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Geschwin­dig­keit und Lebens­chancen

vorgängevorgänge 5310/1981Seite 82-85

Über die Schwierigkeit, in einer automobilisierten Gesellschaft aufzuwachsen

In: vorgänge 53 (Heft 5/1981), S. 82-85

Worüber ich sprechen möchte

Kaum erwachsen, ist sie auch schon fast verstorben, die Utopie von der autogerechten Gesellschaft. Erst 20 Jahre ist unsere tägliche Verkehrslawine alt, die Zahl der Pkw hat sich seither von 4,5 Millionen auf 23 Millionen verfünffacht. Freiheit, Komfort, Prestige, die dreifaltige Verheißung des konsumintensiven Fortschritts kristallisierte sich besonders im Automobil, und wir haben das Antlitz unseres Landes bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet, um den Raum für die freie Fahrt des freien Bürgers durchlässig zu machen. Energiekosten und Verkehrsverstopfung haben den Mythos der automobilen Gesellschaft verblassen lassen; ich möchte von den pädagogischen Kosten eines solchen Typs von Fortschritt sprechen. Schließlich haben alle Lebensverhältnisse eine pädagogische Dimension; wie sie sich für junge Menschen anfühlen, prägt sich der Persönlichkeitsentwicklung ein. Jenseits aller Schulen stellt jeder Lebensplan auch einen Bildungsplan dar. Mich interessiert, wie der „heimliche Bildungsplan“ der Autogesellschaft, und damit ein Stück weiter auch der heimliche Bildungsplan des industrialistischen Fortschritts, beschaffen ist.

Wie das Auto den Raum umwertet

Ein paradoxer Effekt ist zu verzeichnen: entgegen allen Hoffnungen verhilft uns das Auto nicht dazu, mehr Zeit einzusparen, denn Autofahrer wie Nicht-Autofahrer geben täglich dieselbe Zeit für ihre Mobilität aus. Wer sich mit einem Auto ausrüstet, ist nicht weniger unterwegs, sondern fährt weiter, die neuerworbenen Geschwindigkeitskräfte werden nicht in weniger Mobilitätszeit, sondern in längere Fahrtstrecken umgemünzt. Allein zwischen 1970 und 1978 hat sich die mittlere tägliche Wegstrecke pro Einwohner um 24 % verlängert, statt vormals 20,5 km dann 25,4 km. Dieser Explosion unseres Aktionsradius sind die Siedlungsverhältnisse nachgewachsen und umgekehrt: die explodierten Entfernungen zwingen uns zu einem automobilen Aktionsradius. Unsere täglichen Ziele, wo wir arbeiten, einkaufen oder Freunde besuchen wollen, sind weiter weg gewandert: der Tante-Emma-Laden ist verschwunden, der Betrieb liegt am anderen Ende der Stadt und die Freunde sind in die Trabantenstadt gezogen. Weil die Entfernungen so wachsen, sehen wir uns plötzlich zum Auto genötigt, Mobilitätszwang allerorten.

Dabei ist das Wachstum der Entfernungen der räumliche Ausdruck eines sozialen Vorgangs, nämlich der Zentralisierung unserer Lebensverhältnisse. Da wird die Ferne wichtiger als die Nähe: Während in der lokalen Umwelt unserer Wohnung kaum mehr viel zu holen ist, sind die lebenswerten Ziele in die Ferne gerückt, den Nahraum brauchen wir nicht mehr. Mehr noch, der Nahraum mit seinen Winkeln und Sturheiten steht im Wege, er hindert die Beschleunigung zu den ferneren Zielen. Also muß er dran glauben: da wird abgetragen, begradigt, durchstoßen und vereinheitlicht, bis die Nachbarschaft zur Durchgangsstraße und zum Parkraum umgebaut ist. Hohe Geschwindigkeiten führen zu einer Umwertung des Raumes, indem der Nahraum der Ferne dienstbar gemacht wird, die Ferne überherrscht die Nähe.

Die Geringschätzung der Nähe allerdings kann sich nur weniger als die Hälfte der Bevölkerung leisten: sie verfügt nämlich nur über ihre Körperkräfte und nicht über die Motorkräfte eines Autos. Nur der beschäftigte, männliche, 25-50jährige Teil der Bevölkerung wird beschleunigt, nur die für Arbeit und Konsum in der Ferne nützlichen Männer haben ihre Aktionsweite und ihre Umlaufgeschwindigkeit erhöht. Sie fahren all den anderen davon: Kinder, Jugendliche, ältere Menschen, Hausfrauen, weniger Bemittelte, sie werden stehen gelassen. Die Beschleunigung der einen wird mit der Verlangsamung der anderen erkauft, die Macht der einen über den Raum verurteilt die anderen zur Ohnmacht in ihrem Raum. Ich vermute, daß die ungleiche Herrschaft über Geschwindigkeit, daß der Niedergang der Nahwelt und der Aufstieg der entfernten Welt ein gedeihliches Aufwachsen erschweren.

Trans­port­be­dürf­tige Kinder

Wo Kindergärten, Schulen, Freunde, ja all die Stätten, wo das Leben rauscht, aus der Nachbarschaft auswandern, da werden Kinder unbeweglicher. Aus eigener Kraft – sei es zu Fuß oder mit dem Fahrrad – können sie manche für sie attraktive Orte, und auch viele Pflichtorte, nicht erreichen, die Automobilisierung hat für sie weniger Mobilität gebracht. Beschädigt ist ihre Kompetenz, kraft eigener Motorik den ihnen wichtigen Raum zu beherrschen. Nicht, daß sie nicht dürften, sondern daß sie effektiv nicht können, mindert ihre Autonomie. Eine Erfahrung, die im pädagogischen Schlagschatten des industrialistischen Fortschritts häufig wiederkehrt: nicht mehr so die Verbote angreifbarer Personen, sondern die stummen Zwänge technisch-organisatorischer Systeme rauben die Lebensluft.

Auf der anderen Seite wächst der Zwang zum Transport; Kinder müssen zunehmend damit fertig werden, Pendler und Passagiere zu sein. So hat sich zwischen 1960 und 1975 der Ausbildungsverkehr verdreifacht, obwohl die Zahl der Schüler nur zu einem Drittel gestiegen war, oder anders: die Hälfte aller Ausbildungswege sind Transportwege. Besonders sticht hier natürlich die Zentralisierung der Landschulen ins Auge, wo zu nachtschlafender Zeit der Schulbus in großen Schleifen von Dorf zu Dorf die Kinder einsammelt, um sie auf Umwegen und mit viel Geschaukel in Mittelpunktschulen abzuliefern. Untersuchungen zu Schulbuskindern geben einen aufschlußreichen Hinweis: nicht Müdigkeit oder Zeitdauer macht sie ängstlicher und aggressiver, sondern der versperrte Rückzug zur Mutter. Kinder, die ohne Transport auskommen, fühlen sich in der Lage, bei drohender Gefahr nach ihrem eigenen Willen zur schützenden Mutter zurückzukommen, andere fühlen sich bedrohlich ausgeliefert und abgeschnitten und müssen sich behaupten. Mehr Kinder lernen früher, mit Straßenbahnen und Bussen klarzukommen, ihr Zugewinn an Selbständigkeit verlangt mehr Selbstdisziplin und Selbstbehauptungswillen.

Gleichzeitig verstärkt die Abhängigkeit vom Transport die Abhängigkeit von den Erwachsenen. Weil ihnen ihre Welt aus eigener Kraft nicht zugänglich ist, sind sie auf das Wohlwollen der Erwachsenen angewiesen. Die chauffierende Mutter ist die komplementäre Rolle zum Vorschulpassagier; in England sind 27 % aller Autofahrten, die Mütter unternehmen, solche Chauffeursfahrten.

Spielen als Termin­ge­schäft

Transportabhängigkeit übt in die Ökonomie des Raumes und in die Ökonomie der Zeit ein. Kinder lernen, Distanzen zu kalkulieren, den Weg zum Bleistiftkaufen und den zur Freundin günstig hintereinander zu koppeln. An der Haltestelle lernt man zu warten, die Zeit totzuschlagen, im Bus braucht es Geduld, manche Wünsche sind aufzusparen, bis sie fällig sind. Der Kinderalltag wird mehr durch Verabredungen strukturiert, weniger durch Ereignisse und Begegnungen: wann kommst du zurück? wie treffen wir uns? wie lange brauche ich da? Dazu kommt, daß die Beschleunigung der Kinder wie auch der Eltern die Koordinationslast für alle erhöhen, es ist einfach mehr zu planen, zu bedenken, einzurechnen. Kurzum, Kinder müssen sich oft früh in das Geschäft der Koordination von Personen in Raum und Zeit einüben. Solche abstrakten Verpflichtungen erfordern Zeitdisziplin und Selbstkontrolle, spontane Motive, den eigenen Erlebensrhythmus, überraschende Eindrücke muß der heranwachsende „Organisationsmensch“ wegstecken können.

Beschnit­tener Streifraum

Vor lauter pädagogischer Aufrüstung vergessen wir oft, daß bis in die jüngste Vergangenheit viele Kinder „auf der Straße“ ihre Welt und ihren Platz darin gefunden haben (weniger ausgeprägt bei den Kindern des gehobenen Bürgertums). In der Nachbarschaft, mit ihren Straßen und Hinterhöfen, ihren Bächen und Brachgeländen, ihren Krämerläden und Werkstätten, ihren Treffpunkten und Zusammenkünften, war ein gutes Stück der Welt erfahrbar, handgreiflich standen ihre Berufe, ihre Konflikte und ihre vielen Gesichter vor Augen. Der Nahraum war so etwas wie ein Mikrokosmos der Natur und der Gesellschaft, die Welt offenbarte sich dort im kleinen. Und vor allem war die „Straße“ ein Stück unbetreuter Erfahrung, wo in lockeren und festen Gruppen nach eigenen Regeln und Gesetzen eine eigenständige Kinderwelt Fuß fassen konnte.

Die Automobilisierung, wie auch schon die Verstädterung allgemein, zerstört solche lokalen Lebensräume. Physisch rücken die Herausforderungen der Natur, die unheimlich glucksenden Bäche und das undurchdringliche Gestrüpp ferner. Parkflächen und Verkehrsstraßen haben das Gelände der Überraschungen und der Abenteuer abgeschnürt und schneiden – bei Strafe des Verkehrtods – den Streifraum von Kindern ab. Damit schwinden Gelegenheiten, sich ungebunden einen Raum auszukundschaften und zu erobern, damit vergehen die Anregungen, seine Umwelt auszuprobieren und nach eigener ldee zu gestalten. Unabhängigkeit braucht ein Territorium, Raumgrenzen sind Entwicklungsgrenzen.

Und weiter: bei einem so strangulierten Aktionsraum verliert die unabhängige Kinderwelt der Straßenspiele und Straßenkämpfe an Boden. Ein beschnittener Raum hat beschnittene soziale Beziehungen im Gefolge. Denn für Kinderspiele ist kein Platz: Knickern, Verstecken, Völkerball, Hopsen, Räuber und Gendarm und erst recht das Gewoge der Straßenkämpfe brachten die Kinder zusammen. Beschnittene Beziehungen allerdings erschweren die Identitätsbildung, denn mit wem soll man sich vergleichen, wie kann man sich selbst in den Reaktionen der anderen erfahren?

Ausge­wan­derte Gesell­schaft

Wo früher ein Teil des gesellschaftlichen Lebens ausgebreitet war, wo verkauft, verhandelt, wo flaniert und zur Schau gestellt wurde, da braust heute der Verkehr. Die Straße ist vom Lebensraum zum Verkehrsraum verkommen, da stellt sich nichts mehr zur Schau als gegenseitig konkurrierende Autofahrer. Daß, verstärkt durch das Automobil, sich die sozialen Aktionsräume der Erwachsenen geographisch ungemein erweitert haben, hat zwei dramatische Effekte für die Welt, mit der Kinder in Berührung kommen: arbeitende und alte Menschen sind ihrem Gesichtskreis entschwunden. Was die Gesellschaft am Leben erhält, nämlich Arbeit, und was die Gesellschaft gestern war, die Alten bezeugen es, ist für die Jungen weniger zugänglich, ja weniger wirklich geworden. Wie Alltag, Arbeit und Alter jenseits der Familie aussieht, kann von Kindern kaum mehr eingesehen werden, im doppelten Sinne des Wortes. Der Ausschnitt der Gesellschaft, welcher durch primäre Erfahrung erlebt werden kann, schrumpft gegen Null.

Enteignete Umwelt

Wer unsicher, orientierungslos und verschüchtert sich einer fremden Stadt ausgesetzt sieht, der erlebt, wie eine ungesicherte Beziehung zum Raum die Identität, das Gefühl, die eigene Sache in der Hand zu haben, strapaziert. „Mein“ Platz, „mein“ Weg und „mein“ Viertel sind so etwas wie das räumliche Gehäuse der ldentität. Wie es für Großstadtkinder schwieriger geworden ist, sich ihre Umwelt anzueignen, wird dadurch illustriert, daß sie, Untersuchungen zufolge, einen eingegrenzteren subjektiven Stadtplan im Kopfe haben als Kleinstadtkinder. Der Nahraum, den sie sich vorstellen können, ist begrenzt, stattdessen bilden sich für sie mehrere, unverbundene Inseln vertrauter Räume ab, die – geographisch in der Stadt verstreut – in der Wahrnehmung nicht in einem zusammenhängenden Raum lokalisiert werden können. Die Zusammenhängigkeit ihrer Raumerfahrung ist gerissen. Ob eine Umwelt subjektiv angeeignet werden kann, hängt von zwei Faktoren ab: sie muß gut „lesbar“ und sie muß veränderbar sein. Nun scheint es, dass die Nahräume unserer Städte und auch der Dörfer weniger „lesbar“ geworden sind, weil sie weniger an kontrastreicher Vielfalt der Personen, Aktivitäten und Formen anbieten. Vielfalt und Kontraste machen die Umwelt sprechen, sie ziehen Gefühle und Aufmerksamkeit auf sich, erst die Unterschiede regen an und fordern zu Reaktionen auf. Gerade erforschendes und spielendes Verhalten erstirbt in einer Ein-Zweck-Welt betonierter Langeweile. Wo es andererseits anregungsarm und einfältig zugeht, da gibt es auch nichts anzugreifen, einzugreifen und zu handeln. Einer glatten Umwelt, an der sich nichts zu gestalten, verändern anbietet, lassen sich keine persönlichen Spuren aufprägen. Der berühmte Vandalismus ist die verzweifelt verkehrte Weise, der resonanzlosen Umwelt einen persönlichen Stempel aufzudrücken. Verschließt sich aber der Nahraum der subjektiven Aneignung, dann ist es schwerer, selbst einen Ort zu finden und durch die Aneignung eines Raumes ein Gefühl für die Kompetenz und Einflußkraft der eigenen Person zu bekommen.

Freiwüch­sige Kindheit und betreute Kindheit

Die Automobilisierung der Gesellschaft hat kräftig dazu geholfen, das „Ökosystem“ einer unabhängigen und freiwüchsigen Kindheit zu zerstören. Jene Lebensgewebe der Nähe, in deren Zugänglichkeit, Anregungsdichte und Gestaltbarkeit – ganz unbemerkt und ungeplant – die sozialen und räumlichen Chancen einer Kindheit außerhalb des pädagogischen Blicks eingelassen waren, lösen sich auf. Die Chancen, beiläufig aufzuwachsen, ein Stück weit ungeplant und unveranstaltet groß zu werden und die Welt ohne Anleitung zu erlernen, sind offenbar gesunken. Wenn einem die Körperenergien wenig mehr nützen, wenn man kaum mehr mit den eigenen Augen und Sinnen in die Gesellschaft findet, wenn man die Welt, die einen umstellt, weniger mit seinen Motiven besetzen und nach seinen Motiven prägen kann, dann wird es schwerer, die eigene Person als Ursprung von Einfluß und Kompetenz zu erleben und sich selbst als jemand wahrzunehmen, von dem etwas ausgeht, sich als Subjekt eben zu fühlen.

Die Erosion des „soziokulturellen Humus“ wird kompensiert und wiederum verstärkt durch den Kunstdünger veranstalteter Betreuung und Belehrung, vom didaktischen Spielzeug über die Ganztagsschule bis zum Fernsehapparat. Es mehren sich die Anzeichen, daß erhöhte Dosen an Betreuung, – wie beim Kunstdünger, der die Selbsttätigkeit der Natur ausschaltet, auch – kontraproduktiv wirken und das Klima für ein gedeihliches Aufwachsen verschlechtern. Vielmehr treiben mehr Betreuung, mehr Versorgung und mehr Konsum, die ja alle zur Kompensation der freiwüchsigen Kindheit angetreten waren, tiefer in das Dilemma der modernen Kindheit: daß nämlich die Balance zwischen unabhängiger Weltaneignung und programmierter Welterfahrung in Unordnung geraten ist. Unterfordert zu sein in der freiwüchsigen, sinnlich unmittelbaren Weltaneignung und überfordert zu sein in der fremdgeplanten, fabrizierten Welterfahrung, dieses Ungleichgewicht scheint die Krisenlage der modernen Kindheit auszumachen.

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