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Lebendige Vergan­gen­heit

vorgängevorgänge 7-196301/1970Seite 197 - 200

Aus: vorgänge Heft 7/1963, S. 197 – 200

Wir sind zusammengekommen, um Anne Franks und ihres 34. Geburtstages zu gedenken. „Meine Schwester Margot”, lesen wir im Tagebuch, „ist im Jahre 1926 in Frankfurt am Main geboren, am 12. Juni 1929 folgte ich”. Das Tagebuch beginnt mit dem 13. Geburtstag. Anne hat das Buch unter ihren Geschenken gefunden. „Dich, mein Tagebuch, sah ich zuerst, und das war sicher das schönste Geschenk”, heißt es dort. Noch zwei Geburtstage sind im Tagebuch geschildert. Es ist Pfingstzeit. „Von Peter einen schönen Strauß Pfingstrosen”, so heißt es letztmals am 13. Juni 1944.

Lebte Anne Frank heute, sie, die uns nicht nur ihr Tagebuch, sondern Erzählungen, Märchen, ja das Fragment eines Romans hinterlassen hat, und deren großer Wunsch es war, einmal schreiben zu können und schreiben zu dürfen, so hätte ihr, glaube ich, ein Gott gegeben zu sagen, was sie litt und was die anderen litten. Ihr schlagendes Herz hätte die Quellen menschlichen Verstehens und Mitleidens zum Fließen gebracht und die Steine der Gleichgültigkeit, des Vergessens und Verdrängens, die Steine der Ausflüchte erweicht. Im Jahre des Ungarn- und des Auschwitzprozesses in Frankfurt wäre sie ein lebendiger Zeuge des furchtbaren Geschehens gewesen. Frau de Wiek in Apeldoorn/Holland, die mit Anne in Auschwitz war, bevor Anne vor der heranrückenden, befreienden Roten Armee nach Bergen-Belsen geschleppt wurde, berichtet: „Anne war ohne Schutz, bis zuletzt. Ich sehe sie noch an der Türe stehen und auf die Lagerstraße schauen, als sie eine Herde nackter Zigeunermädchen vorbeitrieben zum Krematorium, und Anne sah ihnen nach und weinte. Und sie weinte auch, als wir an den ungarischen Kindern vorbeimarschierten, die schon einen halben Tag nackt im Regen vor den Gaskammern warteten, weil sie noch nicht an der Reihe waren. Und Anne stieß mich an und sagte: sieh doch, ihre Augen . . . Anne weinte”.

Wir gedenken des Geburtstags unserer Großen, nicht ihrer Sterbetage, so auch bei Anne Frank. Sicher ist nicht entscheidend, daß wir Tag und Stunde ihres Todes nicht genau kennen, sondern nur die Zeit des großen Sterbens in Bergen-Belsen. Wir wählen die Geburtstage und zählen sie weiter, als lebten die Menschen und als seien sie noch unter uns.

Lebt Anne Frank heute? Ihr Tagebuch ist allein in der Taschenausgabe in der Bundesrepublik in mehr als 800 000 Exemplaren verkauft worden, Hunderttausende haben Film und Schauspiel gesehen. Leben die Bücher? Kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, aus ihren Worten geistig und reif unsere Tat? Folgt der Schrift, wie des Haines dunklem Blatte, die goldne Frucht? Sind Buch, Schauspiel und Film zur moralischen Anstalt geworden, die in Gegenwart und Zukunft wirkt? Ist Anne Frank lebendige Vergangenheit oder ist es der in Holland als NS-Verbrecher verurteilte ehemalige SS-Brigadeführer Harster, der noch bis zum 18. April 1963 als Oberregierungsrat in München tätig war, obwohl er für das Schicksal der Juden in Holland mitverantwortlich gewesen ist? Aus „Gesundheitsgründen” wurde er jetzt pensioniert; er hat seine Vergangenheit nicht einmal verschwiegen; er konnte es auch nicht, steht doch sein Name in den Büchern über die Endlösung der Judenfrage. „An tüchtigen Mitarbeitern”, schreibt beispielsweise Robert Kempner in seinem Eichmann-Buch, um aufs Geratewohl eines herauszugreifen, „fehlte es Eichmann nicht”. Es folgt der Name Harster mit dem Anfügen, daß er im Haag zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. „Eichmanns Dienststelle”, fährt Kempner fort, „trieb immer wieder selbst so aktive Außenbeamte wie Harster zur schnelleren Arbeit an”. Die Vergangenheit ist lebendig. Anne Frank oder Harster, das ist die Frage. Ein Sowohl-Als-auch ist ausgeschlossen, eine geistige und politische Koexistenz ist nicht praktikabel. Wir in der Bundesrepublik müssen wählen, sie oder ihn; beide sind Repräsentanten verschiedener Welten, Anne Frank steht für die eine, Harster für die andere, und weitere Harsters brauchen und sollen hier und heute nicht genannt werden.

Wir hier gedenken der Anne Frank. Wieviele sonst? Solange eines Menschen gedacht wird, ist er nicht tot. Auch der lebendige Mensch bedarf des Gedenkens, sonst siecht er dahin und stirbt. Gedenken kann am Leben erhalten oder doch das Sterben oder Erschlagenwerden erleichtern.

Niemand hat das deutlicher gespürt als Anne Frank. Sie erfuhr die Einsamkeit des Menschen, zumal des jungen Menschen, die unser aller Schicksal ist. Sie suchte den anderen, den sie in ihrer geträumten Freundin Kitty fand. Kälter, leerer wurde es im Versteck des Hinterhauses von Amsterdam, aber wenn die Franks, van Daans und später noch Herr Dussel die Enge des Verstecks, das fast schon an Sartres Hölle erinnert, ertrugen, war es — wie ich glaube —, weil eine Nabelschnur sie mit den Niederländern verband, die ihrer gedachten und ihnen halfen, Miep, Elli, Kraler, Henk, der Gemüsemann an der Ecke und all die anderen Unbekannten, die auf ihrer Seite standen, ohne die Gefahren für Freiheit, Leib und Leben zu scheuen. Anne Frank berichtet auch von dem Hirtenbrief der holländischen Bischöfe. Sie glaubte nicht, daß er den Juden hilft, aber sie schreibt doch: „Er ist großartig und feuert die Menschen an: Bleibt nicht ruhig, Niederländer. jeder muß mit seinen Waffen fechten für die Freiheit von Volk, Vaterland und Religion! Helft, gebt, zögert nicht!”

Derer, die damals der Verfolgten gedachten und ihnen halfen, sei heute zugleich gedacht und gedankt. Wenn ich von der Macht des Gedenkens rede, das den Tod überwinden kann, seien es nicht nur Worte, die vielleicht von des Gedankens Blässe angekränkelt sind. Lassen Sie mich daher ein eigenes Erlebnis berichten. Als 1940 die Gestapo mich in Dänemark suchte und auf meiner Odyssee durch das Land in dem kleinen Gasthaus einer Provinzstadt fand, brachte mich die dänische Polizei auf die Wache. Ich wurde nach dem Namen gefragt, sonst nichts; ich kam in die Zelle, sonst nichts. Ich wurde in das riesige Polizeigebäude Kopenhagens gebracht; ein dänischer Staatsanwalt fragte mich nach dem Namen, sonst nichts. Kein Satz, kein Blick des stillen Einverständnisses. Ich war in der Zelle, ich war des Treibens müde. Es wird wohl gegen Mitternacht gewesen sein, als ein unbekannter junger dänischer Hilfspolizist die Türe öffnete. „Wollen Sie etwas essen?” —„Nein“ –„Wollen Sie etwas lesen?“ – „Nein, danke”. Eine lange, lange Pause trat ein. Er schloß die Zellentür, er kam zu mir, legte wie ein Freund den Arm um mich und sagte: „Ich werde an Sie denken.” Er ging, es war mir zumute wie es Goethes Faust in der Szene, die „Nacht” heißt, geschah: „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder”! In Erinnerung an das, was ich selber erlebte, gehört der Eintrag des Norwegers Petter Moen in sein Gefängnisbuch für mich zum Schönsten der Widerstandsliteratur: „10. April 1944. Der Mann von der Wache sprach heute Morgen beim Appell mit mir. Er fragte mich sehr freundlich, wie lange ich hier schon gesessen habe. Es entspann sich ein längeres Gespräch — oder richtiger gesagt: er redete lange. Er war kriegsmüde, glaubte aber, der Krieg werde noch lange dauern. Er betrachtete mich nicht als Verbrecher. Er hatte nur einen einzigen Wunsch: nach Hause zu kommen und in Ruhe arbeiten zu dürfen. Ich fragte ihn, ob seine Kameraden dieselben Ansichten hätten. Da klopfte er mir auf die Schulter und sagte: , Wir sind Kameraden‘.”

Anne Frank, visionär wie sie war, schaute Auschwitz und Bergen-Belsen und fürchtete die große und endgültige Verlassenheit des Vernichtungslagers, das ihr bevorstand, wenn das Versteck verraten würde. In einer Novembernacht 1943 träumt sie zwischen Tag und Nacht von ihrer Schulfreundin Lies: „Sie stand vor mir in Lumpen gekleidet, mit eingefallenem mageren Gesicht. Mit großen Augen sah sie mich traurig und vorwurfsvoll an, als wollte sie sagen: ,Anne, warum hast Du mich verlassen? Hilf mir doch! Rette mich aus dieser Hölle! Sie war mindestens so fromm wie ich, sie wollte immer das Gute. Warum bin ich denn ausersehen zu leben und sie soll vielleicht sterben? Welcher Unterschied war zwischen uns? Warum sind wir nun so voneinander getrennt? Lieber Gott, hilf ihr, daß sie nicht ganz allein ist. Laß Du sie wissen, daß ich in Liebe und Mitgefühl an sie denke. Vielleicht gibt ihr das Kraft, um auszuhalten. . . Ich werde sie nie vergessen. . .”

Anne Frank spricht von sich und Lies. Täuschen wir uns nicht über den Sinn des Tag- und Nachttraums. Er handelt von mehr als nur Anne und Lies. Er handelt auch von der Mitwelt der beiden Mädchen. Er spiegelt den heißen Wunsch der jungen, den Tod fürchtenden Anne, die Welt, die Umwelt, nicht zuletzt die deutsche Umwelt möge denken und handeln wie sie im Traum, die Umwelt möge der Erniedrigten und Beleidigten, der Mühseligen und Beladenen in Liebe und Mitgefühl gedenken und ihnen helfen. Die Lies des Traums ist in Wahrheit auch Anne selbst mit ihrem eingefallenen, mageren Gesicht, mit ihren großen und traurigen Augen, die mit ihren Brüdern und Schwestern uns vorwurfsvoll fragt: warum? Warum müssen wir sterben? Welcher Unterschied ist zwischen uns und euch?

Anne starb einsam in Bergen-Belsen. Renate L. A., die im Lager war, sagt: „Ich glaube bestimmt, daß Anne am Tod ihrer Schwester gestorben ist. Es läßt sich schrecklich leicht sterben, wenn man allein im KZ ist.” Sie starben alle allein. Franz Kafka schreibt, wenn K. im „Prozeß” hingerichtet wird: „Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der helfen wollte? War es ein Einzelner? Waren es alle? Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte?” In Bergen-Belsen war nicht einmal ein Mensch am fernen Fenster, denn keiner, so sagt man uns, wußte Bescheid. Auch der hohe Beamte, der nahe einer Vernichtungsstelle der Juden das Gold und Silber der Toten zählte und über es verfügte, wußte, so sagt er, von nichts. Anne Frank aber wußte genug. Am 9. Oktober 1942 schrieb sie: „Unsere jüdischen Freunde und Bekannten werden in Mengen weggeholt. Sie werden in Viehwagen geladen und nach dem Judenlager Westerbork gebracht. Westerbork muß grauenhaft sein. Wenn es hier in Holland schon so schlimm ist, wie furchtbar wird es dort in der Ferne sein, wohin sie verschickt werden? Das englische Radio berichtet von Gaskammern…” So im Jahre 1942. Und wenn die andern, wie sie beteuern und beschwören, von nichts wußten, fürchteten sie denn, so müssen wir fragen, nicht selber die KZs wie die Pest? Sahen sie denn nicht die Synagogen brennen und erlebten sie nicht, wie Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, die ältesten Greise und die jüngsten Säuglinge mit einem kleinen Bündel in der Hand lebensgefährlich in den Osten abgeschoben wurden? War es wirklich so schwer, der Trägheit der Herzen Widerstand zu leisten und sich wenigstens Gedanken zu machen? Aus Gedanken wäre vielleicht das Gedenken gekommen.

Anne Frank unterscheidet sich von den Männern und Frauen der Jahre 1933-1945, derer wir sonst gedenken. Vor kurzem erinnerten wir uns des Aufstandes im Getto von Warschau, wir halten die „Weiße Rose” in Ehren, die Männer des 20. Juli. Sie sind Kämpfer, die sich gegen das schreiende Unrecht auflehnten. Anne Frank, das kleine Mädchen, das zum Widerstand nicht geschaffen war, ist Opfer und Symbol aller Millionen und Abermillionen von Menschen aller Rassen, Religionen und Nationen, die als Opfer der Gewalt starben. Anne Frank, die ganz ohne ihr Zutun in die Reihe historischer jüdischer Mädchen und Frauen eingehen wird, unterscheidet sich auch von diesen. Die Bibel berichtet von Jael, die Sisra, den Feind ihres Volkes erschlug; Deborah sang ihren Ruhm: „Gesegnet vor Weibern sei Jael, vor den Weihern im Zelt gesegnet!” Judith tötete Holofernes; die Literatur und die bildenden Künste haben durch die Jahrtausende ihre Befreiungstat verherrlicht. Königin Esther, die jüdische Frau des Xerxes, rettete die persischen Juden; noch heute wird ihre Tat durch ein jüdisches Freudenfest gefeiert. Anne Frank dagegen verkörpert das Leiden und Erlöschen.

Annes Schicksal wirft die Frage nach dem Sinn des Opfers auf, für das sie Symbol wurde. Sie vertritt die Verfolgten, die Unglücklichen, wo immer sie lebten und leben, litten und leiden, starben und sterben, weil der Staat Unrecht tut oder duldet.

Es geht um das Verhältnis der Menschen und ihrer Institutionen zum bösen und schlechten Staat.

Man hat lang in unserer Geschichte in dem duldenden Gehorsam — auch gegenüber dem ungerechten Staat — einen überirdischen Sinn gesehen, denn selig sind, die Verfolgung leiden. Die Kirche hat dabei ihrer Märtyrer gedacht. „Seid untertan aller menschlichen Ordnung, es sei dem König oder den Hauptleuten”, sagt Petrus. „Seid untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen. Denn das ist Gnade, so jemand um des Gewissens willen das Übel verträgt und leidet das Unrecht.” Auch Hochhuth hat in seinem „Stellvertreter” diese Gedanken erwogen. Er läßt den Papst sagen: „Wir sind — Gott weiß es — unschuldig am Blute, das dort vergossen wird. Wie die Blumen des Landes unter der dicken Schneedecke des Winters auf die lauen Lüfte des Frühlings warten, müssen Juden betend und vertrauend zu harren wissen der Stunde himmlischer Tröstungen.”

Ich glaube, es ist eine Folge des furchtbaren Geschehens der Jahre 1933-1945, daß wir uns heute stärker als in den vergangenen Jahrhunderten abendländischer Geschichte selber angesprochen fühlen. Das millionenfache Leid und Leiden appelliert an den Menschen, an den Mitbürger und Mitmenschen; es hat bei allen, die guten Willens sind, die menschlichen Energien im Kampf um das Gute aktiviert. Das Gute im Menschen muß freigeschaufelt werden, es müssen ihm Bedingungen geschaffen werden zu wachsen. Über der Metaphysik darf das Ethos, über dem Glauben darf die Liebe nicht vergessen werden. Anne Frank hat sich an manchen Stellen ihres Tagebuchs mit dem Sinn jüdischen Lebens und Leidens beschäftigt. „Vielleicht”, so schreibt sie einmal, „wird es der jüdische Glaube sein, durch den die Welt und alle Völker das Gute lernen”. Was ist ihr jüdischer Glaube? Ich meine, sie hat ohne viel Theologie ihren Glauben, die jüdische Geschichte und ihren Sinn gut verstanden, wenn sie für sich die Folgerung zieht: „Ich werde in der Welt und für die Menschen arbeiten!” Sie denkt an die Heilung der Erde und ihrer Bewohner.

Die Propheten des Alten Testaments sind mit den Herren der Welt, den Königen, den Ältesten und Großen, die „das Recht verabscheuen und alles Gerade krumm machen, die das Haus ohne Gerechtigkeit und seine hohen Gemächer ohne Recht bauen”, streng ins Gericht gegangen. Wir danken Papst Johannes dem XXIII., daß er in seiner letzten Osterenzyclica „Pacem in terris” zum Unrechtsstaat — so, daß es gehört und verstanden werden kann — Stellung nahm. „Wenn die Staatslenker”, so lesen wir, „gegen Gottes Willen Gesetze erlassen, wird die Autorität ganz hinfällig und zum Mißbrauch der Gewalt. Das ungerechte Gesetz hat nicht die Beschaffenheit eines Gesetzes, sondern die einer Gewalttätigkeit. Wenn Staatsbehörden die Rechte der Menschen nicht anerkennen oder sie verletzen, verlieren ihre Anordnungen jede rechtliche Verpflichtung.” Damit wird der Gedanke abgelehnt, Gesetz sei Gesetz, und Befehl sei Befehl. Die Worte bedeuten ein eindeutiges Nein gegenüber allen Arten von Nürnberger Gesetzen, allen Arten von Polenstrafrechtsverordnungen und allen Arten von Verletzungen menschlicher Würde, Gleichheit und Freiheit. Wir danken auch dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, daß er — gleichzeitig mit dem letzten Papst — sich an die Jugend und die ältere Generation in Deutschland mit den Worten wandte: „Wir bitten alle jungen Menschen, sich bewußt zu machen, daß es in der kritischen Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit nicht nur um Vergangenes geht, sondern um die Wiederherstellung tragfähiger Fundamente für den Neubau unseres ganzen deutschen Lebens.” Der älteren Generation sagt der Rat der evangelischen Kirche: „Wir sind jetzt noch einmal gefragt, ob wir das Ausmaß der in nationalsozialistischer Zeit von deutschen Menschen mit staatlichen Gewaltmitteln geplanten, befohlenen und unbeschreiblich grausam ausgeführten Massenverbrechen endlich zur Kenntnis nehmen und uns dieser Vergangenheit stellen wollen, statt die Erinnerung daran zu verdrängen und jede Mitverantwortung dafür zu leugnen. Begangenes Unrecht kommt nicht dadurch zur Ruhe, daß man es totschweigt, und nur Unverstand kann von Beschmutzung des eigenen Nestes reden, wo es in Wahrheit darum geht, ein schwer beschmutztes Nest zu säubern.”

In einer Zeit, in der Rassenkämpfe in Südafrika und in den Südstaaten Nordamerikas wieder uns bewegen und erregen, erinnern wir uns, daß alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, daß alle Völker und Rassen gleich nahe zu Gott und seine Gedanken sind. Sie alle sind wie Du. Die Menschen, wo immer sie sind, erleben dieselben Freuden und dieselbe Trauer, sie weinen und lachen in gleicher Weise. Die Eltern lieben ihre Kinder, und die Kinder suchen den Schutz von Vater und Mutter; die Kinder spielen, an welchen Kontinent, an welches Land, an welche Klasse wir auch immer denken, in Nord und Süd, in West und Ost den gleichen Ringelreihen. Anne Frank hat gerade dies den Menschen deutlich gemacht.

Leo Baeck hat in seinem Buch über „Das Wesen des Judentums” das hebräische Wort „Zedakah” in den Mittelpunkt gestellt. Es bezeichnet unser Wohltun; es ist das, was dem Nächsten gebührt, und mit dessen Erfüllung wir nur das getan haben, was die Pflicht gegen ihn immer wieder von uns verlangt. Der Gedanke von dem einen Gott und von dem einen Menschengeschlecht und dem einen bleibenden Menschenrecht hat diesen Begriff gebildet. Die Idee, daß Gott Recht und Gerechtigkeit auf Erden fordert und sie den Menschen zur Daseinsaufgabe setzt, hat sich, wie Leo Baeck schreibt, langehin nur in der beschränkten Form der Duldung, der Toleranz, diesem Zwitter von Gerechtigkeit und Almosen entwickeln können. Gerechtigkeit meint aber innere Anerkennung des Anderen. Genau dasselbe dachte Goethe, der größte Sohn unserer Stadt. In seinen „Maximen und Reflexionen” lesen wir: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.”

Lassen Sie mich mit dem schönen Wort Jewtuschenkos schließen:

Mir scheint,
die kleine Anne Frank bin ich,
so zart,
wie Zweiglein im Aprilwind wehn.

Ich liebe.
Und ich brauche Phrasen nicht.
Ich brauch nur eins:
daß wir einander sehn.
Wie wenig Sicht und Duft
verbleibt uns Armen!

Das Laub, den Himmel
sperrt die Feindes Brut
und doch, wieviel man kann:
es tut so gut,
im dunklen Raum einander zu umarmen.
Sie kommen her?
Fürcht nichts, es ist das Gellen
des Frühlings selber —
der kommt hier herein.

Komm du zu mir
gib deine Lippen schneller.
Sie haun die Tür ein?
Nein, das Eis bricht ein…

Jewtuschenko denkt an Anne und Peter, deren Liebe alles Eis zum Schmelzen bringt. Das Eis bricht, es wird Frühling, die Bäume blühen, wir warten auf die Früchte des Herbstes, auf ein menschliches Du und Ich, auf ein allverbindendes Wir.

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