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Die große Koalition setzt die Notstands­ver­fas­sung durch

vorgängevorgänge 5-196805/1970Seite 161
von vg

Aus: vorgänge Hfte 5/ 1968, S. 161

(vg) Seit zehn Jahren versuchen die jeweiligen Bundesregierungen, eine Notstandsgesetzgebung durchzusetzen. Drei Innenminister — Schröder, Höcherl, Lücke — sind an diesem Vorhaben bereits gescheitert. Der vierte, schon lange Notstandsexperte der CDU, Benda, hat nun endlich — im Finale der Großen Koalition — die Verabschiedung der Notstandsverfassung durchgesetzt.

Bisher ist die Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung am Widerstand einer breiten kritischen Opposition (zunächst sogar einer innerparlamentarischen Opposition — der SPD) gescheitert. Je mehr die Bundestagsparteien gegenüber der Grundfrage, ob überhaupt eine Notstandsgesetzgebung notwendig sei, nachgaben und nur noch in Fragen der speziellen Ausgestaltung der Notstandsparagraphen unterschiedliche Meinungen äußerten, umso mehr verlagerte sich die kritische Opposition ins Feld der außerparlamentarischen Opposition: Gewerkschaften, Professoren, Studenten trugen Gegenargumente vor und brachten für diese Massen zur Demonstration. Die Aktionsgemeinschaft „Kuratorium Notstand der Demokratie” sammelte den Widerstand wirkungsvoll. Auch die Humanistische Union brachte mehrfach zum Ausdruck, daß sie gegen jede grundrechtseinschränkende Notstandsgesetzgebung sei. Der außer-parlamentarische Widerstand führte schließlich gar zu öffentlichen Hearings der zuständigen Bundestagsausschüsse mit seinen Vertretern. Schließlich gab es — nach Bildung der Großen Koalition — auch innerparlamentarisch Gegenentwürfe zu den geplanten Regierungsentwürfen vonseiten der Oppositionspartei FDP und vonseiten einer starken „Rebellengruppe” innerhalb der SDP-Fraktion des Bundestags. Beide Gegenentwürfe bewiesen zumindest eines: daß es auch — gesetzt, daß eine Notstandsverfassung überhaupt notwendig ist — eine gesetzliche Regelung des Notstands geben kann, durch die nicht oder doch fast nicht in den Grundrechtsbestand des Grundgesetzes eingegriffen zu werden braucht. Die Gegenentwürfe der Parteien aber wären nicht zustande gekommen, hätte es nicht die breite außerparlamentarische Widerstandsbewegung gegen die Notstandspläne der Regierung gegeben.

Die ohne weitere gründliche Unterrichtung der Öffentlichkeit in aller Eile für den 15./16. Mai angesetzte zweite Lesung zeigte einerseits, daß die Bundesregierung und die Parteispitzen der Großen Koalition nicht gewillt waren, auf die ernsten Vorbehalte der inner- und außerparlamentarischen Opposition gründlich einzugehen. Eine Reihe fragwürdiger Grundrechtseinschränkungen wurde beibehalten, das politische Streikrecht nicht gewährt, ein recht unpräzises „Widerstandsrecht” zugestanden. An die Substanz des Rechtsstaates geht insbesondere die zum Zweck der geheimdienstlichen Post- und Telefonüberwachung vorgenommene Einschränkung des Verfassungsartikels 19, 4, der bisher jedem Bürger die Möglichkeit gab, gegen Übergriffe der öffentlichen Gewalt die Gerichte anzurufen.

Außerdem zeigte das von der Koalition ausgehandelte Verfahren der Verabschiedung der Gesetze, das sich mit vorherigen Koalitionsabsprachen und rigorosem Fraktionszwang gegen die kleine FDP-Opposition richtete, wenig parlamentarisch demokratische Substanz.

Am 29. Mai will die Große Koalition nun auch eiligst die Dritte Lesung der Notstandsverfassung — gekoppelt mit der Zweiten Lesung einiger „einfacher” Notstandsgesetze — durch-setzen.

Wir dokumentieren hier (mit einigen — hinsichtlich der Frage nach den Grundrechten unwesentlichen — Kürzungen) den Text der Notstandsverfassung, wie er nach der Zweiten Lesung im Bundestag gefaßt ist.

Den vorletzten Regierungsentwurf haben wir in vg 4/67, 5. 129 ff, veröffentlicht.

Der Alternativentwurf der FDP-Opposition wurde in vg 10/67, 5. 360 ff, dokumentiert.

Die Änderungsvorschläge der (zunächst über hundert Mann starken) Rebellengruppe in der SPD-Fraktion wurden in vg 8-9/67, S. 315 ff, und deren Neufassung in vg 2/68, S. 60 ff, mitgeteilt.

Stellungnahmen der HU zu Notstandsgesetzgebung erfolgten zuletzt in den vg 7/67, S. 254 f, vg 12/67, S. 445 f, und vg 1/68, S. 16f.

Diese Texte sollten zur Prüfung des neuesten Gesetzestextes herangezogen werden.

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