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Die Neuvorlage des Notstand­s­ent­wurfs

vorgängevorgänge 5/196505/1970Seite 194- 196

Aus: vorgänge Heft5/ 1965, S. 194- 196

 Nach nahezu 26 Monaten Beratungszeit hat der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages einen neugefaßten Entwurf zu einem verfassungsändernden Notstandsgesetz vorgelegt. Es kann nun geprüft werden, was das Ergebnis von über zweijähriger Beratung und über den Bundestag und die Parteien hinausgehender Diskussion der Notstandsfrage in der Öffentlichkeit ist. Der Rechtsausschuß des Bundestages hatte sich zuletzt gegen die öffentliche abgeschirmt, indem er seine Beratungen geheim hielt. Von den Diskussionen in diesem Ausschuß erfuhr die Öffentlichkeit höchstens durch gelegentliche Äußerungen von Abgeordneten; denn entgegen der sonst üblichen Praxis stehen die Protokolle weder den Bundestagsabgeordneten, die dem Rechtsausschuß nicht angehören, noch Universitätsinstituten zur wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung. Schon diese ungewöhnliche Handhabung ist Grund genug, den neuen Entwurf kritisch zu prüfen. Die dem Neuentwurf zur Grundlage dienende Vorlage von Innenminister Höcherl war in dieser Zeitschrift mehrfach Gegenstand von Erörterungen (vg 1963: S. 1, 283, 325, 337; 1964: S. 323, 337; 1965: S. 26, 101). Die Erörterung des Neuentwurfs wird zeigen, wieweit auch die Neuvorlage wieder die gefährlichen Bestimmungen enthält, die Gegenstand der gründlichen öffentlichen Kritik an der höcherlschen Vorlage waren.

Die Vorlage des Rechtsausschusses beruht auf Mehrheitsentscheidungen. Die Vertreter der SPD wurden in wesentlichen Punkten, in denen sich die Partei öffentlich festgelegt hat, von der Regierungsmehrheit überstimmt. Das geschah — wie wir aus Äußerungen der Beteiligten wissen — beispielsweise bei der Frage der Verkündung des Zustandes der äußeren Gefahr durch den Bundespräsidenten, beim Notverordnungsrecht, bei der Frage, welche Mehrheiten entscheiden sollen, bei der Frage des Verhältnisses der Mitglieder des Bundestages zu den Mitgliedern des Bundesrates im Notparlament und bei der Frage der Sicherung der Meinungsfreiheit und des Rechtes zur Verfassungsbeschwerde. Da der Bundestag und der Bundesrat ein Notstandsverfassungsgesetz nur mit einer Zweidrittelmehrheit, das heißt mit Zustimmung der SPD, verabschieden können, zeigt die Vorlage des Rechtsausschusses nur bedingt die Struktur der geplanten Verfassungsänderung. Der neue Entwurf kann jedoch dann die Grundlage für eine dem gegenwärtigen Stand der Beratungen wirklich Rechnung tragende Kritik sein, wenn diese Kritik zugleich die Forderung berücksichtigt, die Fritz Erler im Namen der SPD auf dem Karlsruher Parteitag vorgetragen hat. Der Entwurf kann auch deshalb nicht als völlig unverbindlich abgetan werden, weil nicht auszuschließen ist, daß die SPD bei den angekündigten Spitzengesprächen in einigen Fragen Zugeständnisse auf der Basis der gegenwärtigen Vorlage macht.

In dem von etwa 1300 Hochschullehrern, Schriftstellern und Juristen um die Jahreswende an den Bundestag gerichteten Appell der Humanistischen Union zu den Notstandsgesetzen hieß es: „Sie schaffen die Gefahr eines Staatsstreiches von oben. Der Verfassungsbruch würde durch derart weitgehende Sondervollmachten erleichtert, eine stufenweise Durchbrechung unserer demokratischen Verfassungsordnung könnte durch sie erleichtert werden.” Wir haben nach den geschichtlichen Erfahrungen mit der Handhabung von Notstandsbestimmungen zu solchem Mißtrauen Grund. Deshalb sollten auch diejenigen, die — vielleicht trotz mancher Vorbehalte — das Grundgesetz ändern wollen, folgende Gefahren des jetzt vorgelegten Entwurfes bedenken:

1. Die Vorlage der Regierungsmehrheit des Rechtsausschusses macht in entscheidenden Fragen die Exekutive zum Herrn über den Ausnahmezustand:

Der Bundespräsident kann — allerdings nur subsidär — mit Gegenzeichnung des Bundeskanzlers feststellen, daß der Zustand der äußeren Gefahr eingetreten ist. Die Bundesregierung kann den Eintritt eines Notstandsfalles selbständig feststellen, soweit es dabei um die Anordnung von Alarmstufen, um eine Gesamtmobilmachung und um das Inkraftsetzen von in Normalzeiten erlassenen Notstandsgesetzen geht, deren Anwendung jedoch einen Beschluß voraussetzt, daß sie den „Umständen nach dringend erforderlich” ist. Auch beim inneren Notstand besitzt die Bundesregierung das Recht zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des inneren Notstandes vorliegen und ob von den für diesen Fall vorgesehenen Befugnissen Gebrauch gemacht werden soll.

Das verstößt gegen das grundsätzliche Kriterium rechtsstaatlicher Notstandsregelungen, daß derjenige, der im Notstandsfall Ausnahmebefugnisse erhält, nicht zugleich das Recht besitzen darf, den Notstandsfall, das heißt die Voraussetzung für diesen Machtzuwachs, zu erklären.

2. Die Ausschußvorlage macht eine unbefristete Erklärung des Notstandes möglich:

Es ist weder bei der Proklamation des Zustandes der äußeren Gefahr noch bei den anderen Fällen des Notstandes ein Zwang vorgesehen, die Verkündung des Notstandes auf eine bestimmte Zeitspanne zu befristen. Es ist auch kein Zwang gesetzt, nach Ablauf einer bestimmten Frist die Proklamation zu erneuern. Das vorgesehene Außerkrafttreten von Notgesetzen und Notverordnungen nach Ablauf von sechs Monaten kann diesen Mangel nicht ersetzen, zumal sie jederzeit erneuert werden können.

Das verstößt gegen das Prinzip eines verfassungsmäßig begrenzten Ausnahmerechtes, das die Festsetzung einer bestimmten Dauer des Ausnahmezustandes verlangt. Selbst eine weitgehende Kontrolle des Ausnahmezustandes durch parlamentarische Gremien kann die Notwendigkeit einer zeitlichen Befristung des Notstandsfalles, wie sie bereits die Verfassung der römischen Republik zwingend gebot, nicht ersetzen.

3. Die Vorlage der Regierungsmehrheit des Rechtsausschusses macht die Bundesregierung zum zweiten Gesetzgeber:

Die Bundesregierung kann im Ernstfall Notverordnungen erlassen, wenn sie dazu ermächtigt worden ist oder „wenn die Lage unabweisbar sofortiges Handeln erfordert”. Außerdem sind im Rahmen der „einfachen” Notstandsgesetze weitere umfangreiche Befugnisse für die Bundesregierung oder für einzelne Bundesminister vorgesehen, Rechtsverordnungen verabschieden zu können.

Die Befugnis entspricht in wesentlichen Zügen der verhängnisvollen Praxis mit Artikel 48 am Ende der Weimarer Republik. Sie widerspricht unter anderem auch der Forderung, es

sei zu garantieren, daß im Notstandsfall nicht eine an der Macht befindliche Gruppe oder Partei die Mittel der Exekutive zur Unterdrückung der anderen ausnutzen kann.

4. Die Vorlage der Regierungsmehrheit im Rechtsausschuß macht im Notstandsfall eine Ausschaltung der parlamentarischen Opposition durch die Regierungsmehrheit selbst auf parlamentarischem Wege möglich:

Die Institution des Notparlamentes kann dazu führen, daß die Mehrheitsverhältnisse in diesem Gremium wesentlich verändert werden und daß eine Partei in diesem Ersatzparlament die absolute Mehrheit besitzt, über die sie im Bundestag oder Bundesrat nicht verfügt. Eine solche Mehrheit könnte sich — solange nicht für alle wesentlichen Entscheidungen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist — bei der Proklamation des Notstandes, beim Erlaß von Notgesetzen, bei der Wahl eines neuen Bundeskanzlers oder Bundespräsidenten und beim Einsatz der Streitkräfte im Innern mit der Waffe über jeden Einwand einer parlamentarischen Opposition hinwegsetzen. Da die Sitzungen des Notparlamentes nicht öffentlich sind, könnte eine Regierungsmehrheit der Opposition im Notparlament somit ihre Operationsbasis nehmen.

Die vorgesehene einfache Mehrheit in den parlamentarischen Gremien zwingt die Regierungsmehrheit nicht, für alle Notstandsmaßnahmen eine möglichst breite Basis zu suchen. Die parlamentarische Opposition ist ohne Zweidrittelmehrheit und ohne zeitliche Befristung des Ausnahmezustandes nicht in der Lage, einen Mißbrauch der Notstandsbefugnisse durch die Mehrheit des parlamentarischen Notstandsorgans zu verhindern und eine Aufhebung eines mißbräuchlich aufrechterhaltenen Zustandes der äußeren Gefahr oder eines anderen Notstandsfalles durchzusetzen.

5. Die Vorlage der Regierungsmehrheit des Rechtsausschusses macht es möglich, die Länder im Notstandsfall gleichzuschalten und die Proklamation eines Notstandes sowie Notgesetze und Notstandsmaßnahmen sogar gegen den ausdrücklichen Willen des Bundesrates aufrechtzuerhalten:

Ein funktionsfähiger Bundesrat kann bereits bei funktionsunfähigem Bundestag durch das Notparlament ausgeschaltet werden. Im Notparlament können die Vertreter des Bundesrates (bei der von der Regierungsmehrheit angestrebten Zusammensetzung im Verhältnis von 22 Bundestagsabgeordneten und 11 Mitgliedern des Bundesrates) von den Bundestagsabgeordneten majorisiert werden. Der Bundesrat besitzt nicht die Befugnis, den Zustand der äußeren Gefahr und die auf seiner Grundlage getroffenen Maßnahmen aufzuheben. Der Bund erhält dagegen im Zustand der äußeren Gefahr das Recht der Gesetzgebung auch auf Sachgebieten, die sonst zur Zuständigkeit der Länder gehören. Die Bundesregierung kann den Landesregierungen und — „wenn sie es für dringlich erachtet” — den Landesbehörden in allen die Abwehr der Gefahr betreffenden Angelegenheiten Weisungen erteilen und diese Befugnis auf von ihr zu bestimmende Behörden oder auf Beauftragte übertragen.

Das widerspricht dem gemäß Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes unantastbaren Grundsatz des bundesstaatlichen Aufbaus, der auch im Notstandsfall nicht in dieser Weise suspendiert werden darf. Die Befugnisse der Länder könnten nach dieser Vorlage unter Berufung auf einen Notstand erstickt werden.

6. Die Vorlage der Regierungsmehrheit des Rechtsausschusses ermöglicht es, jede öffentliche Meinung im Zustand der äußeren Gefahr mundtot zu machen:

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit kann im Zustand der äußeren Gefahr eingeschränkt werden, „soweit es sich um die Verbreitung und Veröffentlichung von Nachrichten handelt, die die äußere oder innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines mit ihr verbündeten Staates betreffen, oder die geeignet sind, zur Abwehr der Gefahr erforderliche Maßnahmen zu stören”. Die vorgesehene Vorschrift schafft eine Generalklausel, durch die im Notstandsfall alle wichtigen Nachrichten unterdrückt werden können. Es ist sogar denkbar, daß auf Grund dieser Bestimmung auch Kommentare, die ja immer auf Nachrichten Bezug nehmen müssen, verboten werden. — Die Meinungsfreiheit kann ferner durch die Einsetzung von Kommissaren bei den Rundfunk- und Fernsehanstalten, durch Dienstverpflichtungen und durch Papierzuteilungen beschnitten werden.

Das widerspricht der Stellung, die der öffentlichen Meinung im demokratischen Rechtsstaat zukommt sowie der Forderung, es müsse garantiert sein, daß die Notstandsbefugnisse nicht zur Drosselung der Freiheit der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens und der Sicherung der freien Meinungsäußerung eingesetzt werden können.

7. Die Ausschußvorlage macht eine Zwangsverpflichtung der Arbeitnehmer und damit zugleich einschneidende Eingriffe in die Kampfmittel der Gewerkschaften „für Zwecke der Verteidigung” möglich:

Durch die vorgesehene Änderung des Artikel 12 Abs. 2 des Grundgesetzes und durch das Zivildienstgesetz kann das Recht des Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz frei zu wählen

und zu wechseln aufgehoben werden. Das bedeutet für die Zivildienstverpflichteten ein Außerkrafttreten des Streikrechts und kann damit zu einer Ausschaltung der Gewerkschaften als eines gesellschaftlichen und politischen Faktors führen. Die als Voraussetzung einer Dienstverpflichtung vorgesehene Formulierung „für Zwecke der Verteidigung” schließt nicht einmal eindeutig aus, daß nicht bereits in Normalzeiten ein Streik durch mißbräuchliche Dienstverpflichtungen zerschlagen wird. Diese Gefahr wird dadurch verstärkt, daß nach dem vorgesehenen Artikel 91 Abs. 3 die Versammlungsfreiheit und die Freizügigkeit auch ohne ausdrückliche Proklamation des Notstandsfalles über das „sonst zulässige Maß hinaus eingeschränkt” werden kann, Gewerkschaftsversammlungen also verboten werden können. Eine Verfassungsbestimmung, durch die ausdrücklich festgestellt wird, daß Arbeitskämpfe „keine Störung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Bundes oder eines Landes” darstellen, schließt eine Zivildienstverpflichtung „für Zwecke der Verteidigung” nicht aus.

Eine allgemeine Dienstverpflichtung hebt die 1949 bewußt getroffene verfassungsgestaltende Grundentscheidung wieder auf, die eine Rückkehr zu der zwischen 1933 und 1945 üblichen Praxis ausschließen sollte. Sie widerspricht der Rolle der Gewerkschaften im sozialen Rechtsstaat und steht im Widerspruch zu der Forderung, bei der Notstandsgesetzgebung müsse eine Einschränkung oder Drosselung der demokratischen Grundrechte im gewerkschaftlichen und betrieblichen Bereich unter dem Vorwand des Notstandes ausgeschlossen werden.

8. Die Ausschußvorlage macht es der Exekutive möglich, die Bundeswehr — ohne dazu ausdrücklich von einem parlamentarischen Gremium ermächtigt worden zu sein — im Innern mit der Waffe einzusetzen und zu innenpolitischen Zwecken zu mißbrauchen: Die Streitkräfte können nicht nur für polizeiliche Aufgaben eingesetzt werden, sondern auch im Innern „mit der Waffe”. Die Entscheidung darüber liegt in der Hand der Bundesregierung; denn wenn ein solcher Einsatz überhaupt akut wird, läßt sich stets sagen, daß „die Lage unabweisbar einen sofortigen Einsatz dieser Art erfordert”.

Das widerspricht dem Sinn des erst 1956 mühsam erstrittenen Artikels 143 des Grundgesetzes, der die Bundeswehr davor bewahren soll, in innere Auseinandersetzungen hineingezogen und als innenpolitisches Machtinstrument mißbraucht zu werden.

9. Die Vorlage der Regierungsmehrheit läßt es zu, daß im Notstandsfall das Recht zur

Verfassungsbeschwerde suspendiert und damit die Kontrollmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichtes wesentlich eingeschränkt werden:

Die vorgesehenen Bestimmungen verhindern nicht, daß die Regierungsmehrheit im Bundestag im Zustand der äußeren Gefahr durch ein einfaches Bundesgesetz die Verfassungsbeschwerde aufhebt.

Das bedeutet eine wesentliche Einschränkung der Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichtes, Notstandsmaßnahmen kontrollieren zu können. Für den einzelnen Staatsbürger wird das Recht beschnitten, sich gegenüber einer verfassungsfeindlichen Notstandsmaßnahme zur Wehr zu setzen.

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