Publikationen / vorgänge / vorgänge 6-1972

Rede zur Verleihung des Fritz-­Bau­e­r-­Preises 1972

Sehr verehrter Herr Professor Fabian, sehr verehrte Frau Einsele, meine Damen und Herren!
Wenn jemand hier zu danken hat, dann bin ich es. Die Verleihung des Fritz-Bauer-Preises ist für mich eine große Ehre, aber auch die Verpflichtung, nach wie vor mich für den Humanismus, den Liberalismus und die Demokratisierung einzusetzen, menschlich und politisch. Das Wirken von Fritz Bauer und das Wirken der früheren Preisträger sind für mich Vorbilder.
Die unabhängige, nur seinem Gewissen verantwortliche politische Persönlichkeit war und ist Bundespräsident Heinemann, ist verkörpert in seinem politischen Leben, zuerst dokumentiert durch seinen Rücktritt als Bundesminister im Kabinett Adenauer. Im Bundestag habe ich mir keine seiner scharf argumentierenden, stets nach Gerechtigkeit suchenden Reden entgehen lassen. Liberalen Reformen aufgeschlossen hat er als Justizminister maßgeblich zu grundlegenden Rechtsreformen für einen modernen sozialen Rechtsstaat beigetragen.
Mit Frau Helga Einsele hatte ich die Freude, in der Strafvollzugskommission zusammen zu arbeiten. Ich war immer sehr beeindruckt, was sie aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung für einen modernen Strafvollzug für notwendig hielt. Dabei war ich mir stets bewußt, daß die Aufgaben in einer Frauenstrafvollzugsanstalt besonders schwierig sind. Schon die soziale Schichtung ist eine andere, und auch die psychologischen Probleme. Stets hatte ich den Eindruck, daß Frau Einsele bei allen Probanden in erster Linie den Menschen sah, der mit den ihm im Leben gestellten Problemen nicht fertig wurde, dann mit den Strafgesetzen in Konflikt kam und der Hilfe braucht.
Für meine Einstellung zu dem Problem der „Lebenslänglichen” waren gerade auch die Erfahrungen von Frau Einsele entscheidend. In der vorigen Legislaturperiode standen wir vor der Entscheidung, ob lebenslänglich wirklich immer „lebenslänglich” sein sollte und ob die bisherige Gnadenpraxis, meistens erst nach Umwandlung der lebenslangen Strafe in eine zeitliche und dann nicht vor 20 Jahren eine Begnadigung vorzunehmen, richtig sei. Damals fragte ich Frau Einsele nach ihren Erfahrungen, wann der Abbau der Persönlichkeit noch nicht so weit fortgeschritten sei, daß ein sich Wiedereinfinden in das „freie” Leben, eine wirkliche Sozialisierung, noch möglich sei. Sie entgegnete mir, äußerstenfalls 15 Jahre.
Das Bemühen der FDP, in das reformierte Strafrecht eine Bestimmung — wie sie die Alternativprofessoren mit Recht forderten aufzunehmen, daß nach 15 Jahren bei den Lebenslänglichen geprüft werden soll, ob es verantwortet werden kann, auch bei ihnen die Strafe zur Bewährung auszusetzen, war leider erfolglos. Das bedeutet jedoch für mich nicht, daß ich mich damit abfinde. Die „menschlichen Hülsen” — von ihnen sprach ein sehr mitmenschlich denkender Professor während der Aussprache über die Todesstrafe in der Großen Strafrechtskommission — nach allzu langer Haft müßten doch für jeden human und auch christlich denkenden Menschen unerträglich sein. Auch wir in der Bundesrepublik müssen wie viele andere Länder unseres Rechtskreises (zB. auch England) zu einer humaneren Praxis kommen.
Dabei bin ich mir durchaus bewußt, daß der augenblickliche „Zeitgeist” solchen Reformen nicht günstig ist. Schon wird beim Strafvollzug wieder stärker die Vergeltung — fälschlich von einem Landesjustizminister als Sühne bezeichnet — gegenüber der Sozialisierung hervorgehoben. Es wird gar zuleicht übersehen, daß die Sicherheit vor weiteren Straftaten am meisten gewährleistet ist, wenn die Sozialisierung gelingt. Ich teile auch im vollen Umfang die Befürchtungen von Frau Einsele, daß dadurch die Strafvollzugsreform beeinträchtigt werden könnte.
Die Einrichtung der Sozialtherapeutischen Anstalten ist zwingend notwendig, sonst kann der reformierte Allgemeine Teil des StGB nicht 1973 in Kraft treten.
Ein Kernstück dieser Reform ist für mich auch die Arbeitsentlohnung statt der antiquierten Arbeitsbelohnung. Mit einer vernünftigen Arbeitsentlohnung wird die soziale Verantwortung gestärkt. Schadenersatz an den durch die Straftat Geschädigten, Unterhalt an die Familie kann geleistet werden und nach der Entlassung steht der Häftling nicht mit einem Berg voll Schulden an dem schwierigen Beginn eines neuen Arbeitslebens.
Schon bei den früheren Verleihungen des Fritz-Bauer-Preises wurde mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, daß die Sozialisierung nur gelingen kann, wenn die Allgemeinheit bei ihr mithilft. Sie muß bereit sein, den Entlassenen wieder voll in das Arbeitsleben und in die soziale Gemeinschaft aufzunehmen. Noch sind die Widerstände allzu stark. Doch zeigen sich schon einige Hoffnungsschimmer, vor allem wenn Gefängnisbeiräte eingerichtet werden und durch den halboffenen und offenen Vollzug schon vor der Entlassung die Verbindung zu dem Leben außerhalb der Mauern besonders auch zum Arbeitsleben geschaffen wird.
Besonders danken möchte ich auch Frau Birgitta Wolff, die sich so sehr persönlich an dem Schicksal von Häftlingen beteiligt und sich ihrer annimmt. Mit Recht hat sie bei der Preisverleihung an sie den „verschärften Arrest” als menschenunwürdig bezeichnet. Auch ich habe kein Verständnis dafür, daß die „Dienst- und Vollzugsordnung” Häftlingen nicht ausgehändigt wird. Das Strafvollzugsgesetz — das Bundesverfassungsgericht hat Frist bis zum 1.10.1973 gesetzt — kann ihnen doch ebensowenig wie die übrigen Gesetzbücher vorenthalten werden.
Wenn ich auf diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinweise, dann ist damit auch die so wichtige Frage der Grundrechte im Strafvollzug angesprochen. Die Einschränkung der Grundrechte im Strafvollzug kann nicht mehr mit dem „besonderen Gewaltverhältnis” begründet werden. Sie dürfen nur in dem Umfang eingeschränkt werden, als dies für die Durchführung eines zeitgemäßen Sozialisierungsvollzuges unerläßlich ist.
Schutz der Rechtsgüter des Bürgers und der Allgemeinheit ist Sinn und Zweck des Strafrechts. Weit verbreitet ist noch immer die Auffassung, harte Strafen — im Strafmaß und im Vollzug — seien am besten zur Verbrechensbekämpfung — generell und individuell — geeignet. Tatsächlich lehrt die Erfahrung ein anderes. Mit Recht weist Fritz Bauer daraufhin: „Härte erzeugt Härte, so daß die Verbrechensbekämpfung letztlich in Verbrechensförderung umschlägt. Der generalpräventive Effekt kann — zumal bei Beachtung der Wirkungen staatlicher Strafe auf lange Sicht — besser durch milde Strafe erreicht werden.” Selbstverständlich erfordert ein schweres Verbrechen eine der schweren Schuld angemessene strenge Bestrafung. Aber wenn ich an so manche Reform in der letzten Zeit denke: sind wir nicht dabei, das richtige Augenmaß zu verlieren und besteht nicht die Gefahr, daß man glaubt, genug getan zu haben, weil ein neues Gesetz mit einer hohen Strafandrohung geschaffen wurde, während die Bekämpfung der Kriminalität doch schon da einsetzen muß, wo die Ursachen hierzu liegen; insbesondere ist die soziale Unterprivilegierung von Kindern und Jugendlichen zu beseitigen, mindestens zu verbessern, sind die sozialen Verhältnisse zu ändern, die vielfach der Nährboden für die Jugendkriminalität und damit der späteren Erwachsenenkriminalität sind.
Fritz Bauer sagt zur Generalprävention: „Sie hat auch heute viele Freunde. Wenn gräßliche Mordnachrichten in den Zeitungen stehen, Erregung, Abscheu, Unsicherheit, Furcht, ja manchmal panische Angst um sich greifen, ertönt prompt der Ruf nach mehr und mehr Zuchthaus, nach dem Henkerbeil oder dem Strick, um dem Unheil Einhalt zu gebieten. Oft ist die generalpräventive Begründung nur eine rationale Verkleidung des irrationalen Vergeltungstriebes. In anderen Fällen entspringt der Ruf nach Strafe oder verschärfter Strafe dem menschlichen Drang nach Aktivität, auch wenn es nur eine Scheinaktivität ist, in der sich die völlige Ohnmacht widerspiegelt, an die Wurzel des Übels zu kommen. Mit der inneren Schwäche, mit der Angst und Furcht des Einzelnen oder der Gesellschaft wächst das kriminalpolitische Bramarbasieren und Kraftprozentum. Es imitiert Stärke und übertönt oft auch das eigene schlechte Gewissen.« Wie gut passen diese Worte für Vorgänge gerade in der letzten Zeit. Er fährt fort: „Es ist eine tief beunruhigende Lebenslüge, zu glauben, das Moralisieren, das nichts kostet, daß ein bloßes ,Du sollst‘, daß ein paar Paragraphenzeichen genügen, um die Welt aus den Angeln zu heben.”
Eine wirksame Verbrechensbekämpfung muß die Strukturveränderungen der modernen Industriegesellschaft mit ihrer sozialen Problematik berücksichtigen. Aus diesem Grunde hat Fritz Bauer sich gerade auch mit der Wirtschaftskriminalität befaßt. Seinem Gerechtigkeitsempfinden widersprach es, daß je raffinierter im Wirtschaftsleben vorgegangen wird und je größer der Schaden für die Allgemeinheit oder auch gegenüber oft einer Vielzahl von Personen ist, umso größer die Chance ist, einer Bestrafung zu entgehen. „Die Aufklärung eines üblichen Diebstahles oder Sittlichkeitsdelikts ist zudem einfach, die in Millionen gehenden Transaktionen der Großen bleiben aber oft schwer durchschaubar, und der zur Verfügung stehende Staatsapparat ist ihnen nicht gewachsen.«
Daß dies nicht so bleiben soll, dafür ist die Kommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität jetzt eingesetzt, und es wurden die besonderen Staatsanwaltschaften und Strafkammern gebildet. Den Grund dafür, daß die jetzigen Gesetze nicht ausreichen, sieht Fritz Bauer darin, daß das geltende Recht noch von der Sozialwirtschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts bestimmt ist. Die privaten Vermögen und Einkünfte sind mittlerweile von Eigentum und den Einkünften der Öffentlichen Hand überflügelt worden. Die Gemeinschaftsaufgaben sind ständig gewachsen, die Steuern dienen nicht nur Schule und Verkehr, sondern der Einkommens- und Vermögensregelung, dem Lastenausgleich, der Sozialpolitik und der Konjunkturstabilisierung. Wenn Milliarden an Steuern hinterzogen werden, berührt dies Millionen von Menschen mehr und nachhaltiger, als wenn der eine oder andere von ihnen durch Diebstahl oder Betrug um einige hundert Mark erleichtert wird. „Das geltende Recht operiert Hühneraugen, während die Krebskrankheiten vielfach unbeachtet bleiben”, so Fritz Bauer.
Das Kennzeichen für den sozialen Rechtsstaat ist die verfassungsmäßige Verbürgung unantastbarer Freiheitsrechte und Menschenrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Freie Entfaltung der Persönlichkeit, gleiche Stellung des Bürgers vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Koalitionsfreiheit, aber auch das Recht auf Leben und Gesundheit sind die großen Errungenschaften dieser Liberalisierung des Staates. Freiheit bedeutet für den modernen Liberalismus nicht länger die Freiheit eines aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staate entgegengesetzten autonomen Individuums, sondern die Freiheit jenes autonomen und sozialen Individuums, wie es als immer zugleich einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt. Freiheit und Glück des Menschen sind für einen solchen sozialen Liberalismus danach nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte. Nicht so sehr auf gesellschaftlich erfüllte Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern auf soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es ihm an. Behauptung der Menschenwürde und Selbstbestimmung des einzelnen in Staat und Recht, in Wirtschaft und Gesellschaft, gegenüber einer Zerstörung der Person durch die Fremdbestimmung und durch den Anpassungsdruck der politischen und sozialen Institutionen waren und sind die ständige Aufgabe des klassischen wie des modernen Liberalismus. Liberalismus nimmt Partei für Fortschritt durch Vernunft. Das muß ganz besonders auch dann gelten, wenn Emotionen und nicht Vernunft politische Fragen und die Gesetzgebung beherrschen oder beherrschen wollen. Liberalismus tritt ein für die Befreiung der Person aus Unmündigkeit und Abhängigkeit. Deshalb muß auch der Strafvollzug zur Selbstverantwortung führen. Dazu ist die von Frau Einsele gewollte Mitverantwortung geeignet. Der Liberalismus setzt sich ein für Aufklärung des Unwissens und Abbau von Vorurteilen, für Beseitigung von Bevormundungen und Aufhebung der Unselbständigkeit. Deshalb ist die Abkehr von einem Strafvollzug, der die Unselbständigkeit durch die Bevormundung fördert, dringend geboten.
Erste Voraussetzungen einer auf die Forderung solcher Emanzipation des Menschen und damit Evolution der Menschheit gerichteten liberalen Gesellschaftspolitik sind geistige Freiheit und die Prinzipien der Toleranz und der Konkurrenz. Gerade jetzt ist durch die Polarisierung und Radikalisierung die Toleranz und damit die geistige Freiheit wieder gefährdet. Die Toleranz hat jedoch da ihre Grenzen, wo sie nur zum Sieg der eigenen Intoleranz mißbraucht werden soll. Bis jetzt haben alle, die glaubten, das alleinseligmachende Glück gefunden zu haben und dieses allen anderen aufdoktrinieren wollten, stets zum Verlust der Freiheit, zum Verlust der Toleranz und zu einem totalitären Staat geführt.
Deshalb sind die Grundrechte nach wie vor so wichtig. Man glaube nur nicht, daß sie schon allseits gefestigt sind. Ich war erschrocken, als ich jetzt die Länderberichte im Zusammenhang mit der Erweiterung der Untersuchungshaft durchsah, wie häufig doch Vorschläge waren, die eine Ausdehnung der Untersuchungshaft forderten und zwar ganz allgemein mit einer Generalklausel, wenn die Wiederholung von Straftaten zu befürchten sei, ohne überhaupt nur an das Grundrecht der persönlichen Freiheit und seine Wertung im Grundgesetz zu denken. Sehr häufig wird in diesen Länderberichten aber auch die Auffassung vertreten, daß eine Erweiterung wegen den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen wohl nicht möglich sei und daß die wirksame Bekämpfung der Kriminalität durch andere Maßnahmen besser zu erreichen sei.
An die Presse- und Informationsfreiheit und auch ihre Begrenzung wurde jetzt im Zusammenhang mit der Quick-Durchsuchung erinnert. Die Presse ist mit Recht sehr hellhörig, wenn es um dieses so wichtige Grundrecht der Meinungsfreiheit geht. Die Grenze der Informationsfreiheit zum Kriminellen wurde allgemein richtig erkannt.

Danken möchte ich der Humanistischen Union ganz besonders dafür, daß sie stets als Wächterin für die Grundrechte und für liberale Gesetze eingetreten ist und uns Abgeordnete mit guten Gesetzesvorschlägen und -formulierungen die politische Arbeit erleichtert. Nur als ein Beispiel weise ich auf die Reform des § 218 StGB hin, bei der es doch darum geht, von der illegalen Abtreibung zur sozialen Verantwortung zu kommen.
Leider werden durch das Patt in diesem Bundestag die Reformen, die ich für besonders notwendig halte, nicht mehr erfolgen. Auf der Strecke bleibt nicht nur die Reform des § 218, sondern auch die Reform des Scheidungsrechts und mindestens teilweise wenn nicht überhaupt die Reform des Sexualstrafrechts und dann natürlich das Strafvollzugsgesetz. Die Zeit für die Beratung dieses Gesetzes im neuen Bundestag — bis zum 1.10.1973 muß es verabschiedet sein — ist kurz und es wird nicht leicht sein, die finanziellen Widerstände der Länder zu überwinden.
Das Wächteramt der Humanistischen Union und ihr Eintreten für Humanismus, Liberalismus und Demokratisierung ist notwendiger denn je.

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