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Was ist “unzüchtig”?

Aus: vorgänge Heft 4-5/1962, S. 8- 11

Der deutsche Jurist kennt nicht wie sein angelsächsischer Kollege den Begriff des „Obszönen“. In unser geliebtes Deutsch übertragen heißt der ominöse Begriff „unzüchtig“. Nach dem bestehenden Recht können Schriften und Abbildungen unzüchtig sein, Nach dem jüngsten Entwurf eines Strafgesetzbuches sollen zwecks Lückenfüllung noch „Schausteilungen von Menschen“ hinzutreten, wozu „Tanzvorführungen, namentlich Entkleidungstänze, Laufstegdarbietungen und ähnliche – als Verfallserscheinungen bezeichnete – Vorführungen“ gerechnet werden. Es wird auch „von einem gewissen kriminalpolitischen Bedürfnis“ gesprochen, „Vermittlungen eines geistigen Inhalts, insbesondere die Darstellung einer Handlung oder von Kunstfertigkeiten“ einzubeziehen. Die Bundesregierung versagt sich jedoch vorläufig, das „gewisse kriminalpolitische Bedürfnis“ zu befriedigen; immerhin, die Tür ist angelehnt.

Nach feststehender Rechtsprechung liegt Unzüchtigkeit vor, „wenn Schriften geeignet sind, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl eines normalen Menschen in geschlechtlicher Beziehung zu verletzen“(Bundesgerichtshof Strafsachen 5,346).

Hier ist fast jedes Wort problematisch „Gefühl“ ist alle Name ist Schall und Rauch, Man schämt sich, und im schlimmsten Fall steigt einem die Schamröte ins Gesicht, wenn man etwas Unanständiges tut. Nichts ist leichter als dem zu entgehen. Niemand ist verpflichtet, das Theater mit einer „Reigen“-Aufführung zu besuchen oder den „Ulyssee“ zu lesen, Man braucht auch keine „Magazine“ zu kaufen. Notfalls kann man wegsehen, was auch sonst im Leben häufig genug geschieht, z. B. bei blutigen Unfällen oder menschlicher Not. Da die Neugierigen kein Schamgefühl haben, interessieren sie den Staat nicht. Deswegen wird auf „den normalen Menschen“ zurückgegriffen.

„Normal“ ist ein verfängliches Wort. Norm kann der statistische Durchschnitt sein, der heutzutage bequem demoskopisch festgestellt werden könnte. Die sexuelle „Kollektivscham“ ist aber noch nie und nirgends zu ermitteln versucht worden. Norm bedeutet aber auch – ganz im Gegensatz zu dem, was statistisch feststellbar ist – ein „Sollen“. Die Eierschalen dieser fundamentalen Unklarheit schleppt die Rechtspraxis begreiflicherweise. gerne mit sich herum. Es ist völlig unklar, welche Eigenschaften „der normale Mensch“ besitzt.

Mit dem Wortschwall „geeignet, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl eines normalen Menschen in geschlechtlicher Beziehung zu verletzen“ ist die Gefährdung eines sexuellen Tabus gemeint. Die sexuellen Tabus sind uralt, sie verlieren sich in die Frühzeit der Menschheit. Sie waren schon damals von Clan zu Clan oft radikal verschieden, haben sich aber bei der strengen Traditionshaltung des primitiven Menschen unangefochten erhalten. Ihre Entstehung und ihr Sinn gibt uns unlösbare Rätsel auf. Die tradierten Sexualtabus variieren heute mehr denn je. Mit der wachsenden Entzauberung und Säkularisierung der Welt sind ihre Konturen verschwommen; sie sind dem rationalen Menschen von heute nicht mehr selbstverständlich; sie sind fragwürdig geworden.

In der gerichtlichen Praxis des Alltags ist der Richter auf sich selber angewiesen. Er wird sein “Schamgefühl“ mit dem des „normalen Menschen“ identifizieren. „Du gleichst dem Geist, den du begreifst.“ Da aber auch der unabhängige Richter häufig von vielen Imponderabilien abhängig und außengeleitet ist, paßt, er sich zudem den wirklichen oder vermeintlichen Vorstellungen von einem idealen Richter an.

Das Verbot unzüchtiger Schriften entstammt dem Strafgesetzbuch von 1870. Die Weimarer Verfassung war um eine Einschränkung vergeblich bemüht. In ihrem Kielwasser bestimmt heute unser Grundgesetz: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Im Gegensatz zur Meinungs- und Pressefreiheit findet die Freiheit von Kunst und Wissenschaft nicht ihre Schranke in den allgemeinen Gesetzen, dem Jugendschutz und dem Recht der persönlichen Ehre. Der weltanschauliche Kampf wird jetzt um den Begriff „Kunst“ geführt.

Es gibt wohl kaum eine positive Bestimmung dessen, was Kunst schlechthin ist. Weder der Kunsttheorie noch dem Recht ist es bisher gelungen, Kunst zu definieren. Wir können nur sagen, worauf es nicht ankommt. Kunst kann naturalistisch sein, realistisch, surrealistisch, symbolisch, idealistisch; sie ist Form oder Deformation. Die Geschichte der Kunst läßt einen ständigen Wechsel der Formensprache erkennen. Inhaltlich ist ihr nichts Menschliches und damit Unmenschliches fremd; sie dient nicht „dem Schönen“, sondern wie die Wissenschaft und die Lehre dem Wahren, was im Schönen und im Häßlichen, im Gesunden und im Kranken usw. gesehen werden kann. Was Gegenstand von Wissenschaft und Lehre ist, ist auch ein Thema der Kunst. Sie ist rational und irrational; sie kennt Seele und Leib, sie weiß um das Tag- und Nachtträumen der Menschen, vielleicht ist sie selbst als ein formulierter Traum zu definieren, der auch sex und crime, Schmutz und Schund, kitschige Sehnsucht und dämonische Erfüllung zum Inhalt haben mag.

Freiheit der Kunst meint Pluralismus von Gehalt und Gestalt. Das Oberverwaltungsgericht Münster(Juristenzeitung 1959, 716)hat anläßlich der Indizierung des Buches „Meine 99 Bräute“ sich gegen den Verfasser Sommer gewandt, weil er leugne, daß ‚Schuld und Unrecht dem Inneren der Persönlichkeit entspringe, vielmehr, die. Auffassung vertrete, es seien Vorgänge, die von außen an den handelnden Menschen heranträten. Diese Tendenz sei in hohem Maße jugendgefährdend, weil sie dem Bestreben des modernen Menschen entgegenkomme, eigene Verantwortung für seine Handlungen zu leugnen. Der Gehalt sei deswegen objektiv wahrheitswidrig usw. Dieses für die Bundesrepublik symptomatische, ja tonangebende Urteil ist in allen Richtungen falsch und grundgesetzwidrig. Konsequenterweise müßte das Gericht die antiken Tragödien, die späteren Schicksalstragödien Schillers, psychoanalytische Literatur usw. usw. verbieten; übrig blieben nur Thomas von Aquino und diejenigen, die ihn säkularisiert haben. Nach dem Grundgesetz hat aber keine Weltanschauung ein Monopol; Grenzen mögen durch die Treue gegenüber der Verfassung gesetzt werden, die aber das Gericht selbst gründlichst vernachlässigt haben dürfte. Die grundsätzliche Frage eines weltlichen Staates, wie ihn die Bundesrepublik darstellt, kann einzig und allein lauten: Ist sexuelle Askese, wie sie dem Bemühen zugrunde liegt, den Bezug sexueller Literatur durch die an ihr Interessierten zu verhindern,sozialfordernd und sozialnotwendig?

Der Stellenwert der pornographischen Literatur in der Rangfolge kriminellen Sexualverhaltens wird gerne verkannt. Sexus und Eros meinen ein Ich und Du, ein Wir. Aus tausenderlei Gründen biologischer, psychologischer und soziologischer Art kann dieses Wir verfehlt werden. Es gibt Ersatzformen, z. B. die Prostitution, den Bezug pornographischer Literatur, den fetischistischen Mißbrauch von Objekten, die Symbolsexualität, den Exhibitionismus, den Mißbrauch von Kindern, die Notzucht, ja letztlich den Sexualmord. In so gut wie allen Fällen geht es hier nicht um Sexualverhalten, die zu einem normalen hinzutreten, etwa um Erscheinungsformen einer Hypersexualität; in Wirklichkeit sind es Surrogate aus Not. Pornographische Literatur stellt gewiß noch einen der ungefährlichsten Blitzableiter dar, und eine Diskussion muß sich auch gerade dieses Für und Wider deutlich bewußt bleiben.

Der Jurist hat zu fragen: was wissen wir von dem Einfluß pornographischer Literatur auf menschliches Verhalten? Die Antwort kann nur lauten: nicht viel. Gründliche Untersuchungen im Stile des Kinsey-Reports sind Voraussetzung für eine intelligente Debatte.

Untersuchungen in bescheidenem Rahmen gibt es. Davis fragte 1929 in den USA 1200 Mädchen im Alter von 17 – 20 Jhr. nach ihren sexuellen Stimuli. 800 nannten eine Kombination vielfältiger Ursachen, 400 wußten von einem einzigen Reiz, über die Hälfte von ihnen schrieb: „ein Mann“. 95 sprachen von Büchern als dem einzigen Anreiz. Unter den 800, die verschiedene Reize addierten, nannten 300 u. a. auch ihre Lektüre. Das verwegenste Buch dürfte Lawrences „Söhne und Liebhaber“ gewesen sein; gleich daneben aber steht „Das Hohe Lied“. Als erogen wurde der Hinweis auf Küsse, die Darstellung glücklicher Ehen, auch gut gebauter Männer in Romanen und vor allem auch Zeitungen vermerkt. Den ersten „Sexualunterricht“ bezogen 72 der Mädchen aus Büchern; an der Spitze steht die Bibel, dann folgt das Lexikon. Ähnlich ist es uns allen ergangen.

Jahoda (New York University’s Research Center for Human Pelatians) faßte eine Untersuchung wie folgt zusammen: „Personen, die für eine ausgedehnte Zensur von Druckschriften eintreten, argumentieren mit der Annahme, daß Literatur mit Sex, mit Gewalt und Brutalität als Inhalt zu antisozialen Aktionen, speziell zur Jugendkriminalität führe … Es gibt keinen Untersuchungsbefund, der diese Annahme bestätigte oder widerlegte. Jugendliche Delinquenten lesen als Gruppe weniger und mit größerer Mühe als Nichtdelinquenten. Die Tagespresse, Fernsehen., Radio, Film, Bücher, comics sind Teile des sog. „schlechten“ Stoffs. Es ist unmöglich, den Einfluß der einzelnen Faktoren, die alle auf eine Bevölkerung einwirken, zu isolieren. In der Regel interessieren sich die Leute nicht für alles, was ihnen geboten wird, sondern nur für das, was mit ihren bereits vorhandenen Neigungen übereinstimmt“.

In USA verweist man gerne etwa auf New Mexico, das keinerlei Gesetzesbestimmungen gegen obszöne Literatur besitzt. Sind dort die Verhältnisse besser oder schlechter? Besteht überhaupt kein Unterschied, weil wir allzumal Adams und Evas sind, sei es mit bedrucktem Papier., sei es ohne? Apfel wird es immer geben, und es bedarf wohl keines Schlangenrats, um sie köstlich zu finden.

(Wir verweisen auf die Beiträge über die Bundesprüfstelle für jugend.-gefährdende Schriften und den Volkswartbund)

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