damit die Ursache dazu setzen, daß ihre Kinder eine falsche Aufklärung oder falsche sittliche Vorstellungen bekommen. In einigen Ländern wurde bereits damit begonnen, diese Erziehungsaufgabe der Schule zu übertragen, aber diese Entwicklung steckt noch in den Anfängen.

Wenn nun die Presse durch sachliche Berichte über dieses Thema zur Volksaufklärung im weitesten Sinne beiträgt, so ist das nicht zu tadeln, sondern zu begrüßen. Es ist schließlich u. a. ihre Aufgabe, die Erkenntnisse der Fachwissenschaft in allgemein verständlicher Form breitesten Volkskreisen zu vermitteln. Jugendgefährdung entsteht jedoch nicht durch die Aufklärung über das menschliche Intimleben, sondern allenfalls durch eine falsche oder zu späte Aufklärung oder erst recht durch dessen Tabuierung.

Der diesjährige deutsche Arztekongreß in Berlin widmete der Frage der Geburtenregelung eine besondere Veranstaltung. Dabei kam zutage, daß breiteste Kreise ein erschreckend geringes Wissen um und über die Geburtenregelung haben. Die sehr interessanten Ausführungen der dort anwesenden namhaften Fachwissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, daß es eine dringende soziale Notwendigkeit ist, die Möglichkeit einer möglichst wirksamen und leicht zugänglichen Aufklärung über die Geburtenregelung zu schaffen. Wir wissen, daß nur wenige Ärzte in ihrer Praxis die Zeit finden, sich dieser Frage zu widmen.

Wenn man sich die Forderung des Verbots der ärztlichen Verschreibung dieser Mittel an Unverheiratete vor Augen hält, so fragt man sich, was das noch mit dem Schutz der Jugend zu tun hat. Erst recht verwunderlich ist die Forderung der Bestrafung einer „Verächtlichmachung“ von Ehe, Familie und Elternschaft in der Öffentlichkeit. Welches Bedürfnis soll für einen derartigen Straftatbestand bestehen? Wann wurden diese Institutionen jemals öffentlich verächtlich gemacht? Hier drängt sich der Verdacht auf, daß mit dem Begriff „Verächtlichmachung“ wieder einer jener Gummibegriffe eingeführt werden soll, an denen unser Strafgesetzbuch ohnehin schon mehr als genug leidet und die nur dazu dienen können, subjektive Meinungen gewisser Gruppen zu fördern und diejenigen anderer Gruppen zu unterdrücken, wenn nicht gar „unerwünschte“ sachliche Sozialkritik einzuschränken.

Die Gefährdung unserer Demokratie durch eine derartige Einschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit scheint jedoch entschieden bedrohlicher zu sein, als die vermeintliche Gefährdung der Jugend durch die Existenz eines Automaten für Schutzmittel oder eines Presseberichts über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Geburtenregelung.

Es wäre deshalb dringend notwendig, daß der Jugendschutz aufhört, ein Tummelplatz skurriler Verbotsfanatiker zu sein und in größerem Maße in die Hände fachlich qualifizierter Persönlichkeiten gelangt, die Verbotsnormen nur dort fordern, wo sie wissenschaftlich begründet und rein sachlich gerechtfertigt sind. Erforderlich wäre dazu freilich vorerst eine solide Erforschung der wissenschaftlichen Grundlagen eines sinnvollen literarischen Jugendschutzes, für die bisher kaum Mittel bereitstehen. In welchem Verhältnis dazu stehen die Aufwendungen für so manche Aktionen und Institutionen auf diesem Gebiet, die mit ideologischer Motivierung wirken und mehr der Einschränkung demokratischer Freiheiten als allem anderen dienen?

Adolf Holzmüller

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